Maria Pia Gräfin von Fürstenberg-Herdringen (1869-1959), Tochter des führenden Zentrumspolitikers Friedrich Graf Praschma, Freiherr von Bilkau (1833-1909).
Sehr geehrte Gräfin!
Ich erhielt Ihren Brief vom 9. d. Mts. mit seinen zahlreichen Beschimpfungen. Mit welchem Recht Sie meine Ausführungen als „frevelndes Urteil", das nichts mit Christlichkeit zu tun habe, bezeichnen, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, woher Sie sich das Recht nehmen, meine Erklärungen zum Falle Papen als „alle christlichen Gefühle tief verletzend" zu bezeichnen. Wenn ich Ihnen trotzdem auf Ihren Brief antworte, so tue ich das in Erinnerung an Ihren Vater, der, davon bin ich überzeugt, ein ganz anderes Urteil über Herrn von Papen haben würde als Sie und die meisten Ihrer Standesgenossen.
Den Wortlaut des Artikels der „Westfälischen Post" kenne ich nicht. Ich habe zum Nürnberger Urteil folgendes gesagt:
„Der Prozess hat 10 Monate gedauert. Die Berichterstattung über ihn sowohl durch den Rundfunk wie durch die deutsche Presse war sehr schlecht. Wir sind daher nicht in der Lage, uns ein selbständiges Urteil über den Urteilsspruch zu bilden. Wir können nicht sagen, dass der eine zu leicht, der andere zu schwer bestraft worden sei. Wenn die Behauptung, dass Herr von Papen an der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß beteiligt gewesen sein soll, richtig sein sollte, so wird er deswegen zur Verantwortung gezogen werden müssen. Im übrigen begrüße ich das Nürnberger Verfahren als einen völkerrechtlichen Fortschritt, allerdings unter einer Voraussetzung, und zwar unter der Voraussetzung, dass in Zukunft derartige Verfahren gegenüber allen Kriegsverbrechern angewendet werden und man sich nicht darauf beschränkt, einmal ein solches Verfahren an dem zerschlagenen Deutschland zu statuieren."
Ich betone nochmals, dass ich die Ausführungen bezüglich Herrn von Papen rein konditionell gemacht habe. Ich glaube nicht, dass irgendein rechtlich denkender Mensch etwas dagegen einwenden kann.
Im übrigen möchte ich zum Fall von Papen folgendes sagen:
Ich kenne Herrn von Papen seit mehr als 25 Jahren. Seit 1933 habe ich ihn allerdings nicht mehr gesehen oder gesprochen. Ich glaube ihn und seinen Charakter sehr genau zu kennen. Mein Urteil lautet völlig anders als das Ihrige. Herr von Papen war immer ein äußerst ehrgeiziger Mensch, dem es vor allem darum ging, eine Rolle zu spielen. Prinzipielle Fragen haben bei ihm nie eine Rolle gespielt. Herr von Papen hat in den 20er Jahren versucht, mit Hilfe der christlichen Gewerkschaften im Zentrum etwas darzustellen. Es ist ihm damals nicht gelungen. Dann hat er sich dem rechten Flügel der Partei zugewendet. Herr von Papen durfte unter keinen Umständen sich von Hitler und seinen Leuten täuschen lassen. Er stand dem politischen Geschehen nahe. Er musste das Vorleben dieser Leute kennen und hat es gekannt. Wenn er Ehre im Leibe gehabt hätte, hätte er nach dem 30. Juni 1934 ein für alle Male mit Hitler gebrochen.
Ich habe ihm immer mildernde Umstände in meinem Urteil über ihn zugebilligt wegen seiner abnormen Beschränktheit. Leider haben sich manche von seinem verbindlichen Wesen und seinem frommen Gerede täuschen lassen.
Wenn Sie mit Ihrem Satz „Zu solcher Haltung gehört oft mehr Courage als dem feindlichen Beiseitestehen vor einer überwältigenden Übermacht" mich gemeint haben, so möchte ich mir versagen, darauf näher einzugehen. Ich benutze diese Gelegenheit, um Ihnen zu sagen, wie tief empört ich - der ich den Wert der Tradition kenne und schätze - über die Haltung des größten Teiles Ihrer Standesgenossen während der nationalsozialistischen Zeit bin; sie sind unter Verleugnung ihrer Tradition aus einer völlig unbegründeten Abneigung gegen eine wirkliche Demokratie einem verbrecherischen Abenteu[r]er nachgelaufen und haben dadurch vor Gott eine schwere Schuld auf sich geladen.
Ich meine, Sie sollten der Tradition Ihres Vaters eingedenk sein und seinem Geiste entsprechend die vergangenen 12 Jahre überprüfen.
Ihr ergebener
(Adenauer)
Quelle: Konrad Adenauer: Briefe über Deutschland 1945-1955. Eingeleitet und ausgewählt von Hans Peter Mensing aus der Rhöndorfer Ausgabe der Briefe. München 1999, S. 52-54.