22. Oktober 1975

Interview von Franz Josef Strauss mit Eberhard Pikart: „Der Alte war ein Mann mit vielen Schichten …“

Frage: Wann haben Sie Konrad Adenauer kennengelernt?

Antwort: Mittelbar bin ich Dr. Adenauer zum ersten Mal begegnet, als Dr. Josef Müller, der damalige Landesvorsitzende der CSU, über seine verschiedenen Begegnungen mit Konrad Adenauer, mit Jakob Kaiser und mit anderen führenden CDU-Politikern berichtete. Aus eigener Erinnerung an die Weimarer Republik habe ich keine Beziehungen zu Konrad Adenauer. Er wurde mir eine sehr griffige politische Erscheinung, als wir im Februar 1947 die Arbeitsgemeinschaft der CDU-CSU in Königstein bei Frankfurt gründeten. In dieser Konferenz hatte Konrad Adenauer den Vorsitz. Diese Arbeitsgemeinschaft der CDU-CSU hat sich praktisch wieder aufgelöst, weil in den Fraktionen des Wirtschaftsrates, des Parlamentarischen Rates und später des Bundestages die gemeinsame Fraktionsbildung dann die parteipolitische Arbeitsgemeinschaft ersetzt hat.

Vielleicht ist in diesem Zusammenhang noch als Fußnote von gewisser Bedeutung, daß man in Kreisen der CSU-CDU im Frankfurter Wirtschaftsrat davon sprach, daß der Parlamentarische Rat nunmehr gebildet werde, und daß als Präsident des Parlamentarischen Rates Dr. Konrad Adenauer vorgesehen sei, der damit Krönung und Abschluß seiner politischen Laufbahn erhalten sollte.

Konrad Adenauer war der Vorsitzende der CDU der britischen Besatzungszone, als solcher eine in den ersten Nachkriegsjahren wichtige politische Erscheinung. Ich habe ihn dann auch im Januar 1948 persönlich noch einmal erlebt, als Dr. Josef Müller und ich nach der berühmten Landesausschußsitzung der CSU in Erlangen, auf der Johannes Semler seine Hühnerfutter-Rede hielt, zu einer Tagung der CDU der britisch-besetzten Zone nach Köln reisten und mit Adenauer über die zu erwartende politische Problematik einige Gespräche führten. Die Begegnungen mit ihm während des Wahlkampfes 1949 waren naturgemäß flüchtiger Art. Ich dürfte für ihn und seine politischen Bestrebungen, aber auch für seine politische Taktik bei der Rhöndorfer Konferenz am 21. August 1949, eine Woche nach der ersten Bundestagswahl, zum ersten Mal eine wichtige Rolle gespielt haben, ohne daß ich mir selbst dieser Rolle bewußt war oder, besser gesagt, ohne daß ich mir bewußt war, wie er meine Stellungnahme sofort in einem raffinierten taktischen Manöver für seine Zielsetzung dieser Konferenz auszunutzen verstand.

Frage: Sie waren Mitglied des Frankfurter Wirtschaftsrates. Hier stellte sich schon vor Gründung der Bundesrepublik jene Parteienkoalition gegen die Sozialdemokratie her, die dann auch zur ersten Koalition Adenauers werden sollte. Hatten Sie den Eindruck, daß Adenauer etwa bei der Rhöndorfer Konferenz im August 1949 an diese Koalitionserfahrungen anknüpfte?

Antwort: Die Koalitionsverhältnisse im Frankfurter Wirtschaftsrat, begründet im Juli 1947, als Dr. Johannes Semler auf Vorschlag der CSU Direktor für Wirtschaft und - entgegen den Erwartungen - dann Schlange-Schöningen Direktor für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten wurde (eine Position, die ursprünglich von Bayern beansprucht und für Bayern vorgesehen war), waren die Fronten noch nicht so stark, wie sie dann im Frühjahr 1948 wurden, als nach der von den Besatzungsmächten erzwungenen Abberufung Semlers auf Vorschlag von Dr. Josef Müller Ludwig Erhard Direktor der Verwaltung für Wirtschaft wurde, also damit schon präjudiziert als möglicher Bundesminister für Wirtschaft, unterstellt, daß die ersten Bundestagswahlen einen entsprechenden Verlauf nehmen würden. Diese Koalitionsbildung im Wirtschaftsrat und die Haupt-Kontroverse während der Rhöndorfer Konferenz, aber auch das Generalthema im Wahlkampf 1949 und in den ersten Jahren nach Zusammentritt des Deutschen Bundestages und Gründung der ersten Bundesregierung, war von der Sache her bedingt, und zwar von der Frage „für oder gegen Marktwirtschaft“ und damit auch von der Frage „gegen oder für Planwirtschaft“.

Frage: Erhard hatte also die Mitarbeit in einer Großen Koalition abgelehnt?

Antwort: Das ist absolut richtig. Auf der Rhöndorfer Konferenz kam es zu einer langen und hitzigen Auseinandersetzung. Ich war als einziger Vertreter der CSU auf dieser Konferenz. Der damalige Landesvorsitzende und dann bayerische Ministerpräsident Dr. Hans Ehard, der sich mit Adenauer nie besonders gut verstanden hatte, legte keinen Wert auf die Teilnahme, die beiden stellvertretenden Landesvorsitzenden waren aus unterschiedlichen Gründen verhindert - so blieb der Generalsekretär der CSU, Franz-Josef Strauß, als einziger Vertreter der CSU übrig und hielt sich im ersten Teil der Konferenz gegenüber den großen politischen Würdenträgern und Würdenträgerinnen, die von Seiten der CSU-CDU aufgeboten waren, zunächst in bescheidener und gebotener Weise im Hintergrund. Die Hauptkontroverse dieser Konferenz, ausgelöst durch das Wahlkampfthema „Die Wirtschaft ist unser Schicksal“, unter anderem von mir formuliert und in einer Broschüre eingehend dargestellt, „Für oder gegen Marktwirtschaft“, was dann auch wieder hieß „Gegen oder für Planwirtschaft“ auf der anderen Seite, schrieb gewissermaßen das Koalitionsthema schon vor. Große Koalition, dann Marktwirtschaft nach Rezept Erhard und unter seiner Leitung des Wirtschaftsministeriums unmöglich, oder Kleine Koalition CSU-CDU-FDP-DP, und dann Marktwirtschaft in Fortsetzung dessen, was von uns im Wirtschaftsrat im Zusammenhang mit der Währungsreform eingeleitet und sehr bald zu erheblichen Erfolgen fortgesetzt worden war. Eine große Zahl der Würdenträger der CDU sprach sich nach meiner ziemlich sicheren Erinnerung für die Große Koalition aus. Das kam einmal aus den Verhältnissen in den Ländern, wo es zum Teil Große Koalitionen gab, das kam zum anderen aus der Erinnerung an die Weimarer Republik - die beiden großen Parteien, damals SPD, Zentrum, Bayerische Volkspartei und heute CDU-CSU-SPD, sollten die politische Führung in dem werdenden Staat übernehmen, und zum dritten kam es aus der Angst, aus der verständlichen Angst vieler CDU-Politiker und auch einiger CSU-Politiker, daß die Kriegsfolgelasten und die mit ihnen verbundenen sozialen Probleme, angefangen von der Demontage über die schreckliche Wohnungsnot mit der Notwendigkeit, sie zu überwinden, bis zur Vollbeschäftigung und der Errichtung eines sozialen Sicherungssystems nicht von einer kleinen Mehrheit und nicht in einer Koalition gegen die SPD bewältigt werden könnten. Wir hielten damals im Bonner Bürgerverein - einem Lokal, das heute durch das Hotel Bristol ersetzt ist - unsere ersten Fraktionssitzungen ab; bei dieser Gelegenheit sagte mir ein älterer CDU-Politiker: „Herr Strauß, ich warne Sie, diesen Berg von Problemen schaffen wir nicht mit einer kleinen Mehrheit, das schaffen wir nur mit einer Großen Koalition.“ Wenn ich zurückkommen darf zur Rhöndorfer Konferenz: Es sprach sich für die Große Koalition aus Gebhard Müller, es sprach sich ebenfalls dafür aus Herr Hilpert, es sprach sich mehr oder minder dafür aus Herr Altmeier, es sprach sich selbstverständlich dafür aus Jakob Kaiser, es sprach übrigens sich nachträglich dafür aus Herr Arnold. Dagegen stand Konrad Adenauer, dagegen stand mit erbitterter Kampfbereitschaft und großer Leidenschaftlichkeit Ludwig Erhard, dagegen noch meines Wissens der Landesvorsitzende der CDU Schleswig-Holstein, Herr Schröter, dagegen auch Theodor Blank. Die Diskussion wurde immer heftiger, Konrad Adenauers Verärgerung und Empörung immer größer, Ludwig Erhards Leidenschaft immer stärker. In dieser Situation sagte Konrad Adenauer: „Nun wollen wir ja als Gemeinschaft der beiden Unionsparteien auch unseren jungen Freund aus Bayern hören.“ Ich war damals 33 Jahre alt, im vierunddreißigsten Lebensjahr. Ich habe etwas befangen im Kreise dieser zahlreichen prominenten Politiker meine Meinung in dem Sinne zusammengefaßt, daß die CSU sich nicht an einer Koalition mit der SPD beteiligen könne und würde. Diese Erklärung war nicht ganz gedeckt durch die Haltung des damaligen Landesvorsitzenden, obwohl ich der Meinung sein durfte, daß die Mehrheit der Partei meine Meinung rechtfertigen würde, denn wir hatten in Bayern im Jahre 1946 eine Große Koalition abgeschlossen, die Sozialdemokraten haben auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Not und auf dem Höhepunkt der Hungerkatastrophe unter ziemlich fadenscheinigen Vorwänden angeblich aus Empörung über eine Rede Erhards bei dem Landesparteitag der CSU in Eichstätt diese Große Koalition gekündigt und haben uns sitzen lassen. Dabei hätten wir diese Große Koalition gar nicht nötig gehabt, weil wir allein eine knappe, aber absolute Mehrheit der Mandate im Bayerischen Landtag hatten. Es hat damals zu einer ungeheuren Verhärtung der Fronten in Bayern geführt, weil wir den Sozialdemokraten Feigheit, Verantwortungslosigkeit, Illoyalität vorgeworfen haben. Dieses habe ich in diesem Kreise auseinandergesetzt, dazu kam mein zweites Argument: Ich habe auf den Wahlkampf hingewiesen, und daß im Mittelpunkt die Frage gestanden habe: „Die Wirtschaft ist unser Schicksal“, daß die Auseinandersetzung ja gerade von Ludwig Erhard wie in allen Bundesländern, aber auch gerade in Bayern, besonders heftig unter dem Motto „Für oder gegen die Marktwirtschaft“ geführt worden sei; man habe Herrn Erhard vorgeworfen, die Marktwirtschaft sei unsozial, die Gegner haben verlangt, daß die Erhard'sche Politik schleunigst abgebrochen werden müsse und eine Politik der wirtschaftlichen Planung und eine Verlängerung der Zwangswirtschaft eintreten solle. Ich habe in dem Zusammenhang ausgeführt, daß bei einer Großen Koalition das Experiment „Soziale Marktwirtschaft“, das verheißungsvoll begonnen habe, selbstverständlich Härten und Schwierigkeiten mit sich gebracht habe, weil der gespaltene Markt, offizieller Markt und Schwarzer Markt, durch einen vom Marktmechanismus und vom Preis her bestimmten Markt ersetzt worden sei; daß die Richtigkeit dieses Experiments, das erfolgreich begonnen worden sei, nicht mehr in einer Großen Koalition bewiesen werden könne. Ginge es gut, müßten erhebliche Abstriche von der Marktwirtschaft vorgenommen werden, die wenigen Erfolge würden vom Koalitionspartner SPD in Anspruch genommen werden, und die Mißerfolge, die unvermeidlicherweise auftreten würden, würden dann der CDU-CSU wegen ihres Festhaltens an der Marktwirtschaft ins Schuldkonto geschrieben werden. Bei all diesen Gründen müßte ich leider erklären, daß eine gemeinsame Fraktionsbildung in diesem Falle nicht möglich sei. Ich sah Enttäuschung, Verärgerung und zum Teil Zorn auf den Gesichtern mehrerer CDU-Politiker. Ich sah zunehmendes Wohlwollen, zum Teil sogar durch Kopfnicken bekundeten Beifall, bei Konrad Adenauer, Ludwig Erhard. Ich habe dann die taktische Meisterschaft Konrad Adenauers erlebt, der sofort nach meinem Beitrag aufstand und sagte: „Wir haben nunmehr die Stellungnahme der CSU gehört. Damit ändert sich das Thema unserer Konferenz. Ging es bisher noch um die Frage, welche Koalition, geht es jetzt um die Frage: Sollen die beiden Unionsparteien beisammen bleiben? Und darum richte ich an Sie jetzt die Frage: Sind Sie für das Zusammenbleiben der beiden Unionsparteien? Dann müssen Sie gegen die Große Koalition sein. Sind Sie für die Trennung der beiden Unionsparteien? Dann können Sie für die Große Koalition sein. Und jetzt frage ich Sie: Wer ist für die Trennung der beiden? Dann stelle ich fest, daß wir einig sind.“ - Das hatte ein Nachspiel. Im Rahmen der Verteilung der führenden Positionen im Bunde war vorgesehen, daß Bayern als dem traditionsreichsten, flächengrößten und historisch im Sinne der Eigenstaatlichkeit fundiertesten Bundesland, die Position des ersten Präsidenten des Bundesrates eingeräumt werden solle. Dafür war Hans Ehard vorgesehen. Er fiel durch; an seine Stelle kam Arnold, und hier wurde uns erklärt -das war nicht nur unsere Vermutung, es wurde uns erklärt -, das ist die Revanche der CDU-Länder für die Rhöndorfer Konferenz und für das Verhalten des Herrn Strauß.

Frage: Hatte Konrad Adenauer auch andere Motive gehabt, gegen eine Große Koalition zu sein?

Antwort: Konrad Adenauer hatte ein abgrundtiefes Mißtrauen gegen die Sozialdemokraten, obwohl ihn viele persönliche Erinnerungen an führende Persönlichkeiten der SPD aus der Weimarer Zeit immer wieder bewogen haben, die SPD nicht nur hart zu kritisieren, sondern gelegentlich auch wieder pfleglich zu behandeln.

Frage: Sie traten als junger Abgeordneter der CSU in den ersten Deutschen Bundestag ein. Wie behandelte der erste Bundeskanzler seine Fraktion, in welcher Form warb er um ihre Zustimmung?

Antwort: Ich darf nur Respektierliches und nicht Despektierliches leider sagen. Konrad Adenauer pflegte zur Durchsetzung seiner Vorstellungen immer mit einem ganz großen Lagebericht zu beginnen, der - jetzt symbolisch, nicht wörtlich ausgedrückt - unter dem Motto stand: Die Lage ist ernst, aber noch nicht verzweifelt, und hier bot er mit dem Register eines nicht allzu großen Wortschatzes trotzdem alle psychologischen Register auf, die zur Beeinflussung der Abgeordneten aufgeboten werden konnten. Außerdem hatte er durch Vorgespräche immer sichergestellt, daß sich der eine oder andere in dem von ihm vertretenen Sinne bei Beginn der Diskussion äußerte und damit die Diskussion schon in eine bestimmte Bahn lenken würde. Dabei mußten selbstverständlich warnende Beispiele aus der Weimarer Republik genauso herhalten wie unerfreuliche Vorgänge in europäischen Nachbarländern, mit dem Ziele, die Richtigkeit seiner Auffassung zu bestätigen. Wenn er aber harten Widerstand bekam, und merkte, daß er die Schlacht nicht gewinnen würde, bewies er trotz seiner 75 Jahre eine Umstellungsfähigkeit und eine Wandlungsfähigkeit, die man bei viel jüngeren Politikern oft leider vermißt. Aber er stand auf einem festen weltanschaulichen Fundament, alles andere war bei ihm pragmatisch.

Frage: Es wird oft gesagt, daß Adenauer sich nur um die Außenpolitik kümmerte und die Innenpolitik vernachlässigte.

Antwort: In dieser Form ist diese Behauptung falsch. Es gab Phasen, in denen Adenauer aus sachlichem Zwange heraus sich leidenschaftlich mit Problemen der Innenpolitik beschäftigte, es gab Perioden, in denen er sich fast ausschließlich oder jedenfalls überwiegend mit aktuellen, manchmal oft sehr historisch gewichtigen Fragen in der Außenpolitik beschäftigte und den Eindruck erweckte, daß für ihn die Innenpolitik nur ein Anhängsel sei. Wenn Sie mich nach Beispielen fragen: Da war für ihn die Durchsetzung der sozialen Marktwirtschaft gegen Widerstände in der eigenen Fraktion ein A und O, zu Beginn, also im Jahre 49 und 50. Und dann sah er ein Hauptproblem im Kampf gegen die Demontage. Dann vertrat er die Auffassung, Arbeitsplätze sind noch wichtiger als Wohnungen, was nicht heißt: zuerst müssen alle Arbeitsplätze errichtet sein und dann gehen wir erst an den Wohnungsbau. Aber er ging von der Maxime aus: wir müssen die Leute von der Straße wegschaffen. Auf der Straße werden sie uns revolutionär, wenn sie sich über ihr Elend unterhalten. Wenn sie wieder zur Arbeit gehen und ein geregeltes, wenn auch noch so bescheidenes Entgelt haben, sind sie mehr oder minder zufrieden, aber dann müssen wir den Wohnungsbau in Gang setzen, damit diese zahlreichen Bombengeschädigten, Vertriebenen und Flüchtlinge in einer überschaubaren Zeit eine Chance sehen, zu einer eigenen Wohnung zu kommen. Er ließ in diesen Fragen der Innenpolitik Erhard und Schäffer weitgehend freie Hand, so unterschiedlich die beiden als Typen waren. Er verließ sich in der Sozialpolitik auf das sehr gesunde und realistische Urteil des Anton Storch, der sein erster Arbeitsminister war, und er war sich schon dessen bewußt, daß funktionierende Wirtschaft, geordnete Finanzen und eine auf erzielbare Gerechtigkeit aufgebaute soziale Stabilität die Voraussetzung dafür war, daß er an die Besatzungsmächte bestimmte Forderungen stellen konnte. Er wußte, daß eine unbefriedete, prärevolutionäre, radikale Situation im Inneren es ihm nicht erlauben würde, sein Ziel, das Besatzungsstatut loszuwerden, zu erreichen. In diesem Rahmen spielte natürlich für ihn in der Weiterentwicklung seiner Politik die dynamische Altersrente als eine soziale Großtat der CDU eine führende Rolle. Darüber hinaus hat er auch den Wert der Eigentumsbildung - siehe Privatisierung des Volkswagenwerkes, die ja teilweise in seiner Amtszeit durchgeführt wurde - in den Vordergrund gestellt, und jetzt erinnere ich mich noch an etwas Besonderes: Der Bundesrepublik Deutschland war aufgrund der alliierten Verbote und Beschränkungen nicht erlaubt, auf dem Gebiete der Kernenergieforschung und der Kernenergietechnik tätig zu werden; dieses Verbot galt nicht nur für militärische, sondern auch für zivile Zwecke - auf diesem Gebiete durfte nichts geschehen, durfte nicht geforscht werden, durfte nicht entwickelt werden, obschon er wußte, daß mit dem Inkrafttreten der von ihm angestrebten Pariser Verträge dieses Verbot der Forschung für friedliche, für wissenschaftliche Zwecke, für technische, für wirtschaftliche Zwecke fallen würde. Er hatte einen untrüglichen Instinkt - ich weiß nicht, von wem er beraten war. Er setzte damals schon eine Kommission ein, die regelmäßig im Bundeskanzleramt tagte - ich war Mitglied dieser Kommission. Sie bestand aus führenden Wirtschaftlern, z. B. Vertretern der Großchemie, Wissenschaftlern, ich nenne Namen wie Heisenberg, Politikern, u. a. also ich - und die Aufgabe dieser Kommission war es, ein Programm zu erarbeiten, das unmittelbar nach dem Inkrafttreten der Pariser Verträge dann in die Wirklichkeit umgesetzt werden sollte. Im Rahmen dieser Überlegungen hat er mich gefragt, ob ich bereit sei, der erste Atomminister der Bundesrepublik zu werden - eine Aufgabe, die keine wissenschaftliche Aufgabe, sondern eine organisatorische Aufgabe war.

Frage: Gab es in der langen Zeit Ihrer Zusammenarbeit mit Adenauer nicht auch neben allen Übereinstimmungen ab und zu Differenzen und Konflikte?

Antwort: Ich habe seine Politik voll unterstützt. Dieses hat nie ausgeschlossen, daß es immer wieder und nicht zu selten zu sehr heftigen Zusammenstößen zwischen ihm und mir kam. Die mögen zum Teil im Altersunterschied, im Temperament, zum Teil im Unterschied nicht in der politischen Grundauffassung, sondern in der Verschiedenheit hinsichtlich der Durchsetzung dieser Grundauffassung gelegen haben. Dazu kamen auch Tagesfragen. Ich habe ihm bei einer der ersten Steuerreformen, die durchgeführt wurden, vorgeworfen, er kümmere sich um diese Probleme zu wenig, überlasse das allein der FDP. Er lasse Herrn Schäffer, also meinen engeren Parteifreund, hier im Stich. Die größte Auseinandersetzung aber zwischen ihm und mir gab es um die Frage des Aufbaues der Bundeswehr hinsichtlich der Zeit und hinsichtlich des Umfanges, und zwar hinsichtlich der Dauer der Aufstellung der Streitkräfte und der Etappen dieser Aufstellung.

Frage: Inwiefern kümmerte sich der Bundeskanzler um all diese Dinge?

Antwort: Wenn ich diese Geschichte ernsthaft darstellen müßte, dann würde man merken, wie sich die größten politischen Probleme in unglaublichen Mißverständnissen entwickeln. Z. B. der Konsensus zwischen den Alliierten und ihren militärischen Beratern, den drei Hochkommissaren, und ihren militärischen Beratern auf der einen Seite und dem Bundeskanzler mit Theo Blank und den Generälen Heusinger und Speidel auf der anderen Seite bestand darin, daß die Bundesrepublik Deutschland - zuerst war es gedacht als Beitrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, dann als Beitrag zur NATO - 12 Heeresdivisionen, einige zusätzliche kleinere Heereseinheiten, eine angemessene Luftwaffe und für die Küstenverteidigung eine ausreichende Marine aufstellen sollte. Ziel = 500.000 Mann, gegliedert nach Teilstreitkräften. Abschluß der Aufstellung in drei Jahren. Dieses war der Vorschlag der Generäle, von den Amerikanern, den Engländern, den Franzosen gebilligt. Die Einhaltung dieses Planes wurde oft in sehr scharfer, manchmal rüder Form angemahnt. Ich habe die im kleineren Kreise geübte Kritik im Kabinett wiederholt, daß dieser Aufstellungsrhythmus nicht einzuhalten sei. Die Antwort der Generäle Heusinger und Speidel, später, als ich Verteidigungsminister war, von mir befragt, warum sie denn dieses nach ihrem späteren Urteil unhaltbare Aufstellungskonzept vorgelegt hätten, war verblüffend: „Wir gingen davon aus, daß wir zwischen Beginn der Aufrüstung und Aufstellung der ersten Einheiten eine Vorbereitungszeit von 18 Monaten haben würden. Da aber Konrad Adenauer nach Inkrafttreten der Pariser Verträge im Mai und vor der Gipfelkonferenz im Juli des gleichen Jahres unbedingt die Aufstellung der ersten Einheiten wünschte, weil er befürchtete, daß aus dieser Gipfelkonferenz schädliche Gegenwirkungen kommen könnten, ist unser Aufstellungsplan - der Generäle Heusinger und Speidel - völlig über den Haufen geworfen worden.“ Ich habe die Generäle so verstanden, daß sie an eine Vorbereitungsperiode gedacht haben, etwa vom 1. Juli 1955 bis 1. April 1957, und daß dann überhaupt erst mit der Aufstellung von Einheiten begonnen werden sollte. Statt dessen sind die ersten Einheiten sehr eilig unter Theo Blank noch im Jahr 1955 sozusagen zum Unterlaufen der Genfer Konferenz aufgestellt worden. Dieses Thema ergab, obwohl ich Atomminister und Mitglied des Bundesverteidigungsrates war, laufend Gegensätze, die sich dann in einer ganz hitzigen Unterhaltung im Sommer 1956 entluden. Es stellte sich damals heraus, daß das Aufstellungsziel für das Jahr 1956 nicht eingehalten werden konnte. Adenauer wollte es nicht glauben und in einer sehr vorgerückten Stunde, aber schon in einer erbitterten Atmosphäre, sagte er mir: „Solange ich Kanzler bin, werden Sie nicht Verteidigungsminister, damit müssen Sie sich endlich abfinden.“ Ich habe dann erwidert: „Mein Motiv ist nicht, durch diese Kritik Verteidigungsminister zu werden, sondern der Bundesrepublik eine große Blamage, nämlich den Offenbarungseid vor der nächsten NATO-Konferenz, zu ersparen. Die Stunde der Wahrheit kommt.“ Wir gingen also grollend auseinander, und ich ging dann in Urlaub. Nach Rückkehr habe ich wieder meinen Sessel in dem Atomministerium eingenommen, die Planung für die nächsten Jahre überlegt - Botschafter Blankenhorn erschien: „Ich soll Ihnen schöne Grüße ausrichten vom Herrn Bundeskanzler, ich war eben bei ihm, ich habe ihm geschildert, welche Schwierigkeiten es mit den Alliierten gibt, deren Enttäuschung und Ratlosigkeit über den Aufbau der Bundeswehr immer größer wird, und machen Sie sich darauf gefaßt, daß er Sie in den nächsten Tagen rufen und Sie fragen wird, ob Sie bereit seien, das Verteidigungsministerium zu übernehmen.“ Er wollte mich als Verteidigungsminister haben. Als ich ablehnen wollte, sagte er: „So geht's nicht, Herr Strauß! Zuerst Kritik üben und dann kneifen. Ich komme Ihnen ja entgegen; Ihre Kritik war ja berechtigt, aber wenn ich Ihnen das bestätige als Kanzler und alter Mann, dann müssen Sie dafür die Verantwortungsfreude aufbringen und dann auch dieses Amt übernehmen.“ Wenn ich ehrlich bin, muß ich sagen, daß ich dieses Amt ursprünglich wollte, aber nachdem ich mich im Atomministerium festgesetzt hatte, und die ungeheuren Entwicklungsmöglichkeiten eines Ministeriums für naturwissenschaftliche Großforschung und technische Entwicklung gesehen hatte, es nicht mehr verlassen wollte, jedenfalls nicht nach einem Jahr.

Ich habe dann nach langen reiflichen Überlegungen und nach Rücksprache mit meinen politischen Freunden das Verteidigungsministerium angenommen, aber unter drei Bedingungen: 1. daß ich den Umfang der Bundeswehr bzw. die jährlichen Aufstellungsziele verändern dürfte nach dem Maße meiner Vorstellungen, die ich für möglich hielte, 2. daß ich freie Hand hatte mit der Durchführung der Wehrpflicht, d. h. nicht zu früh zuviel, sondern langsam, und 3. daß ich freie Hand hätte in Verhandlungen darüber mit den Alliierten. Dieses hat er zugestanden, aber sofort wieder vergessen. Nach Rückkehr von der Annual Review-Konferenz in Paris hat er mir die schwersten Vorwürfe gemacht, daß ich das Ansehen der Bundesrepublik hinsichtlich ihrer militärischen Leistungsfähigkeit durch die eigenmächtigen Änderungen in schwerster Weise beeinträchtigt hatte.

Vielleicht noch am Rande zum Thema Adenauer und Innenpolitik folgendes: Es ist sicherlich von Bedeutung, daß Adenauer das Problem der Vierten Partei aufgebracht hat. Ende der fünfziger Jahre sagte er zu Richard Stücklen: „Die absolute Mehrheit ist für uns immer eine mißliche Sache, verlassen können wir uns nicht darauf. Wenn wir die FDP als Koalitionspartner verlieren, dann müssen wir uns eine Koalitionspartei selber schaffen, weil wir mit zwei Parteien gegen zwei Parteien mehr Chancen haben als mit einer gegen zwei Parteien.“

Frage: Wenn man von dem rein Historischen einmal absieht, so wäre jetzt die Frage zu stellen, was kann man eigentlich als das Bleibende der Politik Adenauers, als seine Erbschaft für die Gegenwart, bezeichnen?

Antwort: Wenn man versucht, das Erbe Adenauers zu analysieren und in Punkten festzuhalten, dann möchte ich 1. den Brief erwähnen, den er als Kölner Oberbürgermeister im Jahre 1945 an den Münchner Oberbürgermeister Scharnagl geschrieben hat. Dieser Brief ist m. W. bei Morsey zum Teil veröffentlicht. Da heißt es, daß wir uns der aus dem Osten drohenden Gefahr nur erwehren können, wenn wir durch den Zusammenschluß der Christen beider Konfessionen in einer Partei ein Bollwerk dagegen errichten. 2. Hätte Adenauer nicht den Mut gehabt, gegen eine zumindest anfängliche Mehrheit seiner großen Paladine der CDU die Kleine Koalition durchzusetzen, wäre der wirtschaftliche und soziale Wiederaufbau dieses Teiles des ehemaligen Reiches in diesem Tempo und in diesem Ausmaße mit diesem Ergebnis nicht möglich gewesen. 3. Er, der im Jahre 1876 geboren war, und dessen Weltbild noch vom neunzehnten Jahrhundert geprägt war, der aber weit in das zwanzigste Jahrhundert, in den größeren Teil des zwanzigsten Jahrhunderts dann noch hineinreichte, hat alles und das Gegenteil von allem erlebt. Daraus erwuchs nicht so sehr der ihm oft unterstellte Zynismus, daraus erwuchs auch eine gewisse, manchmal als Verachtung empfundene Kunst der Behandlung der Menschen, nicht zuletzt der Ausnutzung ihrer Eitelkeiten oder Empfindlichkeiten für seine politischen Zwecke, daraus erwuchs aber vor allen Dingen ein glaubwürdiges Bild eines Staatsmannes, der für die Generation, die die Weimarer Republik nicht erlebt hat, die Kontinuität überzeugungskräftig darstellte. 4. Mit dem Trio Konrad Adenauer, Robert Schuman, Alcide de Gasperi wurde die Idee des christlichen Abendlandes nach dem Versagen der Paneuropa-Idee von Coudenhove-Kalergi Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre auf einem zwar makabren Hintergrund (nämlich dem Zweiten Weltkrieg, Tote, Verwundete, Kriegsgefangene, Heimatvertriebene, Flüchtlinge, Trümmer) symbolisch wiederbelebt, Adenauer ist nicht der einzige, aber er ist der große Promotor der europäischen Idee gewesen mit ihrer Faszinationskraft für die junge Generation. Hier ist leider in der Zwischenzeit viel an Begeisterung verlorengegangen. 5. Adenauer hat mit dem untrüglichen und ihm in besonders heiklen Situationen eigenen Instinkt begriffen, daß der Ausbruch des Korea-Kriegs und die Gefährdung Europas uns nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Chance gibt. Diese Chance hat er ausgenutzt, indem er im Alleingang den drei Westmächten in einer Note im Sommer 1950 die Aufstellung deutscher Streitkräfte zur Mitverteidigung Europas angeboten hat. 6. Adenauer war einer der Ersten, der, allerdings verführt oder verleitet von diesen damals aufsehenerregenden Büchern Starlingers, über Rußland hinweg nach China geblickt hat und immer die Meinung vertreten hat, daß China eine Komponente in der Konstellation der Weltpolitik darstellen werde, die für uns von wachsender Bedeutung sei.

Adenauer hat drei, vier Schwerpunkte gesetzt, die für ihn nicht nur nützliche Erwägungen einer pragmatischen Außenpolitik waren, sondern auch eine gewisse moralische oder historische Bedeutung hatten. Das eine war die Versöhnung mit Israel, das zweite war die deutsch-französische Union - ich gehe jetzt einmal sehr weit -, das dritte war das Sicherheitsbündnis mit den Vereinigten Staaten und deren Dauerengagement in Europa, und das vierte war eine behutsame, aber ganz behutsame Kontaktnahme und Verständigungsbemühung gegenüber Rußland.

Frage: Welche dieser Maximen gelten heute nicht mehr?

Antwort: Die erste ist von niemandem bestritten, aber natürlich durch das israelisch-arabische Problem jetzt belastet. Die Frage kann man jetzt nicht beantworten, hätte sich Adenauer bei der Ölkrise 1973 genauso verhalten wie die Regierung Brandt, die den Amerikanern verboten hat, ihre eigenen Waffen aus den Depots in Deutschland nach Israel zu verschiffen. Die spezifische Frankreich-Betonung ist in der Europa-Politik nicht mehr drin, vielleicht ist sie bei Helmut Schmidt mit seiner persönlichen Freundschaft mit Giscard d'Estaing wieder stärker betont. Das Element USA ist erhalten geblieben; wird nur von Jusos und ähnlichen Elementen angezweifelt. Das Gesetz der Ausgewogenheit ist durch allzu eifrige Bemühungen, und zwar tölpelhafte Bemühungen, in Richtung Osten verletzt worden.

Frage: Adenauer sprach auf dem CDU-Parteitag 1966 von der Sowjetunion als einer friedliebenden Nation ...

Antwort: Ja, der Alte war ein Mann mit vielen Schichten. Dieses Wort ist so gesprochen worden, ich war dabei, aber dieses Wort ist dann falsch und zum Teil völlig einseitig übertrieben ausgelegt worden. Adenauer wollte damit - ich habe ihn gestellt dazu - zwei Dinge zum Ausdruck bringen: 1. Die Russen sind ein friedliebendes Volk und wollen genauso wenig den Krieg wie wir, und 2. es liegt im ureigensten Interesse der Sowjet-Union - jetzt als Staat und System -, ihre politischen Ziele nicht mit den Mitteln des Heißen Krieges zu verfolgen. Aber die Auslegung, daß die Sowjet-Kommunisten damit ihre weltpolitische Gefährlichkeit verloren hätten, nicht mehr nach der Weltrevolution streben würden und somit also gewissermaßen in den Kreis der Mächte gleicher politischer Moral eingezogen wären, das wollte der Alte nie. 

Quelle: Konrad Adenauer 1876-1976. Hg. von Helmut Kohl in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Stuttgart-Zürich 1976, S. 188-196.