20. Dezember 1956

Probe bestanden

Von Bundeskanzler Dr. Adenauer

 

Im Jahre 1956 sah sich die deutsche Politik Ereignissen gegenüber, die man rückschauend schon aus einem geringen zeitlichen Abstand sehr einschneidend, folgenschwer, ja weltbewegend nennen kann. Aus ihnen erwuchsen äußerst dramatische Bewegungen und in ihrem Gefolge Besorgnis und Furcht vor einem neuen Krieg. Zu diesen Ereignissen gehörten der innersowjetische Prozess der sogenannten Entstalinisierung, die bedrohlichen Spannungen im Vorderen Orient, endlich die Volksaufstände in Polen und vor allem in Ungarn, die eine wachsende Unruhe im sowjetischen Machtbereich zeigten. Jedes dieser Ereignisse stellt die deutsche Politik auf die Probe.

Am Jahresende ist das Urteil gerechtfertigt: Die deutsche Politik hat auch in diesem Jahr ihre Probe bestanden. Diese Politik war überlegt und gradlinig, gemäßigt und vorsichtig. Die Bundesregierung hat keinen Augenblick geglaubt, dass die Verdammung Stalins eine wirkliche kommunistische Sinnesänderung und darum einen Kurswechsel bedeute. Sie sah unter diesen Umständen in den sowjetischen Beteuerungen der "friedlichen Koexistenz" bis jetzt auch keinerlei guten Willen, das Anliegen der Deutschen, die Wiedervereinigung in Freiheit, zu verwirklichen. Im Gegenteil: Die Bundesregierung musste befürchten, dass die sowjetische Taktik der Beschwichtigung und des Lächelns darauf zielt, die Bundesrepublik aus dem Lager der freien Völker zu lösen und sie durch Neutralisierung und durch eine Wiedervereinigung in Unfreiheit in die Gewalt zu bekommen. Diese Auffassung wurde durch eine Reihe von Tatsachen bestätigt. Zuletzt haben das Blutbad, das Schreckensregiment, die Deportationen in Ungarn das wahre Gesicht des kommunistischen Systems gezeigt. Wer sollte es darum der deutschen Politik heute noch verdenken, wenn sie angesichts dieser Weltgefahr für Wachsamkeit, Unbeirrbarkeit, Abwehrbereitschaft eintrat, wenn sie den Aufbau einer starken Bundeswehr zur Sicherheit und zum Schutz von Land und Volk entschlossen weiterführte und wenn sie schließlich darauf hinwirkte, dass den Verfechtern des Kommunismus in unserem eigenen Lande Einhalt geboten wurde?

Auch bei den Konflikten im Vorderen Orient wurde diese Gefahr offenbar. Die Bundesregierung war nach dem Aufflammen der Suezkrise auf eine Regelung bedacht, die dem ägyptischen Volk und seinen wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnissen ebenso Rechnung tragen sollte wie den Interessenten an dem internationalen Schifffahrtsweg. Die Krise in Ägypten erwies sich als ein besonderer Prüfstein für die Zusammenarbeit der freiheitlichen Welt. Ihre Bündnisse zeigten leider Risse und schwache Stellen. Aber kein Rückschlag darf uns abschrecken. Die Verträge mit Frankreich über die Saar sowie das deutsch-belgische Abkommen sind sichtbare Erfolge der Politik guter Nachbarschaft aus europäischer Gesinnung.

Die deutschen Interessen sind nicht von denen eines freien und vereinigten Europas zu trennen. Denn die Wiedervereinigung eines gemeinsamen freien Staatswesens ist für Deutschland nur dann möglich, wenn die freie Welt die Freiheit ganz Europas in einer umfassenden Friedensaktion anstrebt.

Das letzte Jahr vor der Neuwahl des Bundestages hat eine Reihe innenpolitischer Fortschritte aufzuweisen. Auch in diesem Jahr lohnte sich die gewaltige wirtschaftliche Kraftanstrengung unseres Volkes. Sein Wohlstand wuchs. Er führte das Aufbauwerk weiter, an dem die Bundesregierung seit 1949 zäh, zielbewusst und mit großem Erfolg arbeitet. Das Ergebnis dieser Bemühungen darf ebenso wenig gering geschätzt werden, wie es gedankenlos und unbekümmert als selbstverständlich hingenommen werden sollte. Wir dürfen nie vergessen, auf welchem Trümmerfeld das Gebäude der Bundesrepublik errichtet werden musste, und sollten dankbar und besonnen den Erfolg dieser Mühen um den Wiederaufbau Deutschlands anerkennen.

Gekennzeichnet ist die wirtschaftliche Entwicklung des abgelaufenen Jahres durch die Stetigkeit der Hochkonjunktur. Sie beweist von neuem die Richtigkeit unseres Programms der Sozialen Marktwirtschaft. Es liegt an jedem einzelnen, die günstige Entwicklung durch Maßhalten, Selbstzucht, Sparsamkeit und höhere Verantwortung mit dem Blick auf das Ganze zu sichern. Ein anschauliches Beispiel dafür, wie eng wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt verbunden sind, bietet der Wohnungsbau. Er hat mit rund 3 ½ Millionen neuen Wohnungen in den sieben Jahren des Bestehens der Bundesrepublik bereits das Bauergebnis der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen weit überflügelt. Die Bestrebungen der Bundesregierung, der deutschen Landwirtschaft durch eine systematische Agrarpolitik Anschluss an den Aufschwung der gewerblichen Wirtschaft zu geben, fanden 1956 ihren Niederschlag in dem "Grünen Plan". Er ist ein Unternehmen auf weite Sicht, aufgebaut auf bäuerlicher Selbsthilfe und tatkräftiger staatlicher Förderung. Der Plan soll die landwirtschaftliche Ertragsfähigkeit heben und dem deutschen Bauern zu einer höheren Leistungskraft sowie einer wirtschaftlichen und sozialen Gesundung verhelfen.

Mit dem Gesetz zur Neuregelung der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten wurden neue sozialpolitische Wege beschritten. Trotz mancher Verzögerung wird die Bundesregierung ihre Zusicherung einlösen können und durch erhöhte Renten im Jahre 1957 die sozialen Leistungen an die Wirtschaftsentwicklung anpassen.

In einer Hinsicht hebt sich das Jahr 1956 von den vorausgegangenen Jahren ab: Es brachte durch die Rückkehr der Saar den ersten praktischen Erfolg der Politik der Wiedervereinigung Deutschlands. Hier haben sich Geduld, Vernunft und Stetigkeit bewährt. Die Bundesregierung und das deutsche Volk dürfen sich dieser Fortschritte von Herzen freuen und hoffen, damit auch der Wiedervereinigung der noch getrennten Deutschen nähergekommen zu sein.

 

Quelle: Westfalenpost, Hagen vom 20. Dezember 1956.