23. April 1946

Brief an Paul Silverberg, Lugano

Paul Silverberg (1876-1959), Dr. jur., rheinischer Braun­kohlen-Industrieller, 1908-1926 Vorstandsvorsitzender der Rheinischen AG für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation, 1919-1933 Präsidiumsmitglied des Reichs­verbandes der Deutschen Industrie, 1934 in die Schweiz emi­griert.

 

Lieber Herr Silverberg!

 

Zu Ihrem 70. Geburtstag wünschen meine Frau und ich Ihnen von ganzem Herzen Glück!

Wir beide haben kein leichtes Los. Es ist sehr schwierig, die Lage schriftlich richtig jemandem auseinanderzusetzen, der so lange wie Sie fern der Heimat weilen musste. Aber Sie dürfen mir das eine glauben, es bedarf der größten Energie und der größten seelischen Spannkraft, um oben zu bleiben.

Auf dem Ihnen zumeist am Herzen liegenden Gebiet, dem Gebiet des Rheinischen Braunkohlenbergbaues habe ich mich in der letzten Zeit in etwa betätigen können. Das Verhältnis RWE und Rheinbraun lastet nach wie vor wie ein schwarzer Schatten über allem. Mit Ihrem Urteil über Herrn Werhahn haben Sie hundertprozentig Recht behal­ten. In der allernächsten Zeit sollen Entscheidungen von größter Tragweite fallen. Ich habe niemals Ihren Rat drin­gender herbeigewünscht als jetzt. Wäre es denn nicht möglich, dass Sie einmal für einen Monat nach hier kämen, um zu raten und zu helfen? Allerdings müssten Sie gute Verproviantierung von dort aus mitbringen. Ob mein Brief nun ein richtiger Geburtstagsbrief gewor­den ist, weiß ich nicht so recht. Ich glaube es aber schließlich doch, denn er handelt vom Rheinischen Braunkohlenbergbau und seiner Zukunft, d. h. von Ihrem liebsten Kinde.

In welch körperlicher Verfassung mögen Sie diesen Tag begehen? Ich hoffe, einigermaßen leidlich, wenngleich die ganzen Verhältnisse ja auch körperliches Wohlbefinden nicht zulassen.

Meiner Frau geht es noch immer nicht besonders. Ich glaube, ich schrieb Ihnen einmal, dass sie sich im Gefäng­nis in Brauweiler eine Erkrankung des Knochenmarks zugezogen hat, die auf die Zusammensetzung des Blutes wirkt. Ich war zeitweise sehr besorgt um sie und bin auch jetzt noch nicht ohne Sorge.

Die politische Tätigkeit, die ich habe auf mich nehmen müssen, weil schlechthin kein anderer da war, ist sehr auf­reibend, körperlich anstrengend und sehr undankbar. Ich suche ihr zu entgehen, sobald ich es irgendwie verantwor­ten kann. Das ist ja überhaupt das Verhängnis für Deutschland, dass die alte Generation überall an die Spitze muss. Die mittlere Generation fällt nahezu vollständig aus, weil sie in der Partei war. Die junge Generation ist nicht urteilsfähig weder in politischer noch einer sonstigen Hin­sicht. Sie muss völlig umerzogen werden. Ich habe Ihnen gleichzeitig einen Kartenglückwunsch geschickt, weil ich annehme, dass einer der beiden Glück­wünsche Sie doch noch rechtzeitig zu Ihrem Geburtstage erreicht. Feiern Sie ihn also so gut Sie es können. Ge­denken Sie unserer, wie wir Ihrer gedenken und kommen Sie bald, wenn auch nur für kurze Zeit, einmal in die Heimat zurück!

Mit recht herzlichen Wünschen und Grüßen, auch von meiner Frau, wie immer

 

Ihr

(Adenauer)

 

Quelle: Konrad Adenauer: Briefe über Deutschland 1945-1955. Eingeleitet und ausgewählt von Hans Peter Mensing aus der Rhöndorfer Ausgabe der Briefe. München 1999, S. 46f.