23. Mai 1955

Keine Zauberformel

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

In der Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die Westeuropäische Union und in den Nordatlantikpakt spiegelt sich demonstrativ die Überzeugung, dass das Zeitalter des Nationalismus zu Ende gegangen ist, und dass die Völker neue Formen des Zusammenlebens finden müssen. Nur so werden sie die ungeheuren Kräfte, die die moderne Wissenschaft und Technik den Menschen in die Hand gegeben hat, in den Dienst einer Ordnung stellen können. Viele Millionen Menschen sind heute davon überzeugt, dass durch gleiche Interessen und Ideale verbundene Völker sich zusammenschließen müssen, weil die Kräfte des einzelnen Staates nicht mehr ausreichen, die Probleme zu bewältigen, vor die uns die Gegenwart gestellt hat. Diese Überzeugung ist bereits tief in das Bewusstsein der breiten Massen gedrungen.

Der Ablauf der letzten fünf Jahre hat gezeigt, dass sich der Verwirklichung einer groß konzipierten Europa-Politik große Schwierigkeiten in den Weg stellen, obwohl sie fast allgemein als notwendig anerkannt wird. Es ist zu bedenken, dass die Völker Europas sehr stark im Bewusstsein ihrer geschichtlichen Vergangenheit leben. Für mich hat es sich inzwischen erwiesen, dass es unmöglich ist, einen großen umfassenden - also einen perfekten - Plan für die Zusammenarbeit und Einigung Europas in einem Zuge zu verwirklichen. Dementsprechend mussten wir da anpacken, wo sich ein konkretes Problem stellte, das tatsächlich bereits im gegebenen Zeitpunkt lösbar war.

Die ursprüngliche Absicht war es, von der wirtschaftlichen über die politische zur militärischen Integration Europas zu gelangen. Diese an sich logische und natürliche Reihenfolge wurde durch die Ereignisse in Korea umgeworfen. Dort wurde mit einem Schlage der akute Zustand der Gefährdung aufgezeigt, in dem sich die freie Welt befand. Hinzu kam, dass wir unsere hochgesteckten Ziele zu schnell erreichen wollten.

Alle, denen die Einheit Europas am Herzen lag, wurden von einer schweren Sorge befreit, als offenbar wurde, dass die Enttäuschung über den Rückschlag im Sommer vorigen Jahres die Solidarität der europäischen Völker nicht brechen konnte. Es erwies sich, dass die Grundkonzeption richtig war, und dass die politischen Kräfte, die nach der Einheit Europas strebten, in allen europäischen Völkern so stark und so lebendig waren, dass sie weiter die Richtung der neuen Politik bestimmten. Mehr noch: die sich abzeichnende Gefahr, Europa würde in die Zersplitterung zurückfallen, spornte die Regierungen und die Parlamente an, in einer unglaublich kurzen Zeit das neue Vertragsgebäude zu errichten.

Wenn wir heute die Gesamtheit der in Europa in Kraft befindlichen Verträge ansehen, so können wir mit Genugtuung feststellen, dass sie sowohl wirtschaftliche, politische als auch militärische Gebiete einschließt. Überall ist ein Anfang gemacht worden. Jetzt kommt es darauf an, ohne Hast, aber auch ohne unnötiges Zögern die nächsten Schritte zu tun, um die Einheit der europäischen Völker weiter zu festigen.

Wir können schon heute feststellen, dass die europäische Solidarität und die Verbundenheit des freien Europa mit der atlantischen Welt ihre ersten Früchte trägt. Die allgemeine Unsicherheit, die wie ein dunkler Schatten über dem Leben jedes einzelnen Bürgers lag, beginnt zu weichen. Unsere Völker können nun gewiss sein, dass sie die Früchte ihrer Arbeit in Frieden und Sicherheit werden genießen können. Die Festigkeit und Solidarität unserer Gemeinschaft bieten auch die Voraussetzung dafür, dass wir ohne Furcht die große politisch-diplomatische Aktion einleiten können, die zur Entspannung des Ost-West-Konfliktes führen soll. Ohne die Verwirklichung des westlichen Vertragswerkes wäre es ganz undenkbar gewesen, dass die interessierten Regierungen sich bereits heute im Prinzip darüber einig sind, mit der Sowjetunion alle Gegenstände offen und ernsthaft zu diskutieren.

Wir müssen jetzt die Verträge mit Leben erfüllen. Ich glaube zuversichtlich, dass die intensive Arbeit und die oft leidenschaftliche Diskussion, die in den letzten Jahren in Europa auf dieses Werk verwandt worden sind, ein wichtiges Resultat gebracht haben. Es ist nämlich eine europäische Mannschaft geformt worden. Wir können heute die für das Wohlergehen unserer Völker so wichtigen Funktionen im Rahmen der Verträge in die Hände von Männern geben, die sich davon überzeugt haben, dass sie ihren nationalen Interessen am besten dienen, wenn sie die Einheit Europas fördern.

Die Bundesrepublik Deutschland wird getreu den in den Verträgen übernommenen Verpflichtungen ihre Verantwortlichkeiten tragen und alles in ihrer Macht stehende tun, um das Gelingen des gemeinsamen Werkes zu sichern. Für mich besteht kein Zweifel darüber, dass auch ein wiedervereinigtes Deutschland, das sich frei entscheiden kann, in der Gemeinschaft der freien Völker stehen wird.

Die Wiedervereinigung Deutschlands ist die Voraussetzung für eine dauerhafte Entspannung der Verhältnisse in Europa und dafür, dass uns ein dauernder Friede geschenkt wird. Wir Deutschen stehen mit dieser Auffassung nicht allein. Mit Dankbarkeit habe ich gerade jetzt wieder feststellen können, dass es ein ernstes Anliegen unserer Vertragspartner ist, die Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit mit uns gemeinsam wiederherzustellen. Unsere Partner können ihrerseits davon überzeugt sein, dass Deutschland in Zukunft nur gemeinsam mit ihnen und im Rahmen der geschlossenen Verträge für eine Entspannung des Konfliktes und die Erhaltung des Friedens tätig sein wird.

Ich weiß, dass wie jede ungelöste nationale Frage auch die Frage der deutschen Wiedervereinigung für die Partner einer internationalen Politik eine gewisse Belastung darstellt. Das wird in Deutschland keineswegs übersehen; umso weniger, als sich der Kreis unserer neuen Vertragspartner fast ausnahmslos aus Gegnern Deutschlands in dem durch Hitler entfesselten Kriege zusammensetzt. Nichts unterstreicht den Willen der freien Völker zur Solidarität besser als diese Tatsache. Nichts kann aber auch Deutschland mehr dazu verpflichten, seine nationalen Ziele maßvoll zu halten, als eben dieser Beweis der Solidarität.

Wer unter den verantwortlich Handelnden das gemeinsame Werk der europäischen und atlantischen Gemeinschaft stützt, der hat die öffentliche Meinung der freien Völker für sich.

 

Quelle: General-Anzeiger für Bonn und Umgegend vom 23. Mai 1955.