24. November 1960

Interview mit dem französischen Journalisten Jean Botrot

Botrot: Ende 1947 habe er den Bundeskanzler zum ersten Male gesehen und anschließend einen großen Bericht für die sieben größten französischen Provinzblätter geschrieben, die eine Gesamtleserzahl von rund 2 Millionen haben. Er habe jetzt dieselbe Absicht und wolle mit dem Bundeskanzler, de Gaulle, Macmillan, Fanfani und anderen Persönlichkeiten sprechen, um zu versuchen, den europäischen Gedanken, der sich etwas verloren habe, in der europäischen Öffentlichkeit neu zu entwickeln. Gleichzeitig wolle er festzustellen suchen, ob es irgendwelche neue Ideen gibt.

Adenauer: Warum meinen Sie, der europäische Gedanke hätte sich verloren?

Botrot: Ich glaube, daß er sich etwas verloren hat, weil konkrete Elemente ein bißchen fehlen. Man sieht, daß dieses Europa dargestellt wird durch eine Reihe von technischen Organisationen, aber es fehlt diesen europäischen Gedanken, mindestens für die französische breite Öffentlichkeit, eben der Akzent, der romantische Hauch und vielleicht auch das Symbol, in dem […] sich dieses Europa konkretisiert. Wenn man heute die Leute fragt, ob sie europäisch sein wollen, dann sagen sie zwar, ja, ohne aber genau zu wissen, wie sich das in der Praxis darstellen soll.

Adenauer: Man kann Europa nicht bauen wie man ein Haus baut. Man bestellt soundso viel Beton, Sand, eiserne Träger usw., hat einen Plan und fängt an zu arbeiten. Europa, das ist eher wie ein Baum, der wächst, der eine Schicht nach der anderen ansetzt, der aber nicht konstruiert werden kann. Das gilt namentlich von den wirtschaftlichen und politischen Fragen. Die wirtschaftliche Seite hat allen Beteiligten einen großen Erfolg gebracht. Das ist ein Glück, denn sonst kämen wir nicht weiter. Bei den politischen Fragen stockt es etwas, da haben Sie Recht. Aber die politischen Fragen müssen auch in irgendeiner Weise reifen, das kann man nicht so machen. Was man aber immer, ständig tun muß: die kulturellen Verbindungen, die Verbindungen von Mensch zu Mensch, den Schüleraustausch usw. pflegen.

Botrot: Glauben Sie, Herr Bundeskanzler, daß man zu einem politischen Europa kommen kann über die Wirtschaft, auf wirtschaftlichen Wegen, oder glauben Sie, daß wirtschaftliche und politische Einigung parallel verfolgt werden müssen?

Adenauer: Ich glaube das erstere. Ich darf Sie daran erinnern, daß in Deutschland um 1830 der Deutsche Zollverein entstand, als Deutschland in eine Unmenge von kleineren und größeren Staaten zerfallen war, die alle selbständig waren. Da hat man über die Wirtschaft angefangen. Das Zollparlament (1868) beschäftigte sich nur damit, die Zölle zu beseitigen, und über die Wirtschaft kam auch das politische, das Zusammengehörigkeitsgefühl, die menschlichen Beziehungen, das nach meiner Ansicht aus dem Wirtschaftlichen erwächst.

Botrot: Wie kann man dazu gelangen?

Adenauer: Nun, man muß das Wirtschaftliche pflegen, man muß das Menschliche pflegen, dann kommt das andere mehr oder weniger von selbst. Jetzt sind, wie Sie wissen, noch Meinungsverschiedenheiten zwischen der französischen Regierung und den anderen Regierungen über Föderation und über Konföderation. Ich würde diese Meinungsverschiedenheiten jetzt gar nicht austragen. Wenn diese beiden anderen Quellen immer kräftiger sprudeln, dann wird das andere gar nicht mehr die Rolle spielen, dann kommen wir nach meiner Meinung doch eines Tages zu der Föderation. Vielleicht gibt es auch eines Tages eine Zwischenlösung zwischen Föderation und Konföderation, mit der dann alle zufrieden wären.

Botrot: Herr Bundeskanzler, ich habe diese Frage ja schon einmal an Sie gerichtet, ob Sie für die Föderation sind. Das letzte Mal haben Sie mir auf die Frage, ob Sie bereit wären, Deutschland an Europa zu geben, so wie die Franzosen bereit wären, Frankreich an Europa zu geben, geantwortet: Das unterschreibe ich Wort für Wort. Aber könnten Sie mir vielleicht trotz dieser gewissen Vorsicht und bei diesem guten Willen, oder unabhängig davon, vielleicht einige Ratschläge geben oder auf ein Verfahren hinweisen, wie man zu diesem Europa kommen kann, das sich vielleicht von dem unterscheidet, was man in Frankreich jetzt vorgeschlagen hat - was im Übrigen auch noch ziemlich vage ist nach den Auslegungen, die man mit den Reden General de Gaulles vornehmen kann.

Adenauer: Zuerst glaube ich, wenn es gelingt - und ich wünsche von Herzen, es möge gelingen -, die Algierfrage zu lösen, daß dann in Frankreich manche Sachen überhaupt mit einem ganz anderen Elan angepackt werden als jetzt. Nun kommt eins hinzu, das man Frankreich zugute halten muß. Frankreich ist seit Hunderten von Jahren ein zentralistischer Staat; Deutschland war immer ein föderalistischer Staat. Bei uns ist also der Begriff der Föderation etwas Natürliches und Selbstverständliches, wie den Amerikanern auch. Bei Ihnen ist das etwas zunächst Unbekanntes, und man muß den Franzosen auch die Zeit lassen, das verstehen zu lernen. Ein Gedanke, der mir gerade bei unserem Gespräch kommt, Herr Botrot: Die sechs Regierungen sollten mal eine Gruppe von drei oder vier oder fünf Rechtslehrern bestellen, die einmal einen Entwurf einer Föderation machen, und eine Gruppe, die einen Entwurf einer Konföderation macht. Dann kann sich nämlich die öffentliche Diskussion an bestimmten Vorschlägen entzünden; jetzt wird nur allgemein geredet.

Botrot: Es ist eine furchtbare Verwirrung der Begriffe, der Worte und der Terminologie, wenn man von Föderation spricht und von Konföderation und umgekehrt. Man spricht von der schweizerischen Konföderation, das ist aber eigentlich eine Föderation.

Adenauer: Ja, eine Föderation kann so sein, und eine Konföderation kann so sein und kann so sein. Eine fruchtbare und klärende Diskussion wäre sehr viel leichter, wenn der Öffentlichkeit einmal zwei Projekte vorlägen, die nicht Projekte der Regierung sein sollen, sondern die nur Basis sein sollen für die öffentliche Diskussion.

Botrot: Ohne Referendum?

Adenauer: Ja, ohne Referendum, mehr eine Diskussion, die aber diskret ist.

Botrot: Wie kann man das Volk [dafür] interessieren?

Adenauer: Lassen Sie mal die Juristen dran, die sollen mal schreiben, die Zeitungen schreiben darüber usw. Übrigens hat neulich Macmillan - und daran sehen Sie doch, wie der europäische Gedanke marschiert - erklärt, sie hätten zwei Vaterländer, Großbritannien und Europa. Ein Engländer sagt das!

Botrot: Man kann bloß manchmal fürchten, daß man von den Ereignissen etwas überholt wird und daß dann ein Europa aus Notwendigkeit oder aus Furcht zusammengeschustert wird, während man, wenn man die organische Bewegung etwas vorantreibt, vielleicht schwerer zu einer guten Lösung kommt. Ich bin z. B. sicher, daß Sie, Herr Bundeskanzler, dieses Europa noch entstehen sehen wollen, solange Sie Bundeskanzler sind.

Adenauer: Liebend gern, natürlich. Aber zurzeit fehlt es an einer Grundlage zu einer öffentlichen Diskussion, und ich meine wirklich, man sollte die einmal schaffen. Sie sprachen eben von einer Volksabstimmung. Gut. Worüber sollte das Volk denn abstimmen? Was wollen Sie dem Volke sagen? Das Volk weiß zur Zeit weder, was Föderation ist, noch weiß es, was Konföderation ist.

Botrot: Ich habe neulich mit Herrn van der Goes van Naters gesprochen, der Ihnen, Herr Bundeskanzler, seine Grüße ausrichten läßt. Der sagte, daß ein Referendum, eine Volksabstimmung, sehr gefährlich sei.

Adenauer: Wie geht es ihm?

Botrot: Es geht ihm sehr gut. Ich soll Ihnen im Übrigen auch noch herzliche Grüße bestellen von Herrn Paul Reynaud, der mit seinen Ansichten gar nicht sehr weit von Ihnen entfernt ist.

Adenauer: Reynaud ist einer der klügsten Politiker, die Sie in Frankreich haben, abgeklärt, sehr sachlich.

Botrot: Herr Bundeskanzler, könnten Sie sich bei diesem Traum, von dem wir gesprochen haben, ein großes europäisches Parlament vorstellen, im Verhältnis zu dem die nationalen Parlamente nichts anderes wären, als was Sie in Deutschland als Länderparlamente haben, als Landtage, und dazu eine europäische Regierung, die selbstverantwortlich wäre und ihre eigenen Entscheidungen treffen könnte in großen Fragen?

Adenauer: Noch nicht. Das muß auch langsam wachsen. - Aber lassen Sie mich noch einmal auf den Gedanken eines Ausschreibens oder Auftrages an Völkerrechtslehrer zurückkommen, eine Studie zu machen über Föderation oder Konföderation. Wenn ich in dem europäischen Parlament wäre, würde ich beantragen, daß von dem Parlament Leute beauftragt werden, damit man mal die Diskussion auf einen festen Boden bekommt.

Botrot: Aber wenn der Europarat etwas sagt, dann hört man nicht auf ihn.

Adenauer: Ach, das weiß ich nicht. Das sagt ja nicht der Europarat, das sagen ja dann angesehene Völkerrechtslehrer.

Botrot: Beabsichtigen Sie, irgendwelche präzisen Vorschläge bei der kommenden Sitzung der Regierungschefs in Paris vorzutragen?

Adenauer: Das habe ich mir gerade überlegt, ob ich das tun soll. Ich werde mir das überlegen. Mir kam derselbe Gedanke während unserer Unterhaltung.

Botrot: Aber bis das dann mal soweit ist, Herr Bundeskanzler, was würden Sie unternehmen auf dem Gebiet der menschlichen Kontakte usw., vielleicht außerhalb der üblichen Dinge, Austausch von Studenten, Fremdenverkehr usw.?

Adenauer: Was jetzt zwischen Frankreich und Deutschland in diesen menschlichen Dingen geschieht, ist schon sehr viel. Daß deutsche Soldaten in Frankreich ihre Übungen haben machen können, das ist doch ein Beweis eines ganz großen Fortschritts des Gedankens der Gemeinsamkeit und des Zusammengehörens.

Botrot: Herr Bundeskanzler, haben Sie im Augenblick besondere, präzise Sorgen, etwa über Berlin?

Adenauer: Nein, ich glaube nicht, daß von Rußland irgend etwas geschehen wird, ehe der Präsident Kennedy in seinem Amte ist.

Botrot: Aber Sie hoffen, Herr Bundeskanzler, da Sie ja einer der Hauptverteidiger oder der Vorkämpfer Europas waren, dieses Europa noch voranzubringen in der Zeit, in der Sie Bundeskanzler sind.

Adenauer: Das hoffe ich sehr! Man darf seinen Mut nicht sinken lassen. Oft kommt eine Sache auch wieder auf, plötzlich geht sie wieder ein Stück weiter. Da muß man nur sehr konsequent sein, und die Öffentlichkeit muß man lebendig halten.

Botrot: Man spricht ja manchmal von einem Mißverständnis zwischen Frankreich und Deutschland. Ich kann mir dieses Mißverständnis eigentlich gar nicht vorstellen. Ich sehe es nicht, es sei denn, daß vielleicht manchmal von der einen Seite etwas harte Worte fallen und daß man auf der anderen, nämlich auf der deutschen Seite, solide auf der Grundlage der alten Gedanken steht.

Adenauer: Ich habe mit Herrn Debré, als er neulich hier war, in voller Offenheit gesprochen, Herr Debré mit mir auch, und ich glaube, im Großen und Ganzen waren wir derselben Meinung.

Botrot: Sie wünschen im Grunde doch, Herr Bundeskanzler, daß man das Wort „Europa der Vaterländer“ fallenläßt, das im Übrigen nicht von Herrn de Gaulle, sondern von Herrn Debré stammt?

Adenauer: Wenn einer Freude daran hat - auf Worte kommt es ja nicht an, sondern es kommt auf die Institution an. Nur wenn „Europa der Vaterländer“ bedeuten soll, daß nur ein Bündnisvertrag abgeschlossen werden soll, dann bin ich nicht dafür. Aber ich habe die Hoffnung, daß die Menschheit doch etwas lernt durch alles, was sie erlebt hat, und daß auch die Europäer einsehen werden, daß sie fest zusammengeschweißt werden müssen.

Botrot: Ich darf Sie versichern, Herr Bundeskanzler, daß ich zu den großen Befürwortern der europäischen Idee gehöre.

Adenauer: Ich danke Ihnen dafür, daß Sie gekommen sind, und bitte um Entschuldigung, daß ich mich vor einiger Zeit nicht mehr darauf einrichten konnte; da kam mir die Nachricht zu spät, daß Sie kommen wollten. […]

 

Quelle: StBKAH I/02.22, abgedruckt in: Adenauer Teegespräche 1959–1961 (Rhöndorfer Ausgabe). Hg. von Rudolf Morsey und Hans-Peter Schwarz. Bearb. von Hanns Jürgen Küsters. Berlin 1988, S. 387-391.