23. Mai 1956

Rede vor dem Bundesverband der Deutschen Industrie in Köln („Gürzenich-Rede")

 

Meine verehrten Herren!

Ich bin, trotzdem ich wusste, dass ich hier in eine etwas geladene Atmosphäre kam, gern hierhin gekommen, weil es auch mir am Her­zen liegt, zur Klärung beizutragen. Deswegen bin ich Ihnen, Herr Präsident Berg, besonders dankbar für die Offenheit, mit der Sie gesprochen haben. Denn Offenheit ist immer die unumgängliche Voraussetzung, um möglichst der Wahrheit nahezukommen. Ich kann diese Offenheit nicht in allen Teilen Ihrer Rede, aber doch in einem großen Teil Ihrer Rede umso mehr begrüßen, als ich - ich möchte das, meine Herren, sehr nachdrücklich be­tonen - unbeteiligt bin an den Beschlüssen, die in Frankfurt gefasst worden sind. Und ich möchte, meine Herren - namentlich tue ich das, weil ich gesehen habe im Gespräch mit Tischgenossen, dass über das Verhältnis zwi­schen Bundesregierung und der Bank deut­scher Länder, dem Zentralbankrat, keine Klarheit besteht. Der Zentralbankrat, meine verehrten Herren, ist vollkommen souverän gegenüber der Bundesregierung. Er ist natür­lich verantwortlich gegenüber sich selbst. Aber wir haben hier ein Organ, das nieman­dem verantwortlich ist, auch keinem Parla­ment, auch nicht einer Regierung. Umso grö­ßer, meine Herren, ist nach meiner Meinung die Verantwortung, die ein jedes Mitglied eines solchen Organs vor sich selbst zu tragen hat. Ich bin, ich sage das in aller Offenheit, heute Abend noch nicht in der Lage, mir ein definitives Urteil zu bilden über die Einzel­heiten der Beschlüsse, die da gefasst worden sind. Aber eines weiß ich schon jetzt: es ist der deutschen Konjunktur ein schwerer Schlag versetzt worden, und, meine Herren, auf der Strecke bleiben werden die Kleinen. Und zwar, meine verehrten Herren, gilt das sowohl für die kleinen Industrien wie für die kleineren Landwirte, wie für die kleineren Handwerker - kurz und gut, meine verehrten Herren, das Fallbeil trifft die kleinen Leute. Und deswegen bin ich sehr betrübt darüber. Ich habe bisher nicht die Überzeugung gewonnen, dass eine derartige Maßnahme notwendig war. Ich habe nicht einmal die Überzeugung gewon­nen, dass sie den gewollten Effekt erreicht.

Ich habe für morgen Abend eine Kabinetts­sitzung anberaumt, in der wir uns mit diesen Fragen beschäftigen werden und in der na­mentlich auch der Wirtschaftsminister und der Finanzminister, die an den Beratungen des Zentralbankrates teilgenommen haben, uns darüber Rechenschaft geben werden, warum und was sie dort vorgeschlagen haben. Meine verehrten Herren, ich möchte eins hier sehr betonen, und zwar gegenüber der gesamten Öffentlichkeit, die deutsche Währung ist in keiner Weise gefährdet. Die deutsche Währung ist eine der härtesten und besten Währungen der Welt. Ich halte es für notwendig, das zu betonen, weil ich die Unruhe fühle, die in die gesamte deutsche Bevölkerung plötzlich hineingedrungen ist. Ich begrüße außerordentlich die Worte, die Herr Präsident Berg gesagt hat über die Verantwortung Ihres Verbandes gegenüber der Allgemeinheit. Natürlich, meine verehrten Herren, Sie haben das Recht und die Pflicht, an sich zu denken; aber keiner von uns, gleichgültig, an welcher Stelle er steht, hat das Recht, nur an sich zu denken. Ich bin Ihnen, Herr Präsident Berg, sehr dankbar, dass Sie stark unterstrichen ha­ben die Verpflichtung gegenüber der Allge­meinheit. Und ich kann, meine verehrten Herren, hier nur sagen, dass bei allen Besprechungen, bei denen Präsident Berg zugegen war, ich immer die Überzeugung gehabt habe, er spricht aus dem Gefühl der Verantwortung für das allgemeine Interesse. Meine Herren, darf ich daran, an diese Feststellung, die Bitte an alle wirtschaftlichen Verbände, und unter wirtschaftlichen Verbände verstehe ich auch die Gewerkschaften, die Bitte richten, dass [sie] die Macht, die sie repräsentieren, sicher im Interesse ihrer Mitglieder gebrauchen müssen, aber sie niemals außer acht lassen dürfen beim Gebrauch dieser Macht das Interesse des gesamten Volkes. Ich glaube, dass sie damit auch ihren Mitgliedern am meisten dienen. Denn leider, ich muss das sehr stark betonen, dieses Wort „leider'", meine verehrten Herren, sind sich manche Deutsche noch nicht darüber klar, dass unser Schicksal und unser Wohl untrennbar miteinander verbunden ist. Alle für alle.

Herr Präsident Berg hat eine Fülle von Anregungen gegeben. Und wir werden alle, wie er mir sagte, seine Ausführungen auch gedruckt bekommen. Man konnte nicht alledem folgen oder sofort darauf antworten, was er gesagt hat. Aber, meine verehrten Herren, in einigen Punkten, die ich mir kurz notiert habe, kann ich Ihnen nur Recht geben. Und das ist auch das Wort, das er über Zollpolitik gesprochen hat. Es ist ein sehr zweischneidiges Schwert, mit der Zollpolitik herauf- und herunterzugehen und je nach Bedürfnis in dem Inneren der Wirtschaft mal so, mal so zu machen. Aber, meine Herren, ich möchte in dem Zusammenhang noch einige Worte sagen über unsere außenpolitische Lage. Und ich möchte diese Worte an das gesamte deutsche Volk richten. Wir leben dahin, als wenn wir überhaupt auf der Welt nichts mehr zu befürchten hätten. Wenigstens tun das große Teile des deutschen Volkes. Und sie denken nur daran, wie sie möglichst den heutigen Tag genießen können, ohne sich darüber klar ­zu werden, was eventuell der morgige Tag bringen wird. Meine Herren, die außenpoliti­sche Lage in der Welt ist noch niemals in den letzten sieben Jahren - ich glaube, man kann noch weiter zurückgehen - so schwierig, so verworren und so unsicher gewesen wie jetzt. Und ich halte mich verpflichtet, darüber etwas der deutschen Öffentlichkeit heute zu sagen. Und zwar halte ich mich für verpflichtet, damit die deutsche Öffentlichkeit sich darüber klar wird, dass wir nicht berechtigt sind, nur an uns zu denken, jeder an sich. Und ich halte mich auch für verpflichtet, das zu sagen, weil ich der Auffassung bin, dass unter Umständen Maßnahmen, wie sie in den letzten Tagen ge­troffen worden sind, auf die außenpolitische Lage der Bundesrepublik erheblich einwirken werden.

Es ist mir zwar gesagt worden, meine Damen und Herren, als ich unlängst geäußert habe, in Frankfurt verstehe man etwas wenig von Politik, dass deswegen diese Leute, die wenig von Politik verstünden, beim deutschen Volke umso angesehener und so willkommener seien. Und das, meine verehrten Herren, hat ein sehr angesehenes Blatt geschrieben. Ich hab's zweimal gelesen, weil es so bemerkenswert dumm gewesen ist. Denn, meine Herren, Wirtschaft und Politik sind in unserer Zeit untrennbar miteinander verbunden. Wenn die Wirtschaft nicht stabil ist, kann man keine stabile Politik treiben, und wenn die Politik nicht stabil ist, kann die Wirtschaft auch nicht stabil sein. Und wer deswegen das Recht hat, in der Wirtschaft entscheidende Weichen zu stellen, der muss sich darüber klar sein über diese Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik. Und nun möchte ich mal in aller Offenheit, meine Herren, nicht zu Ihnen, sondern der deutschen Öffentlichkeit etwas darüber sagen, wie es dann in der Welt wirklich aussieht.

Es ist so furchtbar viel Gerede gemacht worden über den kommunistischen Parteikongress. Meine Herren, im Grunde genommen muss ich Ihnen eins sagen: kollektive Diktatur oder Einzeldiktatur ist gehüpft wie gesprungen. Diktatur bleibt Diktatur. Und eine weiteres möchte ich sagen, meine verehrten Herren: Stalin hat das gleiche Manöver im Jahre 1937 oder 1938 gemacht. Da hat er in einer Parteiverordnung die Einmanndiktatur verurteilt und hat gesagt, wir müssen zurückkehren zu Lenin, zur Kollektivdiktatur. Es ist alles schon mal dagewesen, nur erleben wir so viel, dass wir es nicht behalten. Ich muss sagen, meine Herren, die beste Würdigung der ganzen augenblicklichen russischen Lage hat der Führer der britischen Opposition, Gaitskell, geliefert. Er hat die Dinge sehr nüchtern und sehr klar gesehen. Das Ergebnis ist: Worte sind keine Taten. Und solange wir keine Taten sehen, meine verehrten Herren, müssen wir alle miteinander auf der Wacht stehen. Das ist keine Politik der Stärke. Mir wird immer vorgeworfen, ich wolle eine Politik der Stärke. Ich frage Sie, meine Herren, soll ich denn eine Politik der Schwäche wollen? Dann liefen wir doch den Russen in die geöffneten Arme geradezu herein. Und so weit ich die russischen Machthaber kennengelernt habe, imponiert denen eine Politik der sogenannten Stärke viel mehr als eine Politik der Schwäche. Und, meine verehrten Herren, vielleicht wird sich in Russland eine innere Entwicklung allmählich anbahnen, vielleicht eine innere Entwicklung, die zu besseren Verhältnissen führt. Aber, meine Herren, auf alle Fälle wird diese Entwicklung eine sehr lange Zeit brauchen. Und jeden Augenblick kann die Entwicklung wieder einen anderen Lauf neh­men. Und wenn ich nun einmal verurteilt bin, zu wohnen neben einem Lande, neben einem ungeheuer starken Lande, das für sich in An­spruch nimmt, die Welt beherrschen zu wollen, da muss ich doch, bei Gott, auf der Hut sein, damit ich nicht der erste bin, der gefressen wird.

Es wird davon gesprochen, Russland sei so viel stärker geworden. Ich weiß es nicht, meine Herren. Ich muss hier ganz offen bekennen, dass allen Ländern in der Welt die inneren Verhältnisse Russlands weitgehend unbekannt sind, dass wir da mit ganz unbekannten Fak­toren rechnen müssen. Ich weiß zum Beispiel nicht, haben diejenigen Recht, die sich mit rus­sischen Dingen befassen, die sagen, die rus­sische Bevölkerung nimmt ab. Oder haben diejenigen Recht, die sagen, sie nimmt im Durchschnitt jährlich um 1,5 Millionen zu? Oder haben diejenigen Recht, die sagen, sie nehme jährlich um drei Millionen zu? Kein Mensch weiß es, meine verehrten Herren. Und so ist es mit sehr vielen Dingen aus Sowjetrussland. Und daher stehen wir dieser ganzen Welt, die doch, im Grunde genommen, unser Todfeind ist, mit der größten Achtsamkeit und Behutsamkeit gegenüber. Aber, meine verehr­ten Herren, ich hatte heute eine Besprechung mit einem amerikanischen Zeitungsheraus­geber aus dem mittleren Westen, einem an­gesehenen Mann, und ich habe mich sehr offen und freimütig mit ihm unterhalten. Und ich möchte im Wesentlichen das wiedergeben, was ich mit ihm besprochen habe. Wie sieht es denn, meine Herren, in Europa aus? Nehmen Sie unser Land mal zunächst, in dem syste­matisch von der Opposition die Wehrhaftmachung des deutschen Volkes verzögert wird.

Glauben Sie, meine verehrten Herren, dass das die Achtung vor dem deutschen Volke und den Willen, dem deutschen Volke weiterzuhelfen, sehr stärkt? Ich glaube es nicht. Wie überhaupt, meine Herren, die Deutschen sich doch einmal darüber klar sein sollen, dass wir alles andere als beliebt sind im Ausland und dass wir deswegen alles, was wir tun, sehr sorgfältig uns überlegen müssen. Und wir sol­len namentlich uns auch darüber klar sein, dass unser wirtschaftlicher Aufstieg viele eher erschreckt vor uns als mit Liebe zu uns er­füllt. Wie ist es in Frankreich? Die Völker Europas sind jetzt schon so innig miteinander verwoben, dass die Schwäche des einen Landes auf alle zurückfällt. Denn Sie wissen selbst, meine Herren, dass in Frankreich die innerpolitische Lage und die Lage in Nordafrika alles andere als erfreulich ist. Gehen Sie weiter. Nehmen Sie die Frage Großbritannien, Zypern, Griechenland, eine ungemein gefähr­liche Frage für die Nato. Nehmen Sie ferner die Verhältnisse im Mittleren Osten, die Span­nungen zwischen Israel und den arabischen Völkern, die von Sowjetrussland systematisch gesteigert werden. Wenn Sie alles das be­trachten, meine Herren, dann können Sie sich vorstellen, dass aus amerikanischer Sicht her­aus dieser Kontinent alles andere als einen erfreulichen und gefestigten Eindruck macht. Und darum müssen wir den Amerikanern sagen, was ich auch immer ihnen sage, Amerika wird verteidigt in Europa. Und es ist die eigenste Sache der Amerikaner, in ihrem eigenen Interesse dafür zu sorgen, dass der freie Westen endlich einmal einig und geschlossen wird. Mir scheint das gegebene Mittel dafür zu sein der Ausbau der Nato, um die außenpolitische, ich will nicht sagen Gleichschaltung, aber Gleichrichtung klarzustellen. Denn es hat nach meiner Auffassung gar keinen Sinn, wenn man eine militärische Konföderation aufbaut gegen einen bestimmten Gegner, und gegenüber demselben Gegner seine Politik nicht ebenfalls gleichrichtet. Auf die Dauer hält dann auch nicht diese militärische Sicherung. Die militärische Sicherung und die außenpolitische Übereinstimmung muss, wenn es sich gegen denselben Gegner richtet, miteinander übereinstimmen.

Nun, meine verehrten Herren, ich habe eben gesagt, wer sich mit wirtschaftlichen Angelegenheiten beschäftigt und wer die Auf­gabe hat, in die Wirtschaft maßgeblich ein­zugreifen, der muss sich darüber bewusst sein, dass er damit auch sehr sensible Dinge berührt der Außenpolitik. Die Außenpolitik - ich hatte gehofft und gewünscht, es wäre einmal anders gekommen -, aber die Außenpolitik, meine Herren, ist heute nach wie vor für das Geschick des deutschen Volkes entscheidend. Und je stärker wir wirtschaftlich sind, desto stärker, meine Herren, sind wir auch außenpolitisch. Je schwächer wir wirtschaftlich sind, je mehr wir wirtschaftlich drohen, einem Niedergang anheimzufallen, desto schlimmer ist es mit unserer Stellung in der Außenpolitik bestellt.

Und nun, meine verehrten Herren, wol­len wir die Situation, wie sie nun einmal entstanden ist - und sie ist nach meiner Meinung, ich sage das in aller Offenheit hier, entstanden, weil man die Probleme, die mit einer Vollbeschäftigung naturgemäß verbunden sind, nicht mit der nötigen Kaltblütig­keit betrachtet hat. Nun müssen wir sehen, meine verehrten Herren, das Beste daraus zu machen. Und ich glaube, es wird auch notwendig sein, dass Vertreter von Ihnen, Vertreter der Landwirtschaft, Vertreter des Mittelstandes, Vertreter der Gewerkschaften, alle das Ihrige dazu sagen. Denn es ist eine Aufgabe, die uns allen gemeinsam anvertraut ist. Ich kann mir natürlich, meine verehrten Herren, nicht jedes Wort der Kritik über Steuerpolitik und über Abschreibungen usw., was Herr Präsident Berg gesagt hat, zu eigen machen. Es war manches Wahres daran. Gebe ich ohne weiteres zu. Und wenn ich heute, nein gestern war es, von einem meiner Söhne zugeschickt bekomme die neueste Einkommensteuererklärung und der mich darauf aufmerksam macht, dass sie 125 Fragen enthält, dann meine ich, meine verehrten Herren, alle wir miteinander, Sie und wir sollten zuerst uns einmal bemühen, eine Vereinfachung des ganzen Steuersystems herbeizuführen. Meine Herren, ich bin sogar so vermessen zu sagen, ich weiß, es ist nicht ohne Risiko, das scheint mir vielleicht doch wichtiger zu sein als eine lineare Steuersenkung. Wenn jeder weiß nach verhältnismäßig kurzem Studium der ganzen Geschichte, was er zu versteuern hat, und wenn er nicht zu allen möglichen Hilfsmitteln - in Anführungszeichen gesprochen - zu greifen gezwungen wird, meine verehrten Herren, dann glaube ich, können wir alle eine solche Vereinfachung nur begrüßen.

Also wir wollen auch mal versuchen, zu rationalisieren. Wir haben's verdammt nötig. Ich gebe es ganz offen zu. Wir haben's viel zu sehr verfeinert bei der Bürokratie. Wir sollten, meine verehrten Herren, einfacher denken. Das sage ich ganz offen und ehrlich. Je einfacher denken, ist oft eine wertvolle Gabe Gottes. Und diejenigen, die so verdreht denken, das sind nicht immer die klügsten Männer. Wobei ich natürlich hinzusetze, ich habe niemanden da­mit gemeint. Aber nun, ich komme zum Schluss und möchte nochmals das sagen, was ich eben gesagt habe. Die Situation ist da. Die Situation ist auch nach meinem Gefühl ernst. Und es handelt sich um soziale Fragen allerersten Ranges dabei. Und deswegen wollen wir ge­meinsam mit aller Ruhe, aber auch mit allem Ernst an die Lösung des Problems herangehen, das jetzt zu plötzlich vor uns getreten ist. Ich weiß, dass Sie helfen werden. Ich bin überzeugt, dass auch andere Verbände, die ich eben ge­nannt habe, auf demselben Standpunkt stehen. Und seien Sie überzeugt davon, dass ich den Standpunkt teile.

 

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.05.1956.