22. August 1954

Unterredung des Bundeskanzlers Adenauer mit dem französischen Ministerpräsidenten Mendès France in Brüssel

Mendès France sagte, es sei nicht seine Absicht, in dieser Unterhaltung konkrete Gegenstände zu verhandeln. Deshalb wurde auch der von uns gestellte Dolmetscher Herr Rappeport, der das Zimmer schon betreten hatte, weggeschickt. Er käme vielmehr aus einem rein persönlichen Grunde. Er wolle sich gewissermaßen dem Herrn Bundeskanzler vorstellen. Es sei so viel über ihn - auch dem Herrn Bundeskanzler gegenüber - gesagt worden und darunter so viel Tendenziöses, dass er wünsche, dass der Herr Bundeskanzler ein richtiges Bild von seiner Persönlichkeit bekomme. Er unterstrich stark einige Dinge, die ihn mit Deutschland verbänden: deutsche Freunde, insbesondere Herr Kluthe (er fügte dabei beiläufig ein, er wisse, dass der Herr Bundeskanzler Kenntnis von seinem Briefwech­sel mit Herrn Kluthe habe). Seine Mutter sei Elsässerin gewesen aus einer Familie, die aus Luxemburg komme, und habe deutsch als Muttersprache gesprochen. Er sei überzeugter Anhänger der deutsch-französischen Verständigung. Er denke an seine beiden Jungen, die achtzehn und zwanzig Jahre alt seien und die er nicht in einem französisch-deutschen Krieg zu opfern wünsche.

Der Herr Bundeskanzler erwiderte, dass ihm in der Tat einiges über Herrn Mendès France von deutscher Seite gesagt worden sei, aber man habe mit großer Anerkennung von ihm gesprochen (z. B. Bundesminister Schäffer, der ihn seit Jahrzehnten kenne). Er, der Bundeskanzler, habe es auch vermieden, mit innenpolitischen Gegnern von Herrn Mendès [France] über ihn zu sprechen. Er habe seit dessen Regierungsantritt insbesondere keinen Kontakt mit Mitgliedern des MRP gehabt. Der Bundeskanzler stellte sodann einige konkrete Fragen, um sich ein noch klareres Bild über die Situation in Frankreich zu verschaffen.

Die erste dieser Fragen bezog sich auf die allgemeine politische Situation in Frankreich. Herr Mendès [France] bemerkte dazu, ein hervorstechender Zug der psychologischen Lage des französischen Volkes sei ein starker Minderwertigkeitskomplex. Tatsächlich sei die Stagnation der französischen Produktion erschreckend. Seit 1929 bis heute sei die französische Produktion nur um drei Prozent gestiegen. Auf meinen Einwurf „Aber Frankreich ist eines der reichsten Länder der Erde", erwiderte er: „Das mag sein, aber es ist nicht produktiv genug." Die Franzosen weigerten sich ferner, davon Kenntnis zu nehmen, dass sie den Krieg verloren hätten. In Wahrheit hätten sie den Krieg verloren. Sie hätten Angst vor den Deutschen. Was die parlamentarische Lage anlange, so hätte sich die Mehrheit der Sozialisten, wie er schon in der Konferenz dargelegt habe, schriftlich verpflichtet, gegen die EVG zu stimmen. Bei MRP müsse man zwischen einigen Führern und dem mittleren und unteren Niveau der Fraktion unterscheiden. Aus der mittleren und unteren Schicht mache sich eine starke Bewegung auf seine Regierung bemerkbar. Unter den Führern befänden sich schroffe Gegner seiner Person. Er nannte darunter Teitgen. Auf die Bemerkung des Bundeskanzlers, Teitgen sei doch ein Mann, der durch überzeu­gende Gründe zu gewinnen sei, erwiderte Herr Mendès [France], Teitgen sei zu leiden­schaftlich und fanatisch. Auf die Frage des Bundeskanzlers, wie Herr Pinay stehe, ant­wortete Herr Mendès [France], er habe gestern einen Brief von Herrn Pinay erhalten, in dem dieser in ihn dringe, auf seinen der Konferenz vorgelegten Vorschlägen zu insistieren.

In diesem Zusammenhang der politischen Gesamthaltung Frankreichs warf der Bun­deskanzler die Frage auf, ob man nicht durch eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit die Lage verbessern könnte. Er denke zum Beispiel an eine langfristige Verpflichtung Deutschlands zur Abnahme französischen Weizens. Herrn Mendès [France] schien dieser Gedanke lebhaft zu interessieren. Er sei „spectaculaire" und sehr geeignet, in ländlichen Bezirken auch eine breite politische Wirkung auszuüben. Er sei bereit, über eine solche Frage mit Sachverständigen, sei es in Paris, sei es in Bonn, in ein Gespräch einzutreten.

Der Bundeskanzler fragte sodann Herrn Mendès [France], welcher von seinen Vorschlägen ihm der wichtigste sei. Herr Mendès [France] antwortete: das Rekursrecht (gemeint ist das Vetorecht). Auf meinen Einwand, ob die Befürwortung eines solchen Vetorechts nicht überzeugend durch den Hinweis widerlegt werden könnte, dass nach Aufstellung der deutschen Divisionen dieses Vetorecht in der Hand Deutschlands gerade für die Befürworter des Vetorechts etwas Bedenkliches sei, erwiderte Mendès [France], man denke halt in Frankreich nur an die französische Armee.

Herr Mendès [France] sagte, er werde morgen Herrn Churchill, übermorgen den ameri­kanischen Botschafter sehen, ferner am Dienstag sein Kabinett, am Mittwoch den Aus­wärtigen Ausschuss unterrichten und am Samstag in der Assemblée [Nationale] auftreten. Auf alle Fälle werde er selbst über die Rückgabe der Souveränität an Deutschland mit den Engländern und Amerikanern verhandeln.

Der beherrschende Zug des Gespräches war das (nicht erfolglose) Bemühen des Herrn Mendès [France], sich von seiner besten Seite zu zeigen.

 

Quelle: Aufzeichnung vom 27. August 1954, in: StBKAH III/111.