Kurze Aufzeichnung über die Unterredung des Herrn Bundeskanzlers mit Lord Henderson im Palais Schaumburg am 24.6.1952 von 13.15 bis 15.45 Uhr in Anwesenheit von Mr. Ward, dem britischen Stellvertretenden Hohen Kommissar, Staatssekretär Professor Hallstein, Ministerialdirektor Blankenhorn und Dr. Noack als Dolmetscher.
Die eigentliche Unterredung fand im Anschluss an das Essen statt. Lord Henderson kam zunächst auf das Problem der Entschädigung für die Juden zu sprechen. Er sagte, er erinnere sich genau an das Gespräch, das er vor längerer Zeit mit dem Kanzler über diese Frage geführt habe. Später habe der Kanzler dazu eine Erklärung abgegeben, und er glaube sich entsinnen zu können, Herrn Blankenhorn damals ausdrücklich empfohlen zu haben, den Hansard im Hinblick auf den Widerhall zu lesen, den diese Erklärung des Kanzlers in den Debatten des Unterhauses auslösen würde. Es sei sicher hier mit Genugtuung verzeichnet worden, dass die Rede des Kanzlers im britischen Parlament allgemein wegen ihres hohen moralischen Mutes bewundert worden sei. Er habe damals gleich gesagt, es wäre politisch klug und moralisch richtig, wenn die Deutschen nun versuchten, so bald wie möglich ein Abkommen mit Israel zu erzielen. Er verstehe wohl die Schwierigkeiten auf deutscher Seite, aber auch Israel müsse die Opposition in Knesset überwinden. Es sei wesentlich, nicht nur zu einem Einvernehmen, sondern auch zu einem Abkommen mit Israel zu gelangen. Das frühere Regime habe sehr viele Aktiva des deutschen Volkes im Ausland vergeudet. Es sei das Verdienst des Herrn Bundeskanzlers, wieder neue aufgebaut zu haben.
Der Herr Bundeskanzler erklärte, dass die Aussichten für den Abschluss eines solchen Abkommens durchaus günstig seien. In Bonn hätten bereits Vorbesprechungen zwischen einem Vertreter Israels, dem Vertreter der jüdischen Weltorganisationen, Mr. Goldman, und einem Vertreter der Bundesregierung stattgefunden, die die Grundlage für die neuen Besprechungen bildeten, die heute im Haag begönnen und, wie er überzeugt sei, zu dem erwünschten Abkommen führen würden.
Lord Henderson betonte nochmals, dass zwei Dinge besonders wichtig seien: 1) die moralische Seite der Entschädigung für die Juden, und 2) der Abschluss eines wirklichen Abkommens. Vielleicht käme noch ein drittes hinzu, doch das sei eine Detailfrage, mit der er den Herrn Bundeskanzler nicht belästigen wolle, die er vielleicht am besten mit Herrn Staatssekretär Hallstein besprechen könne, nämlich: eine etwaige teilweise Durchführung der Entschädigung in Form von Öllieferungen an Israel.
Der Herr Bundeskanzler versicherte Lord Henderson, dass auch daran schon gedacht sei.
Als zweiten Punkt brachte Lord Henderson die Ratifizierung der vertraglichen Vereinbarungen und des EVG-Vertrages zur Sprache. Er erklärte, dass ihm diese Ratifizierung ausgesprochene Sorge bereite.
Der Herr Bundeskanzler beruhigte Lord Henderson. Anfang Juli würde die erste Lesung der Verträge stattfinden. In der ersten Septemberhälfte würde dann ihre zweite und dritte Lesung und die Ratifizierung erfolgen.
Dies nahm Lord Henderson zur Kenntnis und erklärte weiter: Als guter Kenner des Grundgesetzes habe er eigentlich nicht daran gezweifelt, dass der Abschluss solcher Verträge rechtlich für die Bundesrepublik möglich sei. Er wolle kurz einmal seine Gedanken zu diesem Thema äußern und bitte zu bedenken, dass er nicht als Jurist, sondern nur als Politiker dazu Stellung nehmen und auch nur seine private Meinung äußern könne. Für den Abschluss sprächen, so glaube er, insbesondere zwei Artikel des Grundgesetzes, die er zwar genau kenne, aber leider nicht beziffern könne: 1) der, in dem vom „conscientious objector" die Rede sei, und 2) der, in dem es heiße, die Bundesrepublik könne aus Sicherheitsgründen vertragliche Abmachungen eingehen. Er sei daher überzeugt, dass die Bundesrepublik damit die Möglichkeit habe, einen Defensivpakt zu schließen. Er gebe offen zu, dass er morgen Herrn Schumacher aufzusuchen beabsichtige. Bei dieser Gelegenheit werde er den gleichen Standpunkt vertreten. - Nun sei aber insofern eine Änderung der Lage eingetreten, als beim Bundesverfassungsgericht eine Klage über die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Bundesrepublik eingereicht worden sei. Was würde geschehen, wenn dieser Klage stattgegeben würde? Wenn zur Ratifizierung der Verträge eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich sei und der Herr Bundeskanzler diese nicht erhalten könne, sei er dann gezwungen zurückzutreten, und könne der Bundespräsident einen neuen Bundeskanzler ohne Ausschreibung von Neuwahlen ernennen?
Deutscherseits wurde Lord Henderson erwidert, ein gegen den Bundeskanzler eingebrachtes Misstrauensvotum habe nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sich die Mehrheit des Bundestages gleichzeitig auf einen Vorschlag für die Ernennung eines neuen Kanzlers einige. Diese sehr schwierige Art, einen Kanzler zu beseitigen, habe sich die SPD ausgedacht, weil sie ursprünglich damit gerechnet habe, an die Macht zu kommen. Wenn aber heute eine Mehrheit gegen ihn stimmen sollte, so erklärte der Herr Bundeskanzler, dann müsse er schon eine seiner Koalitionsparteien zu diesem Zwecke abgeben. Das könne keiner von ihm erwarten. Er wisse übrigens, dass im Ausland die Meinung überaus verbreitet sei, durch die Parlamentswahlen von 1953 würde die SPD ans Ruder kommen. Die demoskopischen Untersuchungen, die von verschiedenen Instituten zur Erforschung der öffentlichen Meinung im Gebiet der Bundesrepublik durchgeführt worden seien, um die Einstellung der Bevölkerung zur Politik der Bundesregierung festzustellen, hätten jedoch ergeben, dass im Mai 1951 zwar nur 31 %, im Mai 1952 dagegen 58 % sich für die Politik der Bundesregierung geäußert hätten.
Die dritte Frage, die Lord Henderson zur Sprache brachte, war die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands, wie er sagte, eines der wichtigsten Probleme, vielleicht das wichtigste Problem überhaupt. Bisher sei davon die Rede gewesen, a) die Vorbedingungen für die Durchführung allgemeiner demokratischer Wahlen in Deutschland festzustellen, und b) die Befugnisse einer allgemeinen deutschen Regierung vor, während und nach den Wahlen festzulegen. Eines sei aber noch nicht klar, nämlich, was vereinigt werden solle. Dies müsste als c) weiterer Punkt erörtert werden. In einer Erklärung, die seine volle Billigung gefunden habe, habe der Herr Bundeskanzler kürzlich gesagt: die Bundesrepublik und die Ostzone. Andererseits habe Minister Kaiser, er glaube gestern, die Meinung vertreten, „im gegenwärtigen Stadium" könne nur die Bundesrepublik und die Ostzone vereinigt werden. Wie stelle man sich nun zur Frage der eigentlichen„Ostgebiete"? Es sei doch wichtig, über das, was vereinigt werden solle, eine Klärung herbeizuführen, ehe man sich mit den Russen an den Verhandlungstisch setze.
Der Herr Bundeskanzler bemerkte hierzu, er habe schon früher in nichtamtlicher Eigenschaft seine Auffassung zu den jetzt unter polnischer Verwaltung stehenden Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie bekanntgegeben, als er erklärt habe, diese Gebiete müssten später entweder einem deutsch-polnischen Condominium oder einer supranationalen Behörde, etwa der UNO, unterstellt werden. Auf jeden Fall sei er sich klar darüber, dass Ansprüche auf diese Gebiete nur mit friedlichen Mitteln geltend gemacht werden dürften. Es sei nicht nur im Interesse des Westens, sondern gerade auch Deutschlands, dass Polen sich endgültig westlich orientiere und auch in Zukunft ein Bollwerk gegen die Sowjetunion bleibe.
Für diese Erklärung dankte Lord Henderson. Insbesondere nahm er dankbar zur Kenntnis, dass Ansprüche nur mit friedlichen Mitteln geltend gemacht werden sollten. Es sei aber noch ein weiterer Punkt, der ihn und viele seiner Freunde beunruhige: d) die Frage des Sudetenlandes. In diesem Raum hätten zwar unbestreitbar vorwiegend Deutsche gewohnt, er würde es jedoch als ein Passivum der jetzigen deutschen Außenpolitik betrachten, wenn Deutschland auf diesen Raum, der physisch zur Tschechoslowakei gehöre, Anspruch erheben wolle. Ein solcher Anspruch würde die Weltmeinung gegen Deutschland einnehmen. Zusammenfassend sei also zu sagen, es müsse genau präzisiert werden, was unter Wiedervereinigung Deutschlands zu verstehen sei. Wenn er recht verstehe, meine man die Vereinigung der jetzigen Bundesrepublik mit der jetzigen Ostzone. Habe man das festgelegt, so müsse eine Vierer-, oder besser gesagt Fünferkonferenz abgehalten werden, denn im Westen seien jetzt vier Partner. Er bitte, ihn recht zu verstehen. Eine solche Konferenz sei wichtig aus psychologischen Gründen. Es gäbe viele, die es nicht begreifen würden, wenn der Westen von vornherein eine solche Konferenz ablehnte, nicht nur innerhalb der Bundesrepublik, sondern insbesondere auch in England und Frankreich, in geringerem Maße in den USA. Nur auf dem Wege über eine Konferenz sei es möglich, die Verantwortlichen für das Weiterbestehen der Spannung festzunageln.
Hierzu erklärte der Herr Bundeskanzler, er habe nichts gegen eine solche Konferenz, wenn der Westen mit einem festen Programm in sie hineingehe und vor allem nicht zulasse, dass dadurch eine Verschleppung der Ratifizierungen und seiner Aufbauarbeit eintrete.
Lord Henderson räumte ein, dass eine Verzögerung der Ratifizierungen auf keinen Fall von den Westmächten als „Eintrittsgebühr" für eine solche Konferenz gezahlt werden dürfe. Ein Ruhen der Ratifizierungsverfahren oder eine Abänderung der Verträge könne höchstens nach einem für den Westen befriedigenden Ergebnis der Konferenz in Frage kommen.
Zum Schluss dankte Lord Henderson dem Herrn Bundeskanzler in herzlichen Worten für den freundschaftlichen Empfang, der ihm zuteil geworden sei, obwohl er diesmal nicht als offizieller Vertreter seiner Regierung erschienen sei.
Der Herr Bundeskanzler sagte ihm jedoch, dass er - abgesehen von seinen persönlichen Gefühlen für Lord Henderson und den von ihm ganz außerordentlich hochgeschätzten Mr. Attlee - sich darüber klar sei, wie stark in England Opposition und Regierung gerade in Fragen der Außenpolitik zusammengingen. Er halte es daher für außerordentlich wichtig, dass auch die Mitglieder der Opposition von deutscher Seite über den Gang der Ereignisse unterrichtet würden.
Lord Henderson bestätigte die Bemerkung des Herrn Bundeskanzlers, dass Regierung und Opposition in England stark zusammenarbeiteten, und erinnerte lächelnd daran, dass er bei einer früheren Begegnung dem Herrn Bundeskanzler die Einstellung seiner (Labour-)Regierung zum Europarat erläutert und hinzugefügt habe, ein Mitglied der Opposition würde sicherlich auf Befragen dasselbe Urteil über den Europarat abgeben. Damals habe ihm der Herr Bundeskanzler die Richtigkeit dieser Auffassung bestätigt, da er diese Unterhaltung mit einem Mitglied der Opposition bereits geführt hätte.
[Hs.:] Noack
Quelle: Aufzeichnung des Dolmetschers Dr. Noack, in: BArch, NL Blankenhorn 351/10, Bl. 61-66.