23. Januar 1963

Fernsehansprache von Bundeskanzler Konrad Adenauer anlässlich der Unterzeichnung des Vertrages über die deutsch-französischen Zusammenarbeit

Gestern abend um diese Zeit haben wir in Paris einen Vertrag unterzeichnet, der die Zusammenarbeit der beiden Völker für unbegrenzte Zeit regeln soll. Auf französischer Seite haben unterschrieben der Präsident der Französischen Republik, de Gaulle, der Ministerpräsident Pompidou, der französische Außenminister Couve de Murville; auf deutscher Seite ich als Bundeskanzler und Außenminister Dr. Schröder. Dieser Vertrag ist in monatelanger sehr sorgfältiger Arbeit vom Auswärtigen Amt Frankreichs und vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland vorbereitet worden. Der Vertrag ist in seiner Art, glaube ich, einzigartig in der Geschichte, und zwar deswegen, weil er die Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen beiden Völkern auf unbegrenzte Zeit hinaus vorsieht. In allen Schichten und in allen Ständen soll diese Freundschaft gepflegt werden.

Der französische Staatspräsident de Gaulle hat den Vorgang der Unterzeichnung als einen einmaligen Vorgang in der Geschichte bezeichnet, nach meiner Meinung mit Recht. Wir müssen uns darüber klar sein, wenn wir diesen Vertrag sehen, was vorangegangen ist. Seit über vier Jahrhunderten bestehen zwischen Deutschland und Frankreich Spannungen, Streitigkeiten, die oft genug zu blutigen Kriegen führten. Ich darf daran erinnern, daß der letzte Krieg mit Frankreich ja noch gar nicht so lange vorbei ist, der Krieg, in dem wir die Besiegten waren. Ich darf auch daran erinnern, daß damals eine große Gefahr für Deutschland bestand, die Gefahr nämlich, daß Deutschland aufgeteilt und zerstückelt wurde. Wir sind auch jetzt noch nicht miteinander vereint, und deswegen enthält dieser Vertrag auch die Berlin-Klausel, die in allen Verträgen mit anderen Ländern steht.

Aber wenn man geschichtlich denkt und wenn man sich die Wende vor Augen hält, die nunmehr zum Teil schon in den Beziehungen zwischen diesen beiden Völkern eingetreten ist, zum Teil weiter, durch diesen Vertrag gefördert, eintreten wird, dann muß man in der Tat sagen: Welch großartiger Fortschritt in der Geschichte dieser beiden Völker, die mitten in Europa gelegen sind, die Nachbarn sind, die von gemeinsamen Gefahren bedroht sind, deren Schicksal, so wie die Welt sich entwickelt hat, dasselbe sein wird, welch ein großes Glück, daß diese beiden Völker nun zueinander gefunden haben!

Meine verehrten Zuhörerinnen und Zuhörer, es würde kein Europa geben, wenn nicht diese wirkliche Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland vorangegangen wäre. Alle die europäischen Institutionen, die wir bisher schon geschaffen haben, wären undenkbar ohne eine Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland. Ich sage wohlüberlegt, daß die Bundesrepublik Deutschland ihre Stellung in der Welt, die sie jetzt innehat, nicht innehaben würde, wenn noch der Spannungszustand mit Frankreich bestände, wie er bei Ausgang des Krieges bestanden hat.

Ich bin fest davon überzeugt, daß dieser Vertrag später einmal von der Geschichtsschreibung als eines der wichtigsten und wertvollsten Vertragswerke der Nachkriegszeit bezeichnet werden wird, und ich bin fest davon überzeugt, daß er sich zum Nutzen beider Völker auswirken wird und zum Nutzen Europas und zum Frieden der Welt.

Die Aufnahme, die die deutsche Delegation gestern und vorgestern in Paris gefunden hat, insbesondere beim Präsidenten der Französischen Republik, Herrn de Gaulle, war außerordentlich freundschaftlich und warm. Wir haben uns in voller Offenheit, die Minister, die mich begleiteten, mit den französischen Ministern, Präsident de Gaulle und ich, unterhalten können über die schwierigen Probleme in der Welt. Wir haben auch in gemeinsamen Besprechungen, die uns alle vereinten, sehr offen und sehr klar unsere Meinung über alles sagen können, und ich habe zu meiner großen Freude feststellen können, daß die Angehörigen der beiden Völker doch in allen wesentlichen Punkten völlig übereinstimmen.

Ihnen, meine Zuhörerinnen und Zuhörer, die Verträge im einzelnen vorzutragen, würde sich wohl kaum empfehlen. Man muß ein solches Vertragswerk lesen, die Zeitungen veröffentlichen es ja. Es wird von uns dem Bundesrat und dem Bundestag zugeleitet werden, weil nach unserer Verfassung jeder Vertrag mit dem Ausland in der Form eines Gesetzes durch Bundesrat und Bundestag genehmigt werden muß. Ich hoffe, daß in wenigen Monaten, in der üblichen Zeit, die ein Gesetz bei uns braucht, um Gesetz zu werden, auch dieser Gesetzentwurf seine Vollendung gefunden hat und daß dann die Arbeit, die wir zwischen Frankreich und Deutschland nun seit Jahren begonnen haben, weiter gepflegt werden kann.

Auf eines möchte ich hinweisen. Ein erheblicher Teil dieses Vertrages richtet sich an die Jugend. Er will, daß die Jugend beider Völker aller Stände, nicht nur Schüler und Schülerinnen oder Studenten und Studentinnen, sondern auch die Angehörigen der arbeitenden Berufe, sich kennenlernen, daß sie ihre Sprache, ihre Naturschätze, ihre Kulturschätze kennenlernen, und so eine große Heimat auch in dem anderen Lande wiederfinden. Das, glaube ich, ist ein Ziel, das jeder, auch jeder Politiker, unbedingt bejahen muß. Weil der Vertrag eben für viele, viele Jahre berechnet ist, wird die deutsche Jugend und die französische Jugend jetzt und in Zukunft berufen sein, diesen Vertrag in die Wirklichkeit zu überführen.

Als wir gestern aus dem Elysée schieden, hatten wir alle, Franzosen und Deutsche, das sichere Gefühl, etwas wirklich Gutes getan zu haben - lassen Sie mich noch einmal wiederholen, was ich eben sagte -, etwas Gutes getan zu haben für Deutschland und Frankreich, für Europa und für den Frieden in der ganzen Welt.

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 16 vom 25. Januar 1963, S. 129f.