21. März 1953

Warum Deutschland die West-Verträge ratifiziert hat

Bonn. Der Deutsche Bundestag hat nun auch in letzter Lesung die deutsch-alliierten Vertragswerke angenommen. Gegenüber der zweiten Lesung am 6. Dezember 1952 stabilisierte sich die Mehrheit für die Verträge am 19. März 1953. Die erste Lesung war am 9. und 10. Juli 1952 vor sich gegangen. Nachdem auch die dritte Lesung mit einem Erfolg der Regierungsparteien abgeschlossen worden ist, hat der Bundestag als erstes Parlament der an der EVG beteiligten Staaten den Vertrag verabschiedet, durch den sich die Bundesrepublik verpflichtet, zur Verteidigung des Westens auch deutsche Soldaten bereitzustellen. Aus diesem Anlass übergibt Bundeskanzler Adenauer der "Deutschen Korrespondenz" die nachstehenden Ausführungen:

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Infolge der zwischen Ost und West eingetretenen Spannungen ist die gesamte politische Lage auf der Erde labil. Solange Sowjetrussland nicht einsieht, dass es trotz all seiner militärischen Macht nichts ausrichtet, kann die übrige Welt nicht in Sicherheit leben. Wir müssen vielmehr für unsere Freiheit fürchten und darum alles für unseren Schutz und unsere Sicherheit tun. Der Abschluss und die Durchführung des Deutschlandvertrages wie des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft geben diese größtmögliche Sicherheit. Auch die Bundesrepublik wird dadurch in ein Sicherheitssystem einbezogen, das als gemeinsame Aufgabe von der gesamten westlichen Welt getragen wird und das die größte Verteidigungsorganisation ist, die die Menschheit bisher geschaffen hat. Durch die Ratifizierung dieser Verträge wird aber auch die Grundlage für eine politische und wirtschaftliche Einigung Europas gelegt und Europa so vor dem drohenden Zerfall und Untergang gerettet. Das sind die großen, in Wahrheit entscheidenden Gesichtspunkte für unsere Entschlüsse und für unser Handeln. Von ihnen müssen wir uns leiten lassen und nicht von dem, was uns in diesem oder jenem Artikel der Verträge nicht gefällt. Die Zeitverhältnisse verlangen gebieterisch Entscheidungen nach größeren Gesichtspunkten. Bei vielen Gesetzen mag man die einzelnen Bestimmungen kritisieren und zerpflücken. Hier geht das nicht an! Wenn man sich über das Ziel klar ist, muss man entschlossen den Weg gehen, der zu diesem Ziele führt.

Wenn jetzt von französischer Seite die Erörterung von Erläuterungen zu dem EVG-Vertrag aufgeworfen wird, so hat man bei der Erörterung dieser gewünschten Erläuterungen davon auszugehen, dass sie weder dem Sinne noch dem Wortlaut des Vertrages widersprechen dürfen. Die französische Regierung, Ministerpräsident Pinay und Außenminister Schuman haben die Verträge unterschrieben. Sie sind damit die Verpflichtung eingegangen, alles zu tun, was in ihren Kräften steht, um eine Genehmigung der Verträge durch ihr Parlament herbeizuführen. Die Regierung Mayer und Außenminister Bidault haben sich ausdrücklich zu der gleichen Verpflichtung bekannt.

Zu den obersten Zielen der Bundesregierung gehört es, die Wiedervereinigung Deutschlands auf dem Verhandlungswege mit Sowjetrussland herbeizuführen. Wir würden es jederzeit begrüßen, wenn die drei Westalliierten zu aussichtsreichen und guten Verhandlungen mit Sowjetrussland kommen würden; zu Verhandlungen, an denen wir als freies Land teilzunehmen berechtigt sein müssten. Aber es gibt keinen anderen Weg, um zu Verhandlungen mit Sowjetrussland und zur Wiedervereinigung in Freiheit zu kommen, als den, den Westen so stark wie möglich zu machen. Als ich zuletzt in Berlin war, haben mir immer wieder Männer und Frauen aus der Sowjetzone, die nach Berlin gekommen waren, zugerufen: "Kanzler, bleibe hart!"

Wiederholt habe ich darauf hingewiesen, dass auch Sowjetrussland eines Tages zu Verhandlungen bereit sein würde. Dann nämlich, wenn es die Aussichtslosigkeit des von ihm geführten Kalten Krieges einsieht und zur Erkenntnis gekommen ist, dass seine Kriegskosten sich nicht mehr lohnen.

Wir müssen in Europa loskommen von dem Denken im nationalstaatlichen Begriff. Die westeuropäischen Länder sind nicht mehr in der Lage, sich jedes allein für sich zu schützen. Sie sind nicht mehr in der Lage, jedes für sich allein die europäische Kultur zu retten. Diese Ziele, die uns allen gemeinsam sind, können nur dann erreicht werden, wenn die westeuropäischen Länder sich politisch, wirtschaftlich und auch kulturell zusammenschließen. Vor allem aber werden diese Ziele erreicht, wenn die europäischen Völker weitere kriegerische Auseinandersetzungen unter sich selbst unmöglich machen.

Nur diese Politik wird es den europäischen Völkern ermöglichen, den Frieden zu schützen, Europa wieder aufzubauen und Europa wieder zu einem maßgebenden Faktor in der Weltpolitik und in der Weltwirtschaft zu machen. Das alles bezwecken die deutsch-alliierten Verträge, die man über die gegenwärtige Zeitlage hinaus als ein sehr wesentliches Glied in der Weiterentwicklung zu Europa betrachten muss.

 

Quelle: Deutsche Korrespondenz vom 21. März 1953.