23. November 1957

Rede bei der ersten Tagung der „Europäischen Kulturstiftung" in Amsterdam

Die Selbstbehauptung Europas

I

Der Aufforderung, an dieser Stelle und zu diesem Kreise zu sprechen, bin ich mit Freude gefolgt. Sehr bewusst habe ich mich bereit erklärt, hier das Wort zu ergreifen. Der Politiker kommt allzu leicht in den Verdacht, dass er der Welt des Geistes und der Kultur zu wenig Bedeutung beimisst. Der politische Alltag wird zumeist von wirtschaftlichen und sozialen, innen- und außenpolitischen Problemen beherrscht. Tatsächlich kann aber der Politiker auch den Aufgaben der konkreten Realität nur dann gerecht bleiben, wenn er sich des Zusammenhanges aller Lebensäußerungen, einschließlich der kulturellen, bewusst bleibt.

Umgekehrt verfällt der sich vornehmlich mit geistigen Dingen beschäftigende Mensch leicht in den Fehler, über seinen höheren, oft abstrakten Zielen die praktische Wirklichkeit aus dem Auge zu verlieren. Ich begrüße es daher ganz besonders, dass sich hier nicht nur Wirtschaftler und Vertreter des kulturellen Lebens zur Erörterung gemeinsam interessierender Aufgaben zusammengefunden haben, sondern dass sie Wert darauf legen, auch aktive Politiker unter sich zu sehen und zu ihren Aufgaben sprechen zu lassen.

Aufgabe des Politikers ist es, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Ich will hier deshalb ganz offen von den Sorgen und Überlegungen sprechen, die mich bewegen. Die Ereignisse der letzten Wochen geben dazu Veranlassung genug. Wir alle haben in letzter Zeit die sowjetischen Versuche erlebt, die Eintracht unter den westlichen Staaten zu stören und so die Grundlagen unseres Handelns zu erschüttern. Die Raketendiplomatie Moskaus zielt ja in der Tat auf nichts anderes ab, als das Empfinden für die tatsächlichen Kräfteverhältnisse in der Welt zu verwirren. Mit großer Befriedigung kann man heute feststellen, dass diese Methoden ihr Ziel nicht erreicht haben. Im Dezember werden, wie Sie wissen, die Mächte des Atlantischen Bündnisses, vertreten durch ihre Regierungschefs, in Paris Gelegenheit haben, eine gemeinsame Politik festzulegen, die der jüngsten Entwicklung auf dem Gebiet der Waffentechnik Rechnung trägt.

II

Man hat in den letzten Jahren viel über die Notwendigkeit des europäischen Zusammenschlusses gesprochen. Das ist nur verständlich. Die europäische Vergangenheit war zu sehr mit Zwietracht belastet, als dass sich der naturnotwendige Zusammenschluss der europäischen Völker an einem Tage und fast von selbst hätte vollziehen können. Auch heute noch regt sich mitunter der Zweifel: Gibt es denn wirklich ein Europa? Ist ein reibungsloser Zusammenschluss der europäischen Staaten möglich, ohne dass das eine oder andere Land eine Minderung seiner Lebensmöglichkeiten erfährt?

Ich stelle die Gegenfrage: „Sind solche Überlegungen heute noch am Platz? - Sie mögen vor Jahrzehnten ihre Berechtigung gehabt haben. Ein verantwortungsbewusster Staatsmann wird aber heute die Schaffung einer auf Gleichberechtigung beruhenden Gemeinschaft der europäischen Völker nicht mehr für eine Utopie, sondern für ein realisierbares Ziel halten.

Vielleicht ist uns erst in der Erschütterung, die das Zeitalter der Weltkriege in Europa und in der Welt auslöste, klar geworden, wie stark die Bindungen der europäischen Völker untereinander sind. Sie sind stark trotz der ständigen Rivalitäten, die ja erst den Wunsch ausgelöst haben, an die Stelle des Gegeneinander das Miteinander zu setzen. Gewisse geschichtliche Grundlagen sind nun einmal für die meisten Völker Europas verbindlich. Selbst im Zeitalter der Nationalstaaten blieben diesem Europa gewisse politische und geistige Lebensgrundlagen gemeinsam. Ich denke hier an frühere Versuche einer europäischen Zusammenarbeit, so an die Einrichtung des Konzerts der europäischen Mächte, das aus den Wirren der Revolutions- und napoleonischen Zeit erwuchs und das den Versuch unternahm, die geschichtlich gewordene Ordnung Europas gegenüber allen Wechselfällen zu bewahren. Ich denke weiter an das Recht, das in den meisten europäischen Ländern auf den gleichen Grundsätzen beruht, an das Verfassungsleben und an das Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie.

So machen Vielfalt in der Eigenart und trotzdem Gemeinsamkeit in der Grundlage die entscheidenden Wesenszüge Europas aus. Die Vielfalt in der staatlichen Entwicklung, die die europäischen Nationen zur höchsten kulturellen und politischen Anstrengung zwang, ist schließlich die Voraussetzung für die ausschlaggebende Stellung gewesen, die Europa in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in der Welt eingenommen hat. Das gemeinsame Bekenntnis zur Freiheit ist es heute, das uns wieder zusammenführt gegen diejenigen Kräfte, die das freie Selbstbestimmungsrecht des einzelnen und der Völker verneinen.

Dankbar erkennen wir an, dass wir uns in dieser Auseinandersetzung nicht allein befinden. An unserer Seite stehen die anderen freien Völker, die in ihrer Entstehung und Entwicklung ebenfalls weitgehend der europäischen Vergangenheit verbunden sind, ihnen voran die Vereinigten Staaten von Amerika. Wäre in Amerika das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit Europa nicht so lebendig gewesen, so wäre das freie Europa auch ein Opfer östlicher Macht geworden und heute nur noch ein historischer Begriff. Dieses Gemeinschaftsgefühl der freiheitlichen Welt greift schon heute tief. Wir müssen klar erkennen, dass es unsere Aufgabe sein wird, das innige Verhältnis des Gebens und Nehmens, das zwischen unseren Kontinenten besteht, ständig weiter zu vertiefen.

III

Reicht aber das Bekenntnis zu gleichen politischen Idealen aus, um eine Selbstbehauptung Europas zu ermöglichen? Ich glaube kaum. Die Summe des Einflusses der europäischen Länder ist im Großen und Ganzen dem Einfluss Gesamteuropas gleichzusetzen. Fragen wir uns aber nach dem Umfang des europäischen Einflusses in der Welt, so ist die Machtminderung der europäischen Länder nun einmal eine Tatsache, an der wir nicht vorübergehen können. Noch zu Beginn dieses Jahrhunderts stand ihr Einfluss in der Welt fest gegründet. Heute, kaum ein halbes Jahrhundert später, führen die freien europäischen Staaten eine Existenz im Schatten der Atommächte, und sie tun das, obgleich ihr wirtschaftliches Potential nach wie vor größer ist als dasjenige der Sowjetunion und obgleich die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in dem freien Europa in den letzten Jahren eine unerwartet günstige Entwicklung genommen haben.

Ich bin mir bewusst, dass für diese veränderte Stellung Europas in der Welt auch Ursachen verantwortlich gemacht werden müssen, die unserer unmittelbaren Einwirkung nicht mehr unterliegen. Unsere Zeit steht nun einmal im Zeichen eines unerbittlichen Emanzipierungsprozesses, der außerhalb Europas neue Machtzentren politischer und ideologischer Natur schafft.

Ich übersehe vor allem auch nicht die bittere Tatsache der Teilung Europas. Sie setzt unserer politischen Bewegungsfreiheit schwer übersteigbare Grenzen. Niemand kann uns, die wir hier versammelt sind, das Recht bestreiten, für das gesamte Europa zu sprechen. Handeln können wir zurzeit aber nur für die freien europäischen Völker. Die Zerschneidung der europäischen Mitte und die ständige sowjetische Drohung bleiben bis auf weiteres Tatsachen von größter schicksalsschwerer Bedeutung für uns alle.

IV

Als Politiker eines durch die Teilung Europas besonders schwer getroffenen Landes sage ich mir, dass der Schnitt quer durch unseren Kontinent Anlass sein sollte, um unserem politischen Lebenswillen neue Energie, neue Kraft zuzuführen. Wollen wir unseren politischen Vorstellungen treu bleiben, so bleibt - das ist meine feste Überzeugung - nichts anderes übrig, als unablässig auf die Beseitigung dieses Zustandes zu dringen. Es gibt politische Theoretiker, die meinen, man könne sich mit diesem Übel der Teilung Europas abfinden. Aber sie irren sich. Die Übernahme ihrer Behauptungen würde für uns den Verzicht auf die Erfüllung der uns gestellten Aufgabe in sich tragen, die Wiederherstellung Europas herbeizuführen und heute Treuhänder der Freiheit für diejenigen Teile Europas zu sein, die zurzeit ganz oder teilweise des Selbstbestimmungsrechts beraubt sind. Hier ist ein Punkt, wo wir nicht mit uns diskutieren lassen. Denn finden wir uns innerlich mit der Zerreißung unseres Kontinents ab, dann wird uns die moralische und politische Widerstandskraft fehlen, derer wir bedürfen, um die schweren geistigen Auseinandersetzungen der kommenden Jahrzehnte zu bestehen. Nur das Bewusstsein, dass die Freiheit Europas unteilbar ist, kann der Europa-Idee die Schwungkraft geben, die im Interesse unserer Selbstbehauptung notwendig ist.

Es ist dieser Kleinmut, in dem ich die schwerste Belastung für unsere gemeinsame Zukunft erblicke. Die Trägheit, der wir oft in geistig-politischer Hinsicht begegnen, steht ja nicht allein. Die Lässigkeit auf wirtschaftlichem Gebiet, die Tendenz, mitunter zu früh die Hände in den Schoß zu legen, ist unser erster Feind. Sie kommt letztlich nur derjenigen Macht zugute, die die Kräfte des einzelnen skrupellos ausnutzt, um die große Auseinandersetzung zwischen Kommunismus und freier Welt auch auf wirtschaftlichem Gebiet zu gewinnen.

Ich könnte für diese Lässigkeit noch Verständnis aufbringen, wenn sie sich auf ein starkes Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten gründete. Aber Hand in Hand mit ihr geht ja die Neigung, auch auf dem Gebiet der Selbstverteidigung nicht alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Ich brauche hier nicht im Einzelnen auf die Notwendigkeit einzugehen, die ausreichenden Verteidigungsmittel bereitzustellen. Diese Notwendigkeit ist uns angesichts der ständigen Drohung aus dem Osten sicher klar.

Gerade darum ist es nahezu unbegreiflich, dass das freie Europa mit seinem Wirtschafts- und Menschenpotential nicht in der Lage ist, politisch und militärisch den ihm zukommenden Platz zu behaupten. Hier liegt doch ein - um nicht mehr zu sagen - erstaunliches Phänomen vor: die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns damit abzufinden scheinen, dass wir aus eigenen Kräften nicht in der Lage sind, das für unsere Existenz nun einmal so notwendige internationale Kräfteverhältnis zu sichern, geschweige denn zu unseren Gunsten zu beeinflussen.

V

Ich will mich nun nicht darauf beschränken, hier lediglich eine Philippika gegen den bei uns herrschenden Mangel an Selbstbehauptungswillen zu halten. Ich bin mir vollkommen bewusst, dass die unglückseligen Ereignisse der dreißiger und vierziger Jahre auch heute noch eine schwere psychologische Hypothek für die Bemühungen um eine europäische Integration darstellen. Auch dieses Land, in dem ich heute die Ehre habe zu sprechen, hat sehr Schweres durchgemacht. Auf der anderen Seite wird aber niemand daran vorübergehen können, dass die Lebensfähigkeit unseres Kontinents in erster Linie von unserer Fähigkeit abhängt, aus den trüben Erfahrungen der Vergangenheit die richtigen Folgerungen für eine bessere Zukunft zu ziehen.

Ich deutete vorhin bereits an, dass hierfür gute Voraussetzungen vorhanden sind. Unsere Wirtschaftskraft hält durchaus den Vergleich mit derjenigen der großen Weltmächte aus. Unsere Arbeitsfähigkeit und unsere wissenschaftliche Erfahrung sollten beide dafür bürgen, dass wir jederzeit in der Lage sind, aus dem, was die Natur uns gegeben, das Beste zu machen.

Wir stehen ja schließlich nicht allein. Wenn auch die Emanzipation der überseeischen Völker eine Verschiebung in den Machtverhältnissen jenseits der Meere hervorgerufen hat, so enthält doch eine überlegte und verständnisvolle Politik der freien Welt gegenüber den aufstrebenden Völkern in Asien und in Afrika die Möglichkeit in sich, dass das, was dort europäische, asiatische und afrikanische Völker gemeinsam schufen, auch in Zukunft der gesamten Welt und der europäischen Wirtschaft zugute kommt.

Wenn ich das an einem Beispiel konkretisieren darf: Es genügt nicht, den sich neu industrialisierenden Ländern qualitativ hochwertige Investitionsgüter anzubieten und zu liefern, sondern es sollte damit auch zugleich das Angebot der kulturellen Ausgleichskräfte verbunden sein. Das heißt praktisch, dass wir dem technischen Führungsnachwuchs dieser Länder weitgehend den Besuch europäischer Ausbildungsstätten ermöglichen müssen.

Ich will nicht leugnen, dass die Entwicklung in Übersee an alle unmittelbar Interessierten gewisse Anforderungen an Geduld und politischem Takt stellt. Verstehen wir aber die Stunde richtig zu nutzen, so stehen uns auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet große, auf freier Zusammenarbeit begründete Möglichkeiten außerhalb Europas auch weiterhin zur Verfügung. Sehen wir zu, dass diese Möglichkeiten nicht verloren gehen.

VI

Ganz besonders begrüße ich die Tatsache, dass das gute Verhältnis zu unseren Bundesgenossen in Nordamerika in den letzten Wochen eine weitere Vertiefung erfahren hat. Von der Festigkeit der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und den Vereinigten Staaten hängt schließlich die erfolgreiche Selbstbehauptung Europas ab. Denn die Tatsache dieser gegenseitigen Abhängigkeit gibt uns das, was uns allein gegenüber dem Ostblock fehlt: die Tiefe des Raumes, die uns im Zeitalter einer planetaren Politik erst die letzte Entfaltung aller unserer Kräfte erlaubt.

Diese gegenseitige Verbundenheit sollte uns aber nicht veranlassen, die Hände in den Schoß zu legen und die Hauptlast der gemeinsamen Verteidigung den Vereinigten Staaten zu überlassen. Wir sollten vielmehr versuchen, unsere Interessen so zur Geltung zu bringen, dass sich wirklich eine gemeinsame Politik auf der Grundlage der gleichen Verantwortung und gleichen Lasten entwickelt. Ohne größere Anstrengungen auf unserer Seite und ohne die Liquidierung unnötiger nationaler Meinungsverschiedenheiten wird das nicht gehen.

VII

Hier bleibt für uns noch manches zu tun. Zahlreiche nationale Gegensätze im europäischen Bereich sind zwar beseitigt. So ist es der Bundesrepublik bereits gelungen, die strittigen Fragen, die sich aus Kriegs- und Nachkriegszeit zwischen Deutschland und seinen Nachbarn ergeben haben, zum großen Teil zu lösen. Ich denke hierbei insbesondere an die Lösung der Saarfrage, die eine erfreuliche Bereinigung des deutsch-französischen Verhältnisses gebracht hat, und an das deutsch-belgische Grenzabkommen vom 24. September 1956. Ich hoffe aufrichtig, dass es möglich sein wird, in absehbarer Zeit auch diejenigen Fragen, die zwischen Deutschland und seinen Nachbarn noch offen stehen, im Geiste der beiderseitigen Verständigung zu regeln.

Ich habe keinen Zweifel, dass wir uns diesen Aufgaben gewachsen zeigen werden. Wir haben ja in dem sowjetischen Imperialismus, wie das unser Freund Spaak vor kurzem gesagt hat, einen Bundesgenossen, wenn auch einen Bundesgenossen wider Willen. In den entscheidenden Augenblicken war es immer die Politik des Ostblocks selbst, die uns aus unserer Bequemlichkeit aufgerüttelt hat. Wir haben nach dem Tode Stalins viel von den Möglichkeiten einer friedlichen Koexistenz gehört. Je mehr wir uns mit diesen sowjetischen Erklärungen befasst haben, desto mehr hat sich aber die Einsicht bei uns durchgesetzt, dass wir in unserer gemeinsamen Außenpolitik nicht auf Grund der sowjetischen Deklarationen, sondern auf Grund der sowjetischen Aktionen zu handeln haben. Und diese erlegen uns auf, in dem Bemühen um Verstärkung der europäischen und atlantischen Zusammenarbeit nicht nachzulassen.

VIII

Ich glaube, dass wir auf diesem Wege bereits eine gute Strecke hinter uns gebracht haben. Der Zusammenschluss der europäischen Staaten auf wirtschaftlichem Gebiet, wie er in der letzten Zeit erfolgt ist, findet kaum eine Parallele in der Geschichte. Gewiss haben die Bemühungen um die europäische Integration seit der Unterzeichnung des Vertrages über die Kohle- und Stahlgemeinschaft im Jahre 1951 auch Rückschläge in Kauf nehmen müssen. Nachdem aber der Ratifikationsprozess der Vertragsprojekte des Gemeinsamen Marktes und der Europäischen Atomgemeinschaft allmählich seinem Ende entgegengeht, wissen wir, dass die von uns angestrebte Verschmelzung der europäischen Volkswirtschaften beginnen wird. Es ist einer der bedeutungsvollsten Vorgänge in der Geschichte dieses Jahrhunderts.

Diese Bemühungen um eine Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit sollen sich nun nicht lediglich auf die Staaten der Sechsergemeinschaft beschränken. Die Beteiligung steht auch den anderen freien Staaten Europas offen. Ich habe es deshalb sehr begrüßt, dass ich in Ihrem Kreise auch einer Reihe von hervorragenden Vertretern Englands begegnen durfte. England nimmt unter den europäischen Nationen insofern eine Sonderstellung ein, als es im Laufe der Geschichte ganz besondere Erfahrungen in der Integrierung verschiedenartiger Interessen sammeln konnte, Erfahrungen, von denen wir alle hoffen, dass sie eines Tages auch einer engeren europäischen Zusammenarbeit zugute kommen.

Ich erblicke Möglichkeiten für eine solche Zusammenarbeit in einem erweiterten Kreis der europäischen Staaten gerade auch auf kulturellem Gebiet. Eine solche Zusammenarbeit sollte die kulturpolitische Selbständigkeit der europäischen Staaten in keiner Weise in Frage stellen. Nichts würde ich mehr bedauern als eine Gleichmacherei auf kulturellem Gebiet. Aber es bleibt doch viel in dieser Frage noch zu tun. Wir bedürfen vor allem dringend der Einrichtungen, die es der europäischen Jugend ermöglichen, sich mit der kulturellen Eigenart aller europäischen Völker vertraut zu machen und diese wirklich verstehen zu lernen. Nur dann wird es uns möglich sein, den Impuls für die Arbeit an der europäischen Integration auch an die Generation weiterzugeben, die die europäische Katastrophe nicht mehr unmittelbar miterlebt hat. So lautet meine Bitte: Helfen Sie verhindern, dass die aus der Weltkatastrophe gewonnenen Erkenntnisse wieder im nationalen Boden versickern; helfen Sie mit, einen europäisch denkenden Führungsnachwuchs heranzubilden, der in der Vorstellung eines mit der westlichen Welt verbundenen, geeinten Europa lebt.

Und vor allem: Versuchen wir, uns tatkräftig einzusetzen auch für die Kulturgüter derjenigen Länder, die heute nicht im Besitze ihrer Freiheit sind. Setzen wir uns mit den geistigen Fragen, die in diesen Ländern aufgeworfen werden, so ernst auseinander, dass die Ergebnisse, zu denen wir gelangen, zu ihnen ausstrahlen und ihnen den Mut geben, ihre geistige Freiheit aufrechtzuerhalten.

IX

Das Gewicht, das wir durch eine Mobilisierung aller unserer Kräfte gewinnen können, wird - ich bin dessen gewiss - geeignet sein, um in der Welt jenes Gleichgewicht wieder herbeizuführen, von dem letztlich die Erhaltung des Friedens in unserer Zeit abhängen wird.

Der Weg, der vor uns liegt, wird nicht leicht sein. Er erfordert Härte gegen uns selbst, gute Nerven und eine Politik, die sich jeder Lage, ungeachtet der Schwierigkeit der anstehenden Probleme, elastisch anzupassen vermag. Ich denke dabei vor allem auch an das Abrüstungsproblem, dessen Lösung uns im Interesse des Friedens und im Interesse einer sorgenfreieren Zukunft so besonders am Herzen liegt. An einer Forderung sind wir jedoch gewillt unter allen Umständen festzuhalten, an der Forderung der Freiheit für alle Völker Europas. Nur dann wird sich Europa in der Auseinandersetzung der großen Mächte und angesichts des Aufkommens neuer und in ihrer Bedeutung noch nicht zu erfassender Machtgebilde die Eigenständigkeit und vor allem auch die kulturelle Eigenart bewahren können.

So lassen Sie mich noch einmal vor dem Geist des partikularen Eigensinns der europäischen Staaten warnen, denn darüber besteht kein Zweifel: Das Nebeneinander kleiner politischer Gebilde im Schatten der Großen verbürgt uns keine sichere Zukunft. Eine glückliche Zukunft ist uns nur dann gewiss, wenn wir in dem Bemühen nicht ablassen, schon in unserer Zeit das große Ziel der Bewahrung der Eigenständigkeit der europäischen Völker in einem frei geeinten Europa zu sichern.

 

Quelle: StBKAH I/02.16, maschinenschriftliches Redemanuskript.