22. Oktober 1954

Unterhaltung der Fraktio­nen des Deutschen Bundestages mit Bundeskanzler Adenauer in der deutschen Bot­schaft in Paris

Freitag, den 22. Oktober

Anwesend waren zunächst die vier sozialdemokratischen Abgeordneten: Ollenhauer, Schmid, Wehner, Mommer, später auch die Vertreter der Regierungskoalition.

Adenauer berichtete über den allgemeinen Stand der Verhandlungen; er sei gut und bis auf die Saarfrage abgeschlossen. Gegenüber den Londoner Beschlüssen habe sich nichts Wesentliches geän­dert. Sie seien in die juristische Form gebracht worden.

Truppenstationierung

Die Truppen werden auf Grund eines besonderen Vertrages mit den drei Besatzungsmäch­ten stationiert. Sie müssen dieses Recht als Besatzungsrecht behalten wegen des Verhältnis­ses zur Sowjetunion.

Waffenkontrolle

Mendès France wollte die Kontrolle auf Maschinen ausdehnen, die der Waffenproduktion dienen. Er ließ später diese Forderung fallen. Er verlangte eine Konferenz zum 1. Dezem­ber über den Rüstungspool. Die Beneluxländer waren mit Adenauer gegen den Termin. Man kam überein, spätestens am 7. Januar eine Arbeitsgruppe die Fragen des Rüstungs­pools beraten zu lassen.

Saar

Blankenhorn und Soutou hätten am Donnerstag Unterhaltungen über die Saar geführt, die aber erfolglos gewesen seien. Es sei eine krisenhafte Situation entstanden. M[en­dès F[ran­ce] habe nicht gesagt, er werde ohne Regelung der Saar nicht unterschreiben. Er habe dies zur Presse gesagt. M[en­dès] F[rance] sei vielleicht nicht so viel an der Saar gelegen. Er brauche aber eine Mehrheit in der Kammer und bestehe aus taktischen Grün­den auf der schnellen Regelung. Zu den taktischen Erwägungen gehöre auch die Hereinnah­me der S.F.I.O. ins Kabinett, über die M[en­dès] F[rance] am Montag mit Guy Mollet Besprechungen habe.

Zur Lage an der Saar äußerte Adenauer: Die Saarwirtschaft sei zurückgeblieben, die lothringische Wirtschaft sei modernisiert worden. Er sagte, die Saar komme auf Deutsch­land zu. Über die Saarwirtschaftsfragen habe er ausführlich mit M[en­dès] F[rance] gespro­chen. 2 ½ Milliarden DM seien zur Modernisierung nötig. Sonst entstehe an der Saar ein notleidendes Gebiet. Deutschland und Frankreich müssten zusammen für diese Investitio­nen sorgen. Deutschland sei bereit, sich zu beteiligen. M[en­dès] F[rance] führte das Zurückbleiben auf politische Unsicherheit an der Saar zurück.

M[en­dès] F[rance] sei von den Grundlagen des Gespräches Blankenhorn-Soutou abgegan­gen. Angesichts der Gegensätzlichkeit der Auffassungen habe er den Vorschlag gemacht, die Saarverhandlungen beiseite zu lassen und sich auf die anderen Wirtschaftsfragen zu beschränken. In den Verhandlungen mit M[en­dès] F[rance] am Dienstag habe sich grundsätzliche Übereinstimmung ergeben. Angesichts der Krise habe er den deutschen Standpunkt, der seiner Meinung nach schon von M[en­dès] F[rance] angenommen worden sei, noch einmal in sieben Punkten formuliert und den Vertretern Englands und Amerikas übermittelt.

Diese Punkte enthielten:

1. Endgültige Regelung der Saarfrage im Friedensvertrag.

2. Zwischenstadium mit Autonomie unter Aufhebung aller Beschränkungen der Freihei­ten. Entscheidung über dieses Zwischenstadium durch neuen, nach 1 Jahr frei gewähl­ten Landtag. (M[en­dès] F[rance] habe Plebiszit nach 2 Monaten gefordert.)

3. Im Friedensvertrag das Plebiszit.

4. Die aus dem neuen Landtag hervorgegangene Regierung würde beteiligt an neuen Vertragsverhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich über die provisorische Regelung.

5. Verpflichtung der Bundesrepublik und Frankreichs, keine inneren Störungen an der Saar hervorzurufen. Dabei sollte die Freiheit der Einzelpersonen oder privaten Organisatio­nen in der Bundesrepublik nicht eingeschränkt werden.

6. Eine deutsch-französische Kommission oder, entsprechend dem Wunsch von Mendès Fran­ce, ein Kommissar sollte die außenpolitischen Interessen der Saarbevölke­rung wahrnehmen und die Einhaltung der Verpflichtung der Menschenrechtskonven­tion überwachen. (Hallstein hielt einen Kommissar für besser, weil dann Grandvals Apparat ausgeschaltet würde.) Wenn schon Kommissar, dann sollte es nach Adenauers Meinung vom Europarat, nach M[en­dès] F[rance]' Meinung von der Westeuropäischen Union benannt werden.

7. Über die wirtschaftlichen Fragen sei überhaupt noch keine Einigung erzielt worden. Hoffmann sei bei seiner jüngsten Anwesenheit in Paris umgefallen und habe das Eigentum an den Bergwerken Frankreich überlassen wollen. Adenauer unterstrich die Bedeu­tung der Saarbergwerke, von denen 40 000 Menschen abhingen. Bei französischer Leitung der Bergwerke könne es keine politische Freiheit geben. Er sehe zwei Möglichkei­ten: die Leitung allein der Saarregierung zu überlassen oder Frankreich, die Saarregierung und die Bundesrepublik zu beteiligen. Die Zoll- und Währungsunion solle erhalten bleiben. Der süddeutsche Markt soll für die Saarwirtschaft geöffnet werden.

Ein Abkommen auf dieser Grundlage sei dann wieder in Frage gestellt worden durch den jüngsten Versuch M[en­dès] F[rance]', dies alles endgültig zu machen. Daraufhin die schon beschriebene Note mit den sieben Punkten an die Engländer und Amerikaner, um Alarm zu geben, dass die Konferenz bedroht sei. Dabei auch Protest gegen unannehmbare Termi­ne. M[en­dès] F[rance] habe die Verabschiedung des Saarvertrages durch die Parlamente bis zum 20. November verlangt.

Keinem der anwesenden Abgeordneten hat der Text der sieben Punkte vorgelegen. Es folgte eine Aussprache über einige Fragen der Saarregelung. Zur Rolle des Plebiszits, das er nicht möchte, sagte er: Wenn es angenommen würde, sollten danach Landtagswahlen stattfinden. Der neue Landtag solle die Bestimmungen der Saarverfassung beseitigen, die im Wider­spruch zu dem neuen Vertrag stünden, vor allem also die Präambel.

Zu allgemeinen Wirtschaftsfragen sagte Adenauer, M[en­dès] F[rance] lege größten Wert auf wirtschaftliche Zusammenarbeit, auch außerhalb der Frage des Rüstungspools. Die Frage des Pools würde später besprochen. Es hätten Besprechungen zwischen Berg, von Maltzahn und Ricard stattgefunden. Ein neuer Handelsvertrag solle unverzüglich ausgearbei­tet werden. Es sei davon die Rede, jährlich bis zu 50 000 t französischen Wei­zens abzunehmen. Es soll eine deutsch-französische Handelskammer und eine deutsch-französi­sche Regierungskommission gebildet werden. Die deutschen Kriegsgräber in Frankreich sollen gepflegt werden. M[en­dès] F[rance] habe den Gedanken geäußert, symbolisch eine deutsche Rüstungsfabrik in Südfrankreich und eine französische am Rhein zu errichten. Über gemeinsame Fabriken in Afrika sei nichts Näheres besprochen worden. Er sähe auch die Gefahr, die in einer Verquickung Deutschlands mit den nordafrikani­schen politischen Problemen Frankreichs liegen könnte.

Samstagmorgen, den 23. Oktober, 10 Uhr

Adenauer berichtete über die Freitag erfolgte Zulassung als Beobachter bei NATO. Viel freundliche Reden. Großbritannien und die USA hätten geschwiegen, wohl um Frankreich nicht allein schweigen zu lassen. Hallstein meinte, das Schweigen habe andere Gründe. Darauf Adenauer: „Ach, Herr Hallstein, Sie glauben noch immer zu viel." Darauf hätten wieder in kühler Atmosphäre Saarberatungen stattgefunden. Sie wurden abends in der britischen Botschaft von 22 Uhr bis 3 Uhr fortgeführt. Nachher mussten Soutou und Blankenhorn noch in Text bringen, worüber Einigkeit erzielt wurde. Das Saarabkommen muss paraphiert sein vor der Unterschreibung der Verträge.

Zur Sache meinte Adenauer, es seien Erfolge im Politischen, nicht im Wirtschaftlichen erzielt worden. Wie man den Wert des Abkommens beurteile, hänge davon ab, ob man glaube, dass die Saar auf uns zukomme oder nicht. Er habe erreicht, dass die endgültige Regelung erst im Friedensvertrag erfolge. Daran sei kein Zweifel mehr möglich. Auf meine Zwischenfrage, ob der Vorbehalt nur juristisch sei, versicherte Adenauer: „Keineswegs."

Man habe den französischen Vorschlag annehmen müssen, ein Referendum abzuhalten. Die Franzosen hätten eine Vorbereitungsfrist von zwei Monaten gefordert. Es sei nur möglich gewesen, die Frist auf („Herr Mommer, bitte erschrecken Sie nicht") drei Monate nach dem Fortfalle aller Beschränkungen der politischen Freiheit zu verlängern.

Wenn das Plebiszit eine Mehrheit für das Abkommen ergibt, dann finden drei Monate später Neuwahlen zum Landtag statt. Neubildung der Regierung. Änderung der Bestim­mungen der Verfassung, die dem Abkommen widersprechen.

Das Abkommen habe, entgegen dem deutschen Vorschlag, den Namen „Europäisches Statut" bekommen. Das habe man annehmen müssen, nachdem M[en­dès] F[rance] erklärt habe, der supranationale Gedanke sei nicht tot, nur sei jetzt die Zeit noch nicht reif gewesen für ihn, und auch er trete für die Entwicklung supranationaler Institutionen ein. Hallstein führte für die Annahme dieses Namens das Argument an, dass in der allgemeinen saarländisch-französischen Konvention von Mai 1953 eine Revisionsklausel der Konven­tion für den Fall der Erlangung eines europäischen Statutes vorgesehen sei.

Ein Kommissar, nicht eine deutsch-französische Kommission, solle die außenpolitischen Interessen und die Verteidigung wahrnehmen, dazu die Aufsicht über das Statut. In dem Statut, sagte Hallstein, seien die politischen Freiheiten erneut enthalten, und so sei indirekt die deutsche Forderung erfüllt, dass die Einhaltung der Freiheiten überwacht werde.

Der Kommissar werde vom Rat der Westeuropa-Union ernannt. Die Vertreter Deutsch­lands, Frankreichs und der Saar müssen darunter sein.

Die Vertretung des Saargebiets im Europarat bleibt wie bisher, aber der Kommissar nimmt im Ministerrat mit beratender Stimme teil.

In der Montanunion: Wenn die Außenminister Sitzung halten, dann vertritt der Kommis­sar, wenn technische Minister beraten, dann der zuständige Saarfachminister das Saar­gebiet.

In der Gemeinsamen Versammlung sollen drei besondere Vertreter des Saargebiets sitzen. Frankreich soll so viele Sitze wie Italien und die Bundesrepublik erhalten. Der betreffende Artikel des Montanvertrages muss revidiert werden.

In der Westeuropa-Union soll das Saargebiet Militär stellen. Über den Umfang wird noch verhandelt. Wenn Soldaten gestellt werden, hat der Kommissar beratende Stimme im Rat, in der Versammlung der Westeuropa-Union sollen die Saarvertreter mit beratender Stim­me sitzen.

Deutschland und Frankreich treten in der Montanunion dafür ein, dass Saarbrücken Sitz der Montanunion wird.

In Fragen, die die Saar angehen, verhandelt mit dem Alliierten Oberbefehlshaber in Europa (SACEUR) der Kommissar.

Die Regierung und die Organe des Saargebiets sind ausschließlich zuständig, wo das Statut nicht die Zuständigkeit des Kommissars vorsieht.

Kein Lizenzzwang mehr für Parteien.

Jede von außen kommende Einwirkung ist untersagt.

Die Annahme des Statuts durch die Volksabstimmung verpflichtet die Saarregierung, sich a) nach den Bestimmungen des Statuts zu richten, b) alle Maßnahmen zu ergreifen, um die Abänderung der Saarverfassung vorzunehmen, die durch das Statut notwendig wird.

Die gegenwärtige Regierung in Saarbrücken wird mit einem Brief der französischen Regierung aufgefordert, bis zur Volksabstimmung die durch das Statut notwendigen Schritte zu tun.

Auf meine Frage nach dem Wortlaut des Artikels über die Vorläufigkeit bzw. Endgültig­keit wurde der Artikel verlesen. Danach ist es Ziel der Abmachung, der „Saar" im Rahmen der Westeuropa-Union ein europäisches Statut zu geben. „Es kann bis zum Friedensver­trag nicht in Frage gestellt werden."

Auf meine Frage, ob es danach a) den Parteien an der Saar verboten ist, für eine andere Regelung im Friedensvertrag einzutreten, b) der Bundesregierung verboten ist, auf eine andere Regelung im Friedensvertrag hinzuwirken, sagte Adenauer ausdrücklich, dass der Text solche Verbote nicht rechtfertige.

Wirtschaft

Die beiden Regierungen werden gemeinsam alle Anstrengungen machen, um die Saarwirt­schaft zu entwickeln. Stufenweise Herstellung freier Wirtschaftsbeziehungen Bundesrepu­blik-Saar.

Bergwerke

Die Bergwerke gehen in Eigentum der Saar über. Hoffmann sei mit Übertragung der Verwaltung an die Régime des Mines einverstanden gewesen. Ein deutscher Vorschlag 20 [Prozent] Frankreich, 60 [Prozent] Saar, 20 [Prozent] Bundesrepublik sei von M[en­dès] F[rance] abgelehnt worden. Über diese Dinge werde noch gesprochen.

Sequesterverwaltung

Die Frage sei noch offen. M[en­dès] F[rance] habe nicht Bescheid gewusst. Auch in der Sache Röchling sei er nicht orientiert gewesen. Dagegen habe M[en­dès] F[rance] gemeint, deutsche Banken und Versicherungen müssten im Saargebiet zugelassen werden.

Ollenhauer stellte fest, ein wesentlicher Unterschied bestehe zwischen den sieben Punkten des Vortages und dem jetzt Vorgetragenen. Ein solches Abkommen sei nicht annehmbar. Die Vertreter der übrigen Parteien waren in einiger Verwirrung. Nur Herr Pohle (CDU) meinte, das sei doch dasselbe wie gestern. Gerstenmaier sprach von einem Annäherungs­wert und sagte zu uns Sozialdemokraten: „Meint Ihr, wir sollen allein die Verantwortung für so etwas übernehmen?"

 

Quelle: Stenographische Notizen, in: AdsD, NL Mommer, Nr. 10.