"Wenn man im Geschirr ist ..." - Besuch bei Memoirenschreiber Adenauer
Konrad Adenauer schreibt und schreibt. Im Mai soll der dritte Band seiner Memoiren erscheinen. Und der vierte wird folgen. Als ich Konrad Adenauer in seinem Büro, Zimmer 119 im Bundesratsflügel des Bundeshauses, besuche und nach seinem Tagesablauf frage, antwortet er: "Ich arbeite von morgens bis abends an meinen Memoiren."
Er wirkt etwas müde und abgespannt von der vielen Arbeit. Er spricht gedämpft, fast vorsichtig. Durch die Spanienreise im Februar und eine anschließende Erkältung ist der Altkanzler mit seiner Arbeit in Rückstand geraten.
Um sechs Uhr in der Früh steht Adenauer auf: "Es ist ja wohl bekannt, daß ich kein Langschläfer bin!" Um sieben Uhr, bei einer Tasse starken Tees, liest er zunächst die Morgenzeitung. "Einen ganzen Stapel." Und dann kommt die Stunde der Memoiren - besser: die Stunden - im Glaspavillon, seiner Dichterklause mit Blick auf das Rheintal: "Ich arbeite dort zur Zeit bis halb zwölf Uhr mittags." Anschließend fährt Adenauer nach Bonn, um politische Gespräche zu führen, Besucher zu empfangen, Bücher zu signieren, die Korrespondenz zu erledigen. "Anschließend schreibe ich in meinem Büro weiter."
Gegen 20 Uhr wird der Altkanzler in seinem ehemaligen Dienstwagen mit der Nummer SU - A 254, den er vom Bund gekauft hat, abgeholt und zurück nach Rhöndorf gefahren.
Hat der alte Herr nach einem so arbeitsreichen Leben, nach dem Erscheinen von zwei umfangreichen Memoirenbänden, denn gar nicht den Wunsch nach mehr Ruhe?
"Da ist doch ein Zwang zu arbeiten. Wenn man im Geschirr ist, kann man nicht raus. Sie haben doch sicher auch einmal das Bedürfnis, nicht zu arbeiten, und müssen es trotzdem."
Und nach dem dritten Band? Ist dann nicht wenigstens Zeit für eine Pause?
"Bestimmt nicht. Man muß dranbleiben. Ich darf doch geistig nicht aus dieser Arbeit herauskommen."
Und wie geht er die Arbeit an?
"Zunächst mache ich die Kapiteleinteilung. Das ist das Gerippe, das dann ausgefüllt werden muß. Dazu ist ein gründliches Studium der Dokumente nötig, Aufzeichnungen von Dolmetschern, alte Zeitungen, Protokolle. Beim Lesen werden mir die Bilder wieder lebendig. Es hat darum keinen Zweck, unter zwei Stunden zu arbeiten. Dann kommt man nicht in die Atmosphäre der Zeit, über die man gerade schreibt. Nach Möglichkeit arbeite ich zwei bis drei Stunden durchgehend an meinen Erinnerungen."
Und wie schreibt er, mit der Hand, oder diktiert er? Adenauer: "Beides." Auch über die Gefühle, die er hat, wenn er sich so konzentriert in die Vergangenheit zurückbegibt, verrät er etwas: "Man fragt sich beim Studium der Dokumente: Hat man damals alles richtig gemacht, hat der Partner richtig gehandelt oder das Parlament? Dann ist einem alles wieder lebendig."
Zu welchen Ergebnissen ist er bei diesen Gewissenserforschungen gekommen? "Ich habe festgestellt, daß im großen und ganzen alles so gekommen ist, wie ich es mir damals gedacht habe." Und was ist anders gekommen?
"Ich hätte nie gedacht, daß wir so schnell mit unseren früheren Feinden zu einer Zusammenarbeit kommen würden. Zum Beispiel mit Israel ging es besser, als ich je hoffen konnte."
Der Verkaufserfolg der Memoiren ist groß, wie aber ist das Echo bei prominenten Zeitgenossen?
"Oh, ich habe von ihnen viele Briefe bekommen. Auch andere Schriftsteller haben mir geschrieben - warum sollte ich mich nicht so nennen, schließlich bezahle ich genauso wie sie Umsatzsteuer."
Fragen nach einer Beurteilung der neuen Regierung wehrt Adenauer entschieden ab: "Ihnen allen würde ich ja meine Meinung gerne verraten ..."
Im April fährt Adenauer wieder nach Cadenabbia in sein Urlaubsdomizil am Comer See. Da kann er ja wohl endlich wieder spazierengehen.
"Wieso denn? In Cadenabbia muß ich doch auch von morgens bis abends schreiben. Zum Spazierengehen komme ich da auch nicht, nicht mal zum Bocciaspielen."
Und was ist zur Zeit sein größter Wunsch?
"Ich wünsche mir, daß es bald Frühling wird."
Quelle: Kölner Stadt-Anzeiger vom 1. April 1967. Abgedruckt in: Adenauer. Die letzten Lebensjahre 1965-1967. Briefe und Aufzeichnungen, Gespräche, Interviews und Reden (Rhöndorfer Ausgabe). Bd. II: September 1965 - April 1967. Hg. von Rudolf Morsey und Hans-Peter Schwarz. Bearb. von Hans Peter Mensing. Paderborn 2009, S. 421-423.