24. Dezember 1959

Den Frieden wahren - Unfreiheit abwehren

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Während der Weihnacht dürfen die Menschen ihr Leben in einem anderen Lichte sehen. So ist es verständlich, dass diese festlichen Tage für alle Deutschen voller Wünsche und Hoffnungen für den Frieden auf Erden sind, gleichgültig, ob sie diesseits oder jenseits des Eisernen Vorhanges leben. Keine irdische Macht kann Christen daran hindern, die Frohe Botschaft jedes Mal neu in sich aufzunehmen und neuen Mut aus ihr zu schöpfen.

Das sich dem Ende zuneigende Jahr war voller großer Sorgen um die weltpolitische Entwicklung, insbesondere auch um die Zukunft unseres Volkes. Wir erinnern uns, wie gerade das vorige Weihnachtsfest für uns unter einer fühlbaren Bedrohung der Freiheit und des Friedens gestanden hat. Berlin war einer unmittelbaren Gefahr ausgesetzt. Wir können diese Erinnerung nicht beiseite schieben. Sie sollte uns etwas sehr Wichtiges auf den weiteren Weg mitgeben: nämlich einen noch festeren Willen zur Behauptung unseres Lebensrechts und außerdem Geduld. Während der erhöhten Bedrohung haben wir uns an der Tatsache gestärkt, dass wir in unserer Entschlossenheit, den Frieden zu wahren und die Unfreiheit abzuwehren, nicht allein standen. Deshalb sind wir unseren bewährten Freunden unter den freien Völkern großen Dank schuldig.

Aus den Erfahrungen des Jahres 1959 können wir für unseren weiteren Weg eine Sicherheit und Bestimmtheit gewinnen, die für uns selbst wie auch für unsere Freunde im guten Sinne klärend wirken dürfte. Für die Bundesrepublik heißt das, sich wie bisher mit allen Kräften zu bemühen, ihren Beitrag zur friedlichen Lösung der weltpolitischen Probleme und Schwierigkeiten zu leisten und dabei nach wie vor für engste Zusammenarbeit des Westens einzutreten. Wir machen den anderen gegenüber kein Hehl daraus, dass die aus unseren internationalen Bindungen und Verpflichtungen sich ergebenden Belastungen keineswegs klein sind, aber wir werden sie auch künftig gern in dem Bewusstsein übernehmen, damit im Rahmen der freiheitlichen Welt um die Schaffung eines dauerhaften Friedens bemüht zu sein.

Wir sind überzeugt, dass Fragen, die uns heute noch als unlösbar erscheinen, eine echte Bereinigung erfahren können, wenn die in Freiheit lebenden Völker in entschlossener Konsequenz sich nicht vom Wege des Rechts auf Frieden und Freiheit abdrängen lassen. Zu dem festen Willen, dies zu tun, wird sich allerdings Geduld gesellen müssen. Gerade das hat uns das Jahr 1959 bewiesen. Vor allen Dingen aber dürfen wir nicht vergessen, dass gegenwärtig neben großen Hoffnungen auf den Frieden immer noch ebenso große Gefahren vor uns stehen. Das macht es notwendig, trotz aller Bestimmtheit unseres Handelns nichts zu überstürzen.

Unser Bemühen, den Frieden zu wahren, Unfriede und Unfreiheit abzuwehren, wird immer den Wunsch einschließen, dass auch den Deutschen, die östlich des Eisernen Vorhanges unter kommunistischer Herrschaft leben müssen, in absehbarer Zeit das Recht auf Frieden und Freiheit zuteil wird. Das ist übrigens eine unerlässliche Voraussetzung für die Wiedervereinigung unseres Volkes. Wie die Bundesregierung zur Befriedung Deutschlands und der ganzen Welt beitragen kann, wird heute noch genauso zu erklären sein, wie ich es vor einem Jahrzehnt vor dem Europarat in Straßburg darlegte: "Die Politik muss mit einem gesunden Realismus ihre Handlungen den Gegebenheiten anpassen. Sie muss, wenn das Ganze nicht erreichbar ist, den Teil davon verwirklichen, der möglich ist, und darf im übrigen der Kraft der Entwicklung vertrauen. Ein Politiker würde falsch handeln, der das Gute nicht tut, weil das Bessere noch nicht erlangbar ist, oder der den Schritt, der heute möglich ist, unterlässt, weil er glaubt, dass ihm der größere Schritt wohl morgen gelingt."

Der Verlauf der letzten zehn Jahre hat uns eigentlich in dieser Einstellung bestärkt. Den nicht abzuleugnenden Enttäuschungen stehen viele Erfolge gegenüber, die für die Zukunft schwer wiegen. Wenn wir dann noch die Erfahrung des vergangenen Jahres hinzunehmen, dann müsste uns das in unserem Willen zur Standhaftigkeit wie auch in unserer Geduld bestärken. Um so mehr, als sich unsere Zusammenarbeit mit unseren Freunden im Westen allen Belastungen zum Trotz bewährt hat.

 

Quelle: General-Anzeiger für Bonn und Umgegend vom 24. Dezember 1959.