23. August 1951

Schreiben des Bundeskanzlers Konrad Adenauer an den Außenminister Frankreichs, Robert Schuman

 

Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Herr Schuman,

von Botschafter François-Poncet höre ich, dass Sie kurz vor Ihrer Ausreise nach den Vereinigten Staaten stehen, um dort an den bedeutsamen Konferenzen über den japanischen Friedensvertrag und die deutsche Frage teilzunehmen. Ich darf Ihnen aus diesem Anlass einige Gedanken mitteilen, die mich gegenwärtig besonders beschäftigen.

Ich brauche kaum zu betonen, dass in den nächsten Wochen und Monaten Aufgaben und Probleme zu lösen sind, die für die Zukunft unseres europäischen Kontinents im ganzen und das Schicksal unserer Völker im einzelnen von außerordentlicher, vielleicht entscheidender Bedeutung sind. Ich werte es hierbei als ein besonders günstiges, ja glückliches Zeichen, dass die ganze Last der gestellten Aufgaben auf den Schultern von Männern ruht, die wie Sie, unser gemeinsamer Freund Ministerpräsident De Gasperi und ich von dem Willen erfüllt sind, den Neuaufbau der europäischen Welt auf christlichen Grundlagen zu entwickeln und zu verwirklichen. Ich glaube, es hat wenige Kombinationen in der europäischen Geschichte gegeben, die so günstige Voraussetzungen für das Gelingen eines solchen Werkes bieten, als der gegenwärtige Augenblick; nie aber hat die Zeit so gedrängt wie heute und nie waren gegnerische Kräfte, die überwunden werden müssen, so stark wie heute.

Im Mittelpunkt steht das Problem der Wiederaufnahme Deutschlands als gleichberechtigter Partner in die westliche Staatengemeinschaft und damit verbunden die Frage des Zusammenschlusses zu einer westlichen Verteidigungsgemeinschaft.

Die Unterzeichnung des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Ihrer weitschauenden Initiative zu verdanken ist, ist der erste bedeutsame Schritt gewesen. Ich bin überzeugt, dass die Ratifizierung dieses Vertrages durch den Deutschen Bundestag im Laufe dieses Herbstes erfolgen wird.

Hinsichtlich der künftigen rechtlichen Stellung der Bundesrepublik muss nach meiner Auffassung in einem Grundvertrag folgende Konzeption vertraglichen Ausdruck finden:

1. Eine wechselseitige Verpflichtung der Bundesrepublik und der Alliierten zur Verteidigung des Gebietes der Bundesrepublik und Westeuropas (Verteidigungsvertrag).

2. Eine Verpflichtung der Alliierten des Inhalts, dass das Verhältnis der Bundesrepublik zu den alliierten Mächten sich in Zukunft ausschließlich nach dem Inhalt der zu schließenden Verträge und nach internationalem Recht bestimmt. Mit anderen Worten, dass die höchste Gewalt aufgegeben wird, ausgenommen gewissen Reserven, die sich die Alliierten hinsichtlich Berlins, hinsichtlich der Regelung der gesamtdeutschen Frage und eines Ausnahmezustandes bei Angriffen auf das Bundesgebiet von außen und schweren Unruhen im Innern vorbehalten, wobei letzterer nur in genau umschriebenen Fällen und nach Konsultation mit der Bundesregierung erklärt werden kann.

3. Eine wechselseitige Verpflichtung zur Konsultation hinsichtlich des Verhältnisses zu den Staaten des Ostblocks, soweit legitime deutsche Interessen berührt werden.

4. Einrichtung eines schiedsrichterlichen Systems unter Vorsitz einer neutralen Persönlichkeit, auf Grund dessen alle auf das Vertragswerk sich beziehenden Streitigkeiten zu entscheiden sind.

Diese Grundlinien bedürfen selbstverständlich guter Formulierung. Mir kommt es hier darauf an, Ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie wichtig es ist, dieser jungen deutschen Republik ein Maß von Souveränität einzuräumen, die dem deutschen Volk das Bewusstsein vermittelt, dass es als ein geachtetes, freies Volk in der Gesellschaft der westlichen Völker an der Verwirklichung der großen, gemeinsamen Aufgaben gleich verpflichtet mitwirken kann.

Seit zwei Jahren bemüht sich die Bundesregierung mit großer Beharrlichkeit, eine wahrhaft europäische Politik zu verfolgen. Sie hat sich hierin trotz einer heftigen Opposition nicht beirren lassen. Jetzt sollte ihr ein sichtbarer Erfolg zuteil werden, der das deutsche Volk davon überzeugt, dass der eingeschlagene Weg richtig ist. Ein solcher Erfolg würde außerordentlich dazu beitragen, im deutschen Volk die Idee der Demokratie zu festigen und die Überzeugung von der Notwendigkeit einer engen europäischen Zusammenarbeit zu stärken.

Es gibt wohl manche Stimmen im Auslande, die unter Hinweis auf gewisse rechtsradikale Tendenzen in Deutschland davor warnen, der Bundesrepublik ein zu großes Maß an Souveränität zu geben. Wie ich schon in Straßburg dargelegt habe, darf man die Bedeutung der rechtsradikalen Gruppen, die in letzter Zeit von sich haben hören lassen, nicht unterschätzen. Die Bundesregierung beobachtet die Entwicklung dieser Gruppen mit größter Aufmerksamkeit und ist - ich darf dies mit Nachdruck versichern - entschlossen, mit aller Schärfe gegen alle Feinde der Republik vorzugehen. Andererseits glaube ich, dass man die nationalistischen Tendenzen, die in allen westeuropäischen Völkern in letzter Zeit sich wieder regen, am besten dadurch überwindet, dass man den europäischen Zusammenschluss so rasch wie möglich vorwärtstreibt. Wenn die Europäer einmal beginnen, in europäischen Organisationen zusammenzuarbeiten, dann werden sie zwangsläufig zu Menschen werden, für die der nationalistische Egoismus zu einem Begriff wird, den man in die Vergangenheit verbannt.

Aus diesen Gründen ist die Entscheidung der Alliierten über die deutsche Teilnahme an der westlichen Verteidigungsgemeinschaft von so außerordentlicher Bedeutung. Die Fortschritte, die in den Verhandlungen in Paris erzielt worden sind und die ihren Niederschlag in dem Zwischenbericht der Pariser Konferenz über die europäische Verteidigungsgemeinschaft gefunden haben, berechtigen zu den besten Hoffnungen.

Ich glaube, dass, wenn die beiden großen Vertragswerke über den Status der Bundesrepublik und die westliche Verteidigungsgemeinschaft den Gedanken einer Partnerschaft der Bundesrepublik mit den anderen westeuropäischen Staaten verwirklichen, die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes sich für einen deutschen Verteidigungsbeitrag aussprechen wird.

Es sollten jedoch nach Möglichkeit gewisse Störungen der Atmosphäre vermieden werden, die hier und da das deutsch-französische Verhältnis beeinträchtigen. Ich denke an die Saarfrage und das Kriegsgefangenenproblem. Sie kennen, verehrter Herr Präsident, meine Auffassung zur Saarfrage. Ich brauche dem nichts Grundsätzliches hinzuzufügen. Ich möchte aber die Hoffnung aussprechen, dass es gelingen möge, Herrn Grandval davon abzubringen, in Reden immer von neuem dieses Problem zur Diskussion zu stellen und dadurch der Opposition im Bundestag Gelegenheit zu geben, durch Interpellationen usw. das französisch-deutsche Verhältnis zu stören. Mit je mehr Ruhe wir diese Frage behandeln, um so besser glaube ich werden wir einer Lösung näherkommen, die für die beiden Völker annehmbar ist.

Das Problem der in Frankreich zurückgehaltenen Kriegsgefangenen ist ein anderes Moment, das zu einer ständigen Beunruhigung der deutschen öffentlichen Meinung in breiten Schichten der Bevölkerung führt. Eine Bereinigung dieser Frage würde eine ganz besonders wertvolle Unterstützung bedeuten. Ich darf mir folgende Anregungen erlauben:

1. Die Abwicklung möglichst zu beschleunigen.

2. Vom Gnadenrecht soweit irgend möglich Gebrauch zu machen, besonders hinsichtlich der Personen, die in den Jahren 1947-49 verurteilt wurden und deren Strafmaß oft erheblich höher liegt als das Strafmaß der Gefangenen, die in der Zeit zwischen 1950 und 51 abgeurteilt worden sind.

3. Auf eine weitere Vollstreckung von Todesurteilen zu verzichten.

Diese Zeilen enthalten meine hauptsächlichen Sorgen und Gedanken für die große gemeinsame Arbeit, die uns nun bevorsteht. Ich weiß, dass Sie, verehrter Herr Schuman, aus Ihrer christlichen Grundhaltung heraus ein besonders großes Verständnis für diese Probleme haben. Dies erfüllt mich mit Zuversicht, dass wir diesen entscheidenden Abschnitt der europäischen Nachkriegsentwicklung mit einem Vertragswerk abschließen, das mit in erster Linie das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich auf Grundlagen stellt, die ein freiheitliches Zusammenwirken unserer beiden Völker gewährleisten und den Frieden der Welt sichern.

In diesem Sinne übersende ich Ihnen für Ihre Reise nach den Vereinigten Staaten meine herzlichsten Wünsche und freundschaftlichen Grüße

Ihr ergebener

gez. Adenauer

 

Quelle: Konrad Adenauer. Briefe 1951-1953. Hg. von Rudolf Morsey und Hans-Peter Schwarz. Bearb. von Hans Peter Mensing. Berlin 1987, S. 113-117.