25. Dezember 1960

Weihnachtsansprache über alle deutschen Rundfunksender

Wieder ist Weihnachten gekommen. Wie dankbar müssen wir gerade in unserer bewegten Zeit es empfinden, dass die großen christlichen Feste seit vielen Jahrhunderten Jahr für Jahr die Christenheit hinweisen auf die großen Ereignisse im Leben des Erlösers, hinweisen auf die Werte des christlichen Glaubens.

Das Weihnachtsfest ruft in uns die Erinnerung wach an so manches schöne Weihnachtsfest, das wir schon gefeiert haben, zuerst als Kinder mit unseren Eltern, dann als Eltern mit unseren Kindern. Auch jene Jahre waren oft nicht frei von Sorgen. Ich denke an das Weihnachtsfest unter nationalsozialistischem Druck, an die Weihnachten im Kriege und in den Nachkriegsjahren, da kein Krieg, aber auch kein Friede war. In den letzten Jahren wurde das Weihnachtsfest immer wieder, und von Jahr zu Jahr mehr, überschattet von dem dunklen Gewölk, das sich infolge der außenpolitischen Spannungen über der ganzen Erde zusammenzog. Nun begehen wir Weihnachten 1960. Die außenpolitischen Wolken sind in dem zu Ende gehenden Jahre 1960 noch dunkler und schwärzer geworden. Aber wir wollen auch daran denken, dass das Jahr 1960 zu Ende geht, ohne dass es zu schweren Entladungen gekommen ist. Dafür wollen wir an diesem Weihnachtsfest vor allem Gott danken. Wir wollen auch in Zukunft auf Ihn vertrauen, dass Er uns und allen, die den Frieden lieben und für ihn arbeiten, seine Hilfe gewähren wird.

Die Weihnachtstage sollen besinnliche Tage für uns sein. Der Alltag lässt uns wenig Zeit zur Einkehr bei uns selbst. Wir leben in einer Epoche des Überganges. Zeiten des Übergangs brauchen nicht Zeiten des Niedergangs zu sein. Damit Zeiten des Übergangs nicht Zeiten des Niedergangs werden, muss man sich darüber klar werden, was das Wesentliche unserer Epoche ist, was die Zeit von uns verlangt.

Der kommunistische Atheismus will sich den Teil der Welt, der gegründet ist auf den christlichen Überzeugungen, unterwerfen. Diese sich in den verschiedensten Formen vollziehenden Auseinandersetzungen drücken unserer Epoche den Stempel auf. Was der Sieg des atheistischen Kommunismus bedeuten würde? Nun, diese Frage kann man nur beantworten, wenn man sich darüber klar wird, was das Christentum in den zweitausend Jahren seines Bestehens der Menschheit geschenkt hat. Unsere ganze abendländische Geisteshaltung beruht letzten Endes auf christlichen Grundwahrheiten. Das Christentum war es, das die philosophischen Schriften der Antike, insbesondere der Griechen, durch die Jahrhunderte des Zerfalles der damals bestehenden Ordnungen und der Völkerwanderung hindurch gerettet hat. Das Christentum war es, das diese philosophischen Erkenntnisse der Alten im Mittelalter durch Männer wie Thomas von Aquin und Albertus Magnus weiter entwickelt hat. Zu Beginn der Neuzeit hat der Humanismus diese philosophischen Grundwahrheiten seiner Zeit entsprechend ausgebaut. Auf diesen Fundamenten steht die ganze Geisteshaltung des Abendlandes auch heute. Die Menschenrechte, die in der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 genehmigt und verkündigt worden sind, sind aus der christlichen humanistischen Weltanschauung entwickelt. Zu ihnen gehören die Rechte auf persönliche Freiheit, auf die Würde der Person, eine demokratische Staatsform, die diesen Namen zu Recht trägt. Diese christlich-humanistische Weltanschauung ist unvereinbar mit der kommunistischen Diktatur. Überall, wo die kommunistische Diktatur herrscht, sucht sie das Christentum, das ihr stärkster, ihr gefährlichster Widersacher und Gegner ist, auszurotten. Was sich auf deutschem Boden unmittelbar vor unseren Augen in Mitteldeutschland seit Jahr und Tag ereignet, beweist klar und deutlich, was der Kommunismus will: Rücksichtslose Diktatur, Vernichtung der persönlichen Freiheit und aller demokratischen Einrichtungen. Dort sehen wir auch, dass der Kommunismus die christlichen Kirchen als seine Hauptgegner bei diesem Kampfe betrachtet und daher bestrebt ist, sie zu unterdrücken und rücksichtslos zu vernichten.

Ich glaube, dass mancher, der mich jetzt hört, fragt, warum denn an Weihnachten, am Feste des Friedens, eine solche ernste Rede? Um des Friedens willen spreche ich so zu Ihnen. Ich möchte am Feste des Friedens, am Feste der christlichen Weihnacht alle daran erinnern dass wir gerade in diesen Tagen einmal wieder zurückfinden müssen zu uns selbst, dass wir uns klar werden sollen, welch große, unersetzlichen Güter Frieden und Freiheit sind, dass sie aus der Lehre stammen, die uns unser Erlöser geschenkt hat. Nachdenken über diese Werte, über die kommunistische Lehre, die sie bekämpft. Nachdenken über das, was in der Zone vor sich geht, wird uns dankbar machen dafür, dass uns diese Werte erhalten geblieben sind, wird aber auch unsere Herzen öffnen für die Not unserer deutschen Brüder und Schwestern jenseits des eisernen Vorhanges, die die Freiheit nicht mehr kennen, die ihre ganze Hoffnung auf uns setzen. Eine solche Stunde stillen Nachdenkens wird uns auch daran erinnern, dass wir alles tun müssen, was wir können, für Berlin, damit nicht wiederum zweieinhalb Millionen Deutscher der Freiheit beraubt werden.

Weihnachten ist auch das Fest der deutschen Familie. Die Familienbande haben sich bei uns infolge Krieg und Nachkriegszeit gelockert. An der Krippe und am Christbaum sollen sie von neuem gefestigt werden. Die Engel haben in der Weihnachtsnacht den Hirten verkündet, Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind. Frieden wollen wir heute allen wünschen: Den Deutschen in der Heimat und den Deutschen, die nicht mehr in der Heimat weilen, wir gedenken ihrer, sie gedenken unser. Frieden wollen wir allen Menschen wünschen, die guten Willens sind.

 

Quelle: Konrad Adenauer: Nachdenken über die Werte. Weihnachtsansprachen. Buxheim/Allgäu o .J. (1976).