25. April 1963

Der deutsch-französische Vertrag

Zur Vorgeschichte - Die drei Teile des Abkommens - Ohne Geheimklauseln

Die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland, seit langer Zeit tief verstört, durch die beiden Weltkriege in Haß und Feindschaft verwandelt, haben sich seit dem Beginn der Bundesrepublik zum Besseren gekehrt. Die Völker begannen zu erkennen, daß Haß und Streit, Mißgunst und Feindschaft nicht Gutes schaffen und die Welt nicht verbessern können. Beide Völker fühlten sich beim Ausgang des Krieges einer unerhörten, bis jetzt noch nie dagewesenen Bedrohung ausgesetzt. Sie rückten innerlich zusammen und verspürten, daß viele Kulturwerte und Lebensformen ihnen gemeinsam sind. Behutsam konnten die Politiker darangehen, neue Verbindungen anzuknüpfen. Robert Schuman schrieb im Mai 1950 an Bundeskanzler Dr. Adenauer, man wolle eine Gemeinschaft für Kohle und Stahl gründen, d. h. diese beiden Grundstoffe sollten der nationalen Verfügbarkeit entzogen und einem übernationalen Gremium unterstellt werden. Die Begründung war, daß in aller Zukunft ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland unmöglich sein sollte. Die Montan-Union wurde ein Erfolg; die sechs teilnehmenden Länder erfreuen sich nach der wirtschaftlichen und sozialen Seite ihrer wohltätigen Wirkungen.

Bei Kohle und Stahl konnte es nicht bleiben, und so gründete man die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die in wenigen Jahren die Wirtschaft der sechs Länder an Umfang und Produktionskapazität bedeutend erweiterte. Die Interessen verwoben sich immer enger. Franzosen und Deutsche erkannten, daß gemeinsame Bemühungen und vertrauensvolle Zusammenarbeit für jeden von ihnen Früchte tragen. Im Jahre 1955 einigte man sich über die schwierige Frage des Saargebietes, und damit war das letzte territoriale Problem gelöst, das noch zwischen Frankreich und Deutschland hätte Unfrieden stiften können.

 

Staatsbesuche

Unter den verschiedenen Regierungen der IV. Republik gestalteten sich die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland immer besser. Präsident de Gaulle hat es in seiner berühmt gewordenen Rede am 8. Juni 1962 in Reims gesagt: der Initiator der deutsch-französischen Versöhnung war Bundeskanzler Dr. Adenauer, und er war es auch, der durch wiederholte Besuche in Frankreich und Besprechungen mit den französischen Politikern das Vertrauen vertiefte und das in Frankreich vielleicht noch vorhandene Mißtrauen gegen den jungen demokratischen deutschen Staat mehr und mehr zerstreute. Als General de Gaulle am 13. Mai 1958 zur Leitung der Geschicke Frankreichs berufen wurde, nahm er bald mit dem Bundeskanzler Kontakt auf. Die beiden Männer lernten sich mehr und mehr kennen und schätzen. Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung durch die verschiedenen Staatsbesuche. Im Juni 1961 sagte Präsident de Gaulle im Elysée-Palast vor Bundespräsident Dr. Lübke: „Niemandem kann die ungeheure Bedeutung Ihres Besuches in Frankreich entgehen. Politisch gesprochen trägt dieses Ereignis, angesichts der Vergangenheit unter Berücksichtigung der Gegenwart und im Hinblick auf die Zukunft ohne jeden Zweifel historischen Charakter. Mit einem gewissen Schwindelgefühl ermißt man nämlich bei dieser Gelegenheit den Abstand, der hinsichtlich der engen Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern das, was lange Zeit gewesen ist, von dem, was heute ist, trennt." Es folgte der Staatsbesuch des Bundeskanzlers in Frankreich im Juni 1962, bei dem Frankreich Wert darauf legte, den deutschen Gast mit dem vielfältigen Glanz und den Ehrungen des französischen Staatsprotokolls zu umgeben, mit dem es seinen liebsten Gästen sein Wohlwollen zeigen will. Es kam der Staatsbesuch des Präsidenten de Gaulle in der Bundesrepublik, der ein Triumphzug für das französische Staatsoberhaupt wurde. An der Begeisterung der Menschen, an ihren jubelnden Zurufen konnte man ihre Erleichterung über die endlich zustande gekommene deutsch-französische Versöhnung ermessen. Bei diesen Staatsbesuchen wurden die schwebenden politischen Fragen besprochen.

 

Auf dem Wege zu einem Vereinigten Europa

Kurz nach der Rückkehr des Präsidenten de Gaulle nach Frankreich richtete die französische Regierung ein Memorandum an die Bundesregierung. Darin waren Vorschläge enthalten, die sich auf den Ausbau der Beziehungen zwischen den beiden Ländern bezogen. Die Bundesregierung erwiderte mit einem ähnlichen Schriftstück am 8. November. Man ging dabei von der Voraussetzung aus, daß die Zusammenarbeit nicht von politischen Zufällen, etwa von der Neubildung der Regierung oder der Auflösung der Parlamente, abhängig sein soll. Die deutsche Antwort war mit allen interessierten Ministerien abgesprochen. Sie erstrebte eine Ausdehnung der Zusammenarbeit und eine Vertiefung des bisher in dieser Hinsicht Geschehenen für alle Lebensbereiche. Man beschloß, auf Grund dieser Memoranden und des sich an sie anknüpfenden Gedankenaustausches ein Abkommen auszuarbeiten, das die Zusammenarbeit für die Zukunft fixieren sollte. Eine gemischte Kommission von Fachleuten unternahm diese Aufgabe. Bei dem Besuch des Bundeskanzlers und einiger anderer Mitglieder der Bundesregierung in Paris am 20. bis 23. Januar wurde das Abkommen, aus dem inzwischen ein Vertrag geworden war, unterzeichnet. Dieser Vertrag ist gegen niemand gerichtet. Er soll vielmehr, wie es in der ihm voraufgeschickten gemeinsamen Erklärung des Präsidenten de Gaulle und des Bundeskanzlers heißt, die Erkenntnis verbreiten, daß die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern einen unerläßlichen Schritt auf dem Wege zu dem vereinigten Europa bedeutet, welches das Ziel beider Völker ist.

 

In der Hauptsache Konsultationsvertrag

Der Text zeigt, daß es sich in der Hauptsache um einen Konsultationsvertrag handelt. Er legt fest, daß die Staats- und Regierungschefs je nach Erfordernis zu Beratungen zusammenkommen, mindestens zweimal jährlich. Die Außenminister sollen mindestens alle drei Monate zusammentreffen. Die leitenden Beamten des Außenministeriums sollen sich alle Monate sehen, um den Stand der vorliegenden Fragen festzustellen und die Zusammenkunft der Minister vorzubereiten. Auf allen Gebieten, handelt es sich um Konsultation, Austausch von Ansichten und Erfahrungen und um gemeinsame Prüfung. Keines der beiden Länder ist gezwungen, die Meinung oder das Gutachten des anderen abzunehmen. Jedes Land bleibt frei in seinen Entscheidungen und Entschlüssen. Das Abkommen hat einen außenpolitischen, einen militärpolitischen und einen kulturpolitischen Teil. Außenpolitisch verpflichten sich die beiden Regierungen zur ständigen Konsultation vor jeder Entscheidung in allen wichtigen Fragen und in erster Linie in den Fragen von gemeinsamem Interesse, um soweit wie möglich zu einer gleichgerichteten Handlung zu gelangen. Militärpolitisch ist an eine engere Zusammenarbeit auf strategisch-wissenschaftlichem Gebiet und auf dem Gebiet gemeinsamer Rüstungsproduktion gedacht. Auf kulturpolitischem Gebiet soll der Austausch von Wissenschaftlern, Studenten und Schülern auf beiden Seiten verstärkt werden, ebenso der Unterricht in der Sprache des anderen Landes in den Schulen. Die Distanzierung des Präsidenten de Gaulle zum amerikanischen Polaris-Angebot und seine vorläufige Ablehnung des EWG-Beitritts Großbritanniens sind zwei Fragenkreise, in denen die Regierung Frankreichs und die Bundesrepublik nicht übereinstimmen. In diesen Fragen ist die deutsche Politik seit der Presseerklärung des Präsidenten de Gaulle vom 14. Januar völlig unverändert geblieben. Sie bleibt es auch trotz der nun vertraglich festgelegten engeren Zusammenarbeit mit Frankreich. Die beiden Probleme bilden nach einer Äußerung des Bundeskanzlers die erste Gelegenheit zu der im Vertrag vorgesehenen außenpolitischen Konsultation, die nach Möglichkeit zu einer gleichgerichteten Haltung führen soll.

 

Unberechtigte Bedenken

Durch die Presseerklärung des Präsidenten de Gaulle und durch die negative Haltung Frankreichs zu Englands EWG-Eintritt ist der Vertrag zu Unrecht in den Ruf gekommen, als wollten Frankreich und Deutschland sich gegenüber den übrigen Ländern der freien Welt abkapseln oder als Achse Paris-Bonn eine Sonderrolle spielen. Diese Bedenken sind völlig unberechtigt, zumal es bei diesem Vertrag keine Geheimklauseln gibt. Die übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft sowie die NATO-Partner sind sofort nach Abschluß des Vertrags über seinen Inhalt unterrichtet worden. In deutschen politischen Kreisen ist gleichwohl angesichts der unerwarteten Beunruhigung, welche der Vertrag ausgelöst hat, das Bestreben sichtbar geworden, ihn mit einer Erklärung zu begleiten, nach welcher die Verbindlichkeiten der Bundesrepublik gegenüber der NATO und den Europäischen Gemeinschaften durch den Vertrag nicht berührt oder eingeschränkt werden. Der Text selbst kann nicht geändert werden, weil sonst eine neue Beratung zwischen den Regierungen und eine neue parlamentarische Prozedur notwendig würde. Der Bundesrat hat nämlich am 1. März zu dem Vertrag Stellung genommen. Bei der Debatte im Bundesrat erklärte Bundeskanzler Dr. Adenauer: „Dieser Vertrag beeinträchtigt keine Verpflichtung und kein Recht aus irgendeinem anderen Vertrag, den wir geschlossen haben, weder EWG noch NATO - nichts dergleichen, meine Herren! Der beste Beweis dafür mag Ihnen sein, daß ich, als wir vor fünf Wochen in Paris waren, mit Herrn de Gaulle sehr freimütig unsere verschiedenen Auffassungen wegen der multilateralen nuklearen Atommacht besprochen und gesagt habe, wir seien entschlossen, mit ganzer Kraft dafür einzutreten, während er sie ja ablehnt. Ebenso, meine Damen und Herren, habe ich in vollem Freimut mit ihm auch über den Beitritt Englands zur EWG gesprochen ... Bewußt und gewollt haben wir nicht etwa einen Vertrag zwischen zwei Regierungen abschließen wollen; bewußt und gewollt haben wir beileibe nicht etwa einen Vertrag zwischen den alten Männern de Gaulle und Adenauer abschließen wollen. Nein, meine Herren, wir wollten einen Vertrag von Volk zu Volk abgeschlossen sehen." Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Brandt, wies auf die Notwendigkeit eines guten Verhältnisses zu Amerika und des Beitritts Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hin. Er sagte, der Vertrag werde zu einem Zeitpunkt geschlossen, wo es in ganz entscheidenden Fragen der europäischen Politik, der internationalen Politik und der Verteidigungspolitik gegensätzliche, jedenfalls nicht übereinstimmende Auffassungen in Bonn und Paris gäbe.

Nach eingehender Aussprache nahm der Bundesrat folgende Stellungnahme zum Ratifizierungsgesetz über den Vertrag an: „Der Bundesrat begrüßt den deutsch-französischen Vertrag über die politische Zusammenarbeit. Er sieht in ihm den Ausdruck der Versöhnung und der Freundschaft zwischen dem deutschen und dem französischen Volk. Der Bundesrat ersucht die Bundesregierung, darauf hinzuwirken, daß durch die Anwendung dieses Vertrags die großen Ziele gefördert werden, die die Bundesrepublik Deutschland in Gemeinschaft mit den anderen ihr verbundenen Staaten seit Jahren anstrebt und die ihre Politik bestimmen."

 

Um die Präambel

Der sozialdemokratische Pressedienst setzte sich mit der SPD-Fraktion des Bundestags für eine Vertagung der ersten Lesung des Ratifizierungsgesetzes ein. Der Bundestag müsse zunächst einmal klären, inwieweit die von Bonn und Paris sicher gleichermaßen gut gemeinten Absichten bei Abschluß des Vertrages gegenseitig rechtlich verbindlich gemacht und in den Rahmen der übrigen internationalen Vertragsverpflichtungen gestellt werden könnten. Der deutsch-französische Sondervertrag müsse so gewissenhaft geprüft werden, daß er nicht die Vertrauensbasis schmälere, auf der sowohl die europäische wie auch die atlantische Gemeinschaft mühsam aufgebaut worden seien. Demgegenüber erklärte der Deutschland-Union-Dienst, die CDU/CSU werde sich für die erste Lesung des Ratifizierungsgesetzes in dieser Woche einsetzen, nachdem die von mancher Seite geäußerten Bedenken durch den Vorschlag einer Präambel zum Vertragswerk beseitigt worden seien. Die Bundesregierung ist mit einer Präambel zum Ratifizierungsgesetz, welche die in der Stellungnahme des Bundesrats geäußerten Gedanken zum Ausdruck bringt, einverstanden.

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 73 vom 25. April 1963, S. 647f.