22. September 1955

Regierungserklärung des Bundeskanzlers in der 101. Sitzung des Deutschen Bundestages zur Moskau-Reise

Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Ich habe Ihnen folgenden Bericht über die Ergebnisse der Vorgänge in Moskau zu erstatten. Ich darf Ihnen aber einleitend zunächst noch die Vorgeschichte kurz ins Gedächtnis zurückrufen.

Wir waren unter meiner Leitung vom 9. bis 13. September in Moskau. Wir hatten dort Besprechungen mit einer Regierungsdelegation der Sowjetunion unter Führung des Herrn Ministerpräsidenten Bulganin. Die Namen der Teilnehmer unserer Delegation sind Ihnen bekannt.

Ich möchte besonders dankbar die Teilnahme des Vorsitzenden und des stellvertretenden Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, der Herren Kiesinger und Schmid, und des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundesrates, des Herrn Ministerpräsidenten Arnold, hervorheben. Die Teilnahme dieser Herren an der Arbeit der Delegation war uns sehr wertvoll.

Die Initiative zu dieser Reise war von der Sowjetregierung ausgegangen, die in einer Note vom 7. Juni dieses Jahres vorgeschlagen hatte, über die Herstellung diplomatischer, wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen zwischen beiden Ländern mit uns zu verhandeln. In ihrer Antwort vom 30. Juni erklärte die Bundesregierung sich mit der Erörterung des sowjetischen Vorschlags einverstanden und schlug vor, zunächst in einen Meinungsaustausch über die Themen dieser Erörterung und ihre Reihenfolge einzutreten. Die Sowjetregierung war mit diesem Vorschlag einverstanden und konkretisierte ihren eingangs genannten Vorschlag durch eine weitere Note vom 3. August.

In ihrer Antwortnote vom 12. August betonte die Bundesregierung, daß nach ihrer Überzeugung über die von der Sowjetregierung in den Vordergrund gestellten Fragen hinaus weitere Probleme erörtert werden müßten. Als solche nannte sie die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands und die Frage der in sowjetischem Gewahrsam zurückgehaltenen Deutschen. In ihrer Antwortnote vom 19. August erklärte sich die Sowjetregierung zu einem Meinungsaustausch über die Frage der nationalen Einheit Deutschlands bereit, wobei sie darauf hinwies, daß der Standpunkt der Sowjetregierung in dieser Frage bekannt sei. Die Frage der in sowjetischem Gewahrsam zurückgehaltenen Personen wurde in der Note nicht erwähnt, doch erklärte die Sowjetregierung sich damit einverstanden, alle internationalen Fragen zu erörtern, die für beide Teile von Interesse sind.

Dieser Notenwechsel, meine Damen und Herren, bildete den Ausgangspunkt der Verhandlungen. Man muß aber den Blick weiter zurückwenden, um auch den Hintergrund zu sehen. Man muß sich vor Augen halten, daß wir einen Krieg gehabt haben, der zu sehr grausamen Ereignissen führte und mit dem vollen Zusammenbruch unseres Landes endete. Dieses Erbe haben Parlament und Regierung der Bundesrepublik Deutschland übernehmen müssen. Sie standen vor der Aufgabe, das staatliche Leben neu aufzubauen, die Souveränität des freien Teiles Deutschlands wiederherzustellen und die Freiheit der ihnen anvertrauten Menschen zu sichern. Diese Aufgaben konnten auch dank der Verständigung, zu der wir in der Zwischenzeit mit den drei westlichen Siegermächten gekommen sind, gelöst werden. Diese Verständigung wurde aber nur dadurch ermöglicht, daß das Vertrauen zu Deutschland neu erworben wurde. Es ist die Frucht einer auf festen Grundsätzen beruhenden Außenpolitik, die zur Schaffung der Westeuropäischen Union und zum Eintritt der Bundesrepublik in die Gemeinschaft des Nordatlantikpaktes führte.

Demgegenüber waren unsere Beziehungen zur vierten Siegermacht, zur Sowjetunion, so geblieben, wie sie bei Abbruch des Krieges gewesen sind. Die Ursache dafür liegt in einer Entwicklung, die schon bald nach 1945 klar zutage trat und unserem Einfluß entzogen war. Die sowjetische Nachkriegspolitik bemühte sich, die östlichen Provinzen Deutschlands und Mitteldeutschland entgegen den Beschlüssen der Siegermächte nicht nur unter die vorübergehende Verwaltung Polens und der Sowjetunion zu stellen, sondern sie diesen Staaten einzuverleiben. Die mitteldeutschen Provinzen erhielten ein dem Willen der überwältigenden Mehrheit der dortigen Bevölkerung nicht entsprechendes Regierungssystem, das den sowjetischen Vorstellungen und Vorbildern entsprach. Während die Bundesrepublik Deutschland einen wenn auch mühsamen Weg zur Wiedergewinnung internationaler Anerkennung und internationalen Vertrauens gehen und schließlich ihre Souveränität wiedererlangen konnte, ging diese Entwicklung an der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands vorbei und führte dadurch zum Verlust unserer staatlichen Einheit. Ihnen, meine Damen und Herren, ist diese tragische Entwicklung wohlbekannt. Sie kennen auch die Rolle, welche die sowjetische Politik dabei gespielt hat. Ein weiteres, menschlich besonders schwerwiegendes Problem, das im Rahmen dieser Entwicklung ungelöst blieb, war die Frage der in der Sowjetunion zurückgehaltenen Deutschen.

Auf diesem Hintergrund hat sich die Konferenz von Moskau abgespielt. Die Verhandlungen, die wir mit der Sowjetregierung geführt haben, waren nicht nur der schwerwiegenden sachlichen Auffassungsunterschiede wegen außergewöhnlich schwierig. Sie führten uns auch mehr als einmal in die Nähe des Entschlusses, abzubrechen und unverrichteter Dinge zurückzukehren. Sie waren auch auf beiden Seiten von den Erinnerungen an den vergangenen Krieg erfüllt und an die Leiden, die er sowohl über Sowjetrußland wie auch über Deutschland gebracht hat. So lag über dieser Konferenz nicht nur der Schatten schwerer politischer Meinungsverschiedenheiten. Leidenschaften und nicht vergessener Groll der Kriegszeit wirkten auf die Atmosphäre ein. Aber die Freimütigkeit, durch die sich diese Verhandlungen von manchen anderen internationalen Konferenzen unterschieden, hat ihr Gutes gehabt. Gegensätze sind nicht dadurch aus der Welt zu schaffen, daß man sie verschweigt. Sie lassen sich eher überwinden, wenn man sie offen ausspricht. Daß dies geschehen ist, hat die Ergebnisse der Konferenz nicht ungünstig beeinflußt.

Zu diesen Ergebnissen ist folgendes festzustellen. Es ist vereinbart worden, diplomatische Beziehungen vorbehaltlich des Einverständnisses des Bundeskabinetts und des Bundestages sowie des Präsidiums des Obersten Sowjets aufzunehmen und Botschafter zwischen beiden Ländern auszutauschen. Den Vorbehalt des parlamentarischen Einverständnisses haben wir aus zwei Gründen für zweckmäßig gehalten. Einmal ist das Schicksal der in der Sowjetunion zurückgehaltenen Deutschen ein menschliches Problem, das unser ganzes Volk zutiefst bewegt. Zum anderen wirft die Herstellung diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion auch politische Fragen von Bedeutung auf, insbesondere im Hinblick auf die sogenannte Deutsche Demokratische Republik.

Die Delegation der Bundesrepublik hat in den Gesprächen mit den Vertretern der Sowjetregierung mit großer Klarheit darauf hingewiesen, daß eine Normalisierung der Beziehungen unter keinen Umständen darin bestehen kann, daß man den anormalen Zustand der Teilung Deutschlands legalisiert. Es ist auch darauf hingewiesen worden, daß das Bestehen diplomatischer Beziehungen zwischen zwei Staaten nicht mit einem freundschaftlichen Vertragsverhältnis gleichzusetzen ist. Unsere sowjetischen Verhandlungspartner selbst haben erklärt, daß sie diplomatische Beziehungen auch zu Staaten unterhielten, mit denen sie im übrigen erhebliche politische und ideologische Meinungsverschiedenheiten hätten.

Andererseits, meine Damen und Herren, ist folgendes zu bedenken. Die Sowjetunion ist eine der vier Siegermächte, ohne deren Mitwirkung das vornehmste Anliegen unserer Politik, die Herstellung der Einheit unseres Landes, nicht verwirklicht werden kann. Das Fehlen von Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten, die sich daraus für uns ergebende Unmöglichkeit, unsere nationalen Anliegen auch selbst in Moskau zu vertreten, ist eine Anomalie. Würde man uns auch deshalb nicht mit Recht unklug genannt haben, wenn wir das von der Sowjetregierung gemachte Angebot, diplomatische Beziehungen aufzunehmen, abgelehnt hätten?

Durch die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen wird die Bundesrepublik, deren effektive Hoheitsgewalt drei Viertel unseres Volkes und 80 % seiner produktiven Kräfte umfaßt und hinter deren Politik - das ist unsere Überzeugung - auch mindestens 90 % der Bevölkerung Mitteldeutschlands stehen, nunmehr auch von der Sowjetunion anerkannt.

Es besteht schließlich kein Widerspruch zwischen unserem Entschluß, diplomatische Beziehungen aufzunehmen, und der Linie unserer Außenpolitik, die fortzusetzen wir unter allen Umständen entschlossen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Länder, die die Westeuropäische Union bilden und die dem Nordatlantikpakt angehören, unterhalten gleichfalls diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion, ohne daß darum an ihrer Entschlossenheit gezweifelt werden könnte, den Verpflichtungen nachzukommen, die sie durch ihre Zugehörigkeit zu diesen Verträgen eingegangen sind. Was diese Staaten für sich in Anspruch nehmen, können auch wir beanspruchen.

Ich möchte betonen, daß die Vertreter der Sowjetunion ihrerseits bei den Verhandlungen in Moskau unsere Zugehörigkeit zu diesen Organisationen als Realität hingenommen und nicht den Versuch gemacht haben, uns zu einem Austritt zu bewegen. Die Westverträge stehen normalen Beziehungen mit der Sowjetunion nicht nur nicht im Wege. Die Verträge sind vielmehr eine in die Zukunft weisende Möglichkeit einer internationalen Entspannung, die für die Welt den Frieden, für Deutschland die staatliche Einheit in Freiheit bringen soll. An unserer Vertragstreue lassen wir nicht den geringsten Zweifel zu. Deutschlands Zugehörigkeit zum Westen liegt ja auch viel tiefer als in der politischen Konstellation, nämlich in seiner untrennbaren Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen Kulturkreis begründet. Ich darf in aller Form für mich, für die Bundesregierung, für das ganze deutsche Volk in West und Ost erklären: Deutschland ist ein Teil des Westens, seiner geistigen und sozialen Struktur, seiner geschichtlichen Tradition und nach dem Willen seiner Bevölkerung.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der DP.)

Die Bundesregierung wird in Zukunft in ihren Bemühungen um die europäische Integration und die Verteidigung der Freiheit nicht nachlassen; sie wird sie vielmehr verstärken. Auch an dieser Stelle möchte ich betonen, daß die Bundesregierung in der Integration Europas eine absolute Notwendigkeit sieht.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der DP.)

Auf längere Sicht gesehen, sind die europäischen Staaten in der Isolierung politisch und wirtschaftlich nicht lebensfähig, und die Lebensfähigkeit Europas entspricht nicht nur ihrem Interesse, sondern auch dem Interesse der ganzen Welt.

Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion widerspricht also nicht den Interessen des Westens. Ich glaube sogar weitergehen zu dürfen: sie dient den Interessen des Westens. Indem die Bundesrepublik als eine eindeutig westliche, europäisch orientierte Macht nun ebenfalls einen Vertreter in Moskau haben wird, wird sie dort die Stimmen des Westens um eine weitere verstärken.

Die Aufnahme der Beziehungen hat noch eine weitere Bedeutung. Sie leistet einen Beitrag zu der mühsamen Aufgabe der Entspannung der internationalen Lage und damit zum Frieden der Welt.

Zur Entspannung bedarf es allerdings bestimmter Voraussetzungen. Die deutsche Delegation hat den Vertretern der Sowjetregierung in aller Deutlichkeit gesagt, daß die Entspannung nur am Ende politischer Entscheidungen stehen kann und nicht an ihrem Anfang. Sie hat mit allem Nachdruck unsere Auffassung unterstrichen, daß eine wirksame Entspannung, die auch wir wünschen, ein echtes Sicherheitssystem voraussetzt, das allen Beteiligten Sicherheit vermittelt. Ein solches Sicherheitssystem ist auf der Basis der Teilung Deutschlands unmöglich.

(Beifall bei allen Parteien.)

Solange Deutschland geteilt ist, bleibt ein Spannungsherd erster Ordnung bestehen, solange wird die Spannung zwischen Ost und West in einer gefährlichen Weise dadurch verschärft, daß die Berührungsfläche der beiden gegensätzlichen Systeme mitten durch ein und dasselbe Volk und Land geht.

Endlich habe ich selbst bei meinen Gesprächen mit den sowjetischen Führern den aufrichtigen Wunsch empfunden, sie möchten Gelegenheit haben, sich durch einen Botschafter in der Bundesrepublik manche falschen Eindrücke berichtigen zu lassen.

Die Vorgeschichte und der Verhandlungsverlauf haben gezeigt, daß die Sowjetregierung großen Wert auf die Herstellung der diplomatischen Beziehungen legt. Dabei mögen Prestigegründe eine Rolle gespielt haben, vielleicht auch eine gewisse Entspannungsstrategie oder andere Momente, die noch nicht ganz überschaubar sind. Jedenfalls erwies es sich, daß die Vertreter der Sowjetregierung mit großer Empfindlichkeit auf die Möglichkeit reagierten, daß ihr Vorschlag abgelehnt oder die Annahme an Bedingungen geknüpft werde. Indem ich im Einklang mit der Note der Bundesregierung vom 12. August die Probleme der Wiedervereinigung Deutschlands und der in der Sowjetunion zurückgehaltenen Deutschen von Anfang an als zentrale Fragen in die Besprechungen einführte, habe ich Wert darauf gelegt zu sagen, daß es sich dabei nicht um "Vorbedingungen" für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen handelte, sondern um das von der Sowjetregierung gestellte Thema der Normalisierung selbst.

Die Vertreter der Sowjetregierung zeigten sich zunächst von unseren Forderungen auf Freilassung der zurückgehaltenen Personen wenig beeindruckt. Die Verhandlungen über diese Frage nahmen tagelang einen so negativen Verlauf, daß wir allen Ernstes unsere Abreise in Erwägung ziehen mußten. Die Wendung trat ein, als die Herren Bulganin und Chruschtschow mir, nachdem sie zuvor härtesten Widerstand geleistet hatten, am Montagabend das Angebot machten, die Kriegsgefangenen freizulassen, wenn die diplomatischen Beziehungen aufgenommen würden. Die beiden Herren gaben mir darauf ihr Wort, und sie haben es vor den versammelten Delegationen wiederholt. Sie haben diese Zusage auf mein Drängen hin dahin erweitert, daß auch in der Sowjetunion zurückgehaltene Zivilpersonen, die wir ihnen durch Listen nachwiesen, freigelassen werden. Damit war die deutsche Delegation vor eine Frage gestellt, die auch eine Gewissensfrage war und deren schweren Ernst niemand vergessen wird, der an unseren internen Delegationsbesprechungen teilgenommen hat. Ich möchte betonen: Auch der Politiker darf nicht sagen, bei großen Entscheidungen spielten Menschenschicksale keine Rolle. Das würde nicht richtig gehandelt sein. So hat uns alle bei den ganzen Verhandlungen immer der Gedanke bewegt und manchmal drückend bewegt: Was wird werden, wenn wir ohne eine Verständigung auseinandergehen, wenn niemand von den Gefangenen der Heimat und seinen Angehörigen zurückgegeben wird?

Nun habe ich soeben schon gesagt, daß die Russen die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen nicht an Bedingungen geknüpft wissen wollten, weil sie sagen: Man nimmt diplomatische Beziehungen miteinander auf, auch wenn man sonst Gegensätze hat. Unsererseits mußten wir aber doch versuchen, gleichzeitig eine Erfüllung des uns so dringend am Herzen liegenden Wunsches der Freigabe aller dieser Menschen zu erreichen. Das ist dann durch die ehrenwörtliche Zusage der Herren Bulganin und Chruschtschow geschehen. Ministerpräsident Bulganin versicherte mir wörtlich: "Wir fangen mit unseren Maßnahmen an, ehe Sie Bonn auf Ihrem Rückflug erreicht haben." Das bezog sich zunächst auf die von sowjetischen Gerichten verurteilten annähernd 10.000 Gefangenen. In der Frage der anderen zurückgehaltenen Personen, von denen die Vertreter der Sowjetregierung nichts zu wissen erklärten, wurde vereinbart, daß wir der Sowjetregierung eine Liste dieser Personen mit genauen Angaben geben werden und daß dann von sowjetischer Seite festgestellt wird, wo diese Menschen sind. Sowohl Herr Ministerpräsident Bulganin als auch Herr Chruschtschow haben ihr Wort auch darauf gegeben, daß diese Deutschen genau so behandelt werden würden wie die Kriegsverurteilten. Das ist für uns ein Erfolg, den ich unter keinen Umständen missen möchte.

Wir haben ferner in Moskau nachdrücklich das Anliegen der Wiedervereinigung Deutschlands vorgebracht. Wir mußten uns dabei vor einem hüten. Wir durften - das sagte ich ausdrücklich in meiner ersten Erklärung in Moskau - das Verfahren, das zur Einheit führen soll, nicht dadurch verwirren, daß wir einen von den Viermächteverhandlungen unabhängigen zweiseitigen Verhandlungsweg eröffneten. Auch nur die Möglichkeit einer Ausklammerung des Problems aus der Genfer Tagesordnung und eines Abschiebens auf zweiseitige deutsch-sowjetische Verhandlungen mußte unter allen Umständen verhütet werden. Wir haben uns deshalb bewußt damit begnügt, daß auch die Sowjetunion anerkenne, daß die vier Siegermächte verpflichtet seien, die Einheit Deutschlands wiederherzustellen. Ich lege großen Wert auf die Feststellung, daß dieses Anerkenntnis der Sowjetunion in Moskau erfolgt ist. Ministerpräsident Bulganin hat am 10. September erklärt: "Hier war von den Verpflichtungen die Rede, die die vier Mächte in bezug auf die Lösung des Deutschland-Problems übernommen haben. Dem muß man zustimmen." Außenminister Molotow erklärte am gleichen Tag: "Es wird ganz richtig gesagt, daß in dieser Frage auch die vier Mächte Verpflichtungen haben." Auch spätere Äußerungen von Herrn Chruschtschow haben diese Auffassung bestätigt.

Die sowjetische Delegation war andererseits nicht bereit, einer Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands alsbald zuzustimmen. Ich gebe mich daher keinen Illusionen darüber hin, daß zur Wiedervereinigung Deutschlands schwierige Verhandlungen auch unter den Siegermächten nötig sein werden. Aber ich betrachte es doch als einen Fortschritt, daß die Sowjetunion die Verpflichtung, die Einheit Deutschlands wiederherzustellen, auch als eine Verpflichtung der Sowjetunion anerkannt hat. Ich glaube daher, daß die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion in Verbindung mit der gradlinigen Weiterführung unserer Bündnispolitik mit dem Westen in der Frage der Wiedervereinigung fördernd wirken wird. Das ist auch in dem Brief des sowjetischen Ministerpräsidenten ausgesprochen, in dem die Aufnahme diplomatischer Beziehungen angekündigt wird.

Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen machte völkerrechtliche Vorbehalte notwendig, um den deutschen Standpunkt in lebenswichtigen Fragen unseres Volkes zu wahren und die Entscheidungsfreiheit einer zukünftigen gesamtdeutschen Regierung nicht zu präjudizieren. Diese Vorbehalte sollten sicherstellen, daß in der Erklärung über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen nicht ein Verzicht auf den bisherigen Rechtsstandpunkt der Bundesregierung bezüglich erstens der Grenzfragen, zweitens des Rechts der Bundesregierung, Sprecher des ganzen deutschen Volkes zu sein, drittens der Nichtanerkennung der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik gesehen werden kann.

Wir haben mit den Vertretern Sowjetrußlands in offiziellen Verhandlungen sehr offen darüber gesprochen. Sie haben erklärt, sie hätten andere Ansichten, aber wenn wir es für notwendig hielten, völkerrechtlichen Konsequenzen vorzubeugen, so hätten sie nichts dagegen, wenn wir diese Vorbehalte machten, und zwar in einer Weise, die wir wählten, sei es in Form eines Briefes, sei es in Form einer Erklärung an die Presse. Ich habe infolgedessen am Tage meiner Abreise einen Brief an Ministerpräsident Bulganin gerichtet, der folgenden Wortlaut hat:

Aus Anlaß der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der UdSSR erkläre ich:

1. Die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der UdSSR stellt keine Anerkennung des derzeitigen beiderseitigen territorialen Besitzstandes dar. Die endgültige Festsetzung der Grenzen Deutschlands bleibt dem Friedensvertrag vorbehalten.

2. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Regierung der Sowjetunion bedeutet keine Änderung des Rechtsstandpunktes der Bundesregierung in bezug auf ihre Befugnis zur Vertretung des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten und in bezug auf die politischen Verhältnisse in denjenigen deutschen Gebieten, die gegenwärtig außerhalb ihrer effektiven Hoheitsgewalt liegen.

Bei den Vorbehalten handelt es sich um eine deutsche Rechtsverwahrung. Für eine solche ist eine einseitige Erklärung der Bundesregierung ausreichend. Diese Erklärung muß nur der anderen Seite zugegangen sein. Dies ist geschehen, und die deutschen Vorbehalte sind damit völkerrechtlich wirksam geworden. Die Erklärung muß nicht etwa, um völkerrechtlich wirksam zu sein, von der Gegenseite angenommen werden. Durch diese Vorbehalte ist die Möglichkeit beseitigt worden, daß dritte Staaten unseren Entschluß, diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufzunehmen, mißverstehen. Alle Staaten, die zu uns diplomatische Beziehungen unterhalten, können nun klar sehen, daß sich der Standpunkt der Bundesregierung gegenüber der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik sowie zu den Grenzfragen nicht im geringsten geändert hat. Die sowjetische TASS-Agentur hat am 15. September den sowjet-russischen Standpunkt dargelegt; die TASS-Erklärung stimmt mit dem überein, was die Vertreter der Sowjetregierung auch bei den Verhandlungen gesagt haben.

Was die Frage der deutschen Ostgebiete betrifft, so gehen die Sowjets indessen, wie inzwischen bereits von amerikanischer und britischer Seite festgestellt worden ist, von einer falschen Interpretation des Potsdamer Drei-Mächte-Abkommens aus, zu dessen Signatarmächten Deutschland bekanntlich nicht gehört. In dem Potsdamer Abkommen ist die Festlegung der endgültigen Grenzen ausdrücklich dem Friedensvertrag vorbehalten worden. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für die unter polnischer, sondern auch für die unter sowjetischer Verwaltung befindlichen deutschen Ostgebiete. Eine völkerrechtlich verbindliche Regelung des Gebietsstandes Deutschlands steht noch immer aus. Eine solche Regelung kann auch nur in einem Friedensvertrag getroffen werden, der mit einer frei gewählten gesamtdeutschen Regierung abgeschlossen wird.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die Haltung der Bundesregierung gegenüber der Sowjetzonenregierung wird, wie aus dem ersten Vorbehalt hervorgeht, durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik nicht berührt. Die Regierung der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik ist nicht auf Grund wirklich freier Wahlen gebildet worden. Sie verfügt daher über kein echtes Mandat des Volkes, ja sie wird von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt.

(Beifall bei der CDU/CSU und rechts.)

Es herrschen in der sowjetischen Besatzungszone Rechtsunsicherheit und Unfreiheit, und die Verfassung steht nur auf dem Papier.

(Sehr wahr! in der Mitte.)

Die Bundesregierung ist daher nach wie vor die einzige frei und rechtmäßig gebildete deutsche Regierung, die allein befugt ist, für das ganze Deutschland zu sprechen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich brauche bei dieser Gelegenheit kaum daran zu erinnern, daß die Regierungen der sämtlichen Staaten, die Mitglieder der Nordatlantikpakt-Organisation sind, am 23. Oktober 1954 eine gemeinsame Erklärung abgegeben haben, in der sie diesen Standpunkt übernehmen. Auch alle anderen Staaten der freien Welt, die mit uns diplomatische Beziehungen unterhalten, akzeptieren ausdrücklich oder stillschweigend unseren Anspruch. Wir haben unsere Auffassung, um jeden Zweifel an der Unveränderlichkeit unserer Haltung zu zerstreuen, auch der Sowjetregierung notifiziert. Wenn die Sowjetregierung trotzdem diplomatische Beziehungen zu uns aufnimmt, tut sie dies zwar nicht mit Billigung, aber doch in Kenntnis unseres Standpunkts gegenüber der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik und unseres Anspruchs, für ganz Deutschland zu sprechen.

Auch dritten Staaten gegenüber halten wir unseren bisherigen Standpunkt bezüglich der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik aufrecht. Ich muß unzweideutig feststellen, daß die Bundesregierung auch künftig die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch dritte Staaten, mit denen sie offizielle Beziehungen unterhält, als einen unfreundlichen Akt ansehen würde,

(Beifall bei den Regierungsparteien)

da er geeignet wäre, die Spaltung Deutschlands zu vertiefen.

In diesem Zusammenhang will ich kurz auf den zwischen der Sowjetunion und der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik am 20. September 1955 abgeschlossenen Vertrag nebst dem angeschlossenen Briefwechsel eingehen. Der Vertrag scheint wie die schon am 25. März 1954 veröffentlichte Erklärung der Sowjetregierung den Eindruck hervorrufen zu wollen, daß der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik die Souveränität gewährt sei. Der erwähnte Vertrag ändert jedoch nichts an dem bestehendem Zustand. Das sowjetzonale Regime, das, wie schon ausgeführt, in keiner Weise demokratisch legitimiert ist, hat keine Souveränität, und seine Anerkennung kommt nicht in Frage.

In dem Briefwechsel, der dem Vertrag vom 20. September angeschlossen ist, wird ferner die Ausübung der Bewachung und der Kontrolle der Verbindungswege zwischen der Bundesrepublik und Westberlin mit Ausnahme des Versorgungsverkehrs für die alliierten Truppen der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik übertragen. Der Widerspruch einer solchen Übertragung mit dem Schlußkommuniqué der Pariser Außenministerkonferenz vom 20. Juni 1949 drängt sich auf. Nach diesem Schlußkommuniqué hat die Sowjetregierung bestimmte Verpflichtungen wegen einer reibungslosen Abwicklung des Interzonen- und Berlin-Verkehrs übernommen. In dem Briefwechsel wird dagegen auf eine Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Bundesrepublik und der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik verwiesen. Das ist ein Versuch, Verpflichtungen der Sowjetunion gegenüber den westlichen Alliierten auf die sogenannte Deutsche Demokratische Republik zu übertragen, damit in die Rechtssphäre der Alliierten einzugreifen und schließlich den Interzonen- und Berlin-Verkehr durch die an die Bundesregierung gestellte Zumutung zu behindern, darüber mit einem Staat zu verhandeln, den sie nicht anerkennt. Die Bundesregierung hat deshalb die drei Westmächte auf diesen Sachverhalt hingewiesen und sie um die erforderlichen Schritte gebeten.

(Beifall in der Mitte und rechts.)

In der Frage der wirtschaftlichen Beziehungen haben wir uns große Zurückhaltung auferlegt. Wir sind in erster Linie nach Moskau gefahren, um die dringendsten politischen Fragen zu erörtern. Handelsbesprechungen sind späteren Gesprächen vorbehalten, wie das auch aus dem Schlußkommuniqué ersichtlich ist. Auch technische Details in Zusammenhang mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, zu denen der Umfang der beiderseitigen Botschaften gehört, bedürfen noch der Absprache.

Ich darf zusammenfassen: Als Ergebnis der Reise nach Moskau haben wir beschlossen, mit der Sowjetregierung diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Wir haben das Wort der sowjetischen Führer, daß die zurückgehaltenen Personen in der allernächsten Zeit zurückkehren werden. Wir haben das Anerkenntnis der Sowjetregierung, auf Grund des Viermächteverhältnisses bezüglich Deutschlands zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands verpflichtet zu sein. Wir haben die zur Wahrung unseres Rechtsstandpunkts erforderlichen völkerrechtlichen Vorbehalte gemacht, welche die Sowjetregierung zur Kenntnis genommen hat. Wir haben in außerordentlich schwierigen Verhandlungen das im menschlichen und im politischen Bereich Mögliche getan, aus der gegebenen Situation herauszuholen, was herauszuholen war.

Die Tragweite der zu treffenden Entscheidungen hat mich bewogen, die Wirksamkeit der Moskauer Vereinbarungen von dem Einverständnis des Bundestages abhängig zu machen. Ich verkenne nicht die in den Moskauer Entscheidungen liegende Problematik. Ohne jedes Risiko werden sich aber die schwierigen politischen Probleme unseres Staates nicht lösen lassen, wird die Einheit Deutschlands nicht zu verwirklichen sein.

Ich glaube, Ihnen, meine Damen, meine Herren, empfehlen zu dürfen, im Einklang mit dem Beschlusse des Kabinetts sich mit den Moskauer Ergebnissen einverstanden zu erklären.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der DP.)

 

Quelle: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode 1953, Stenographische Berichte, Bd. 26, S. 5643-5647.