25. Februar 1960

Taten wiegen mehr als Worte

Das Selbstbestimmungsrecht muß für die Mitte Europas ebenso gelten wie für jeden Teil von Afrika

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Gegenwärtig, da wir wieder im Vorfeld großer internationaler Konferenzen stehen, macht sich ein gefährliches Modewort breit: Entspannung. Selbstverständlich wünschen wir sie uns, doch haben wir leider sehr ernste Gründe für unsere Zweifel, ob dieses Wort in jedem Falle einem ehrlichen Willen entspringt. So benutzt beispielsweise Sowjetrußland das Wort Entspannung zu einer ungewöhnlichen Propaganda. Das ist auf Grund unserer Erfahrung verdächtig, solange es bei schönen, aber unverbindlichen, vielleicht sogar täuschenden Sprüchen bleibt. Moskau wird es sicher schon als Erfolg verbuchen, wenn innerhalb der freien Völker hier und da vermerkt wird, Ministerpräsident Chruschtschew müsse doch wohl guten Willens sein, da er die Entspannung auffallend häufig als sein Ziel preise. Nun, eine einzige Friedenstat würde Chruschtschew erheblich mehr Glaubwürdigkeit einbringen als tausend wohltönende Worte. Wer kann es denn als besonders gelungenes Zeichen des angeblichen Willens zur Völkerverständigung betrachten, wenn Moskau plötzlich Raketen in den Pazifischen Ozean schickt?

Gewiß gehören solche Überraschungen zu den Methoden der sowjetischen Politik, doch spricht nichts dafür, daß wir uns damit abfinden. Jedes freie Volk begeht einen lebensgefährlichen Selbstbetrug, sobald es darüber hinwegsieht. Der Westen muß sehr wachsam bleiben. Niemand sollte so leichtgläubig sein, von den Sowjetrussen schon während der nächsten Konferenz jene Großzügigkeit zu erwarten, die konkrete Grundlagen für Frieden und Freiheit im gesamten Erdenrund schafft. Es ist furchtbar, doch müssen wir uns nach wie vor darauf einstellen, daß die gegenwärtige Ruhe kein ethisches Fundament hat, auf das man sich verlassen könnte. Bevor nichts Handfestes ausgehandelt ist, leben wir nur in einem friedensähnlichen Zustand unter der Herrschaft des Schreckens und der Furcht und müssen Versprechungen gegenüber äußerst vorsichtig sein.

 

Vor allem kontrollierte Abrüstung

Um die gröbsten Spannungsmomente möglichst umfassend zu mildern, wird es nach meiner Ansicht gut sein, auf der nächsten West-Ost-Gipfelkonferenz und während der weiteren internationalen Besprechungen vor allem die kontrollierte Abrüstung der nuklearen wie auch der konventionellen Waffen zu erstreben. In dieser Hinsicht vorwärts zu kommen, kann nicht nur Wissenschaftlern überlassen bleiben. Die entscheidende Verantwortung ist den Politikern nicht abzunehmen. Sobald mit der Abrüstung wenigstens einmal praktisch angefangen wird, kann sie bei allseits gutem Willen weiterlaufen, ohne daß sie vorher in perfektionistischer Weise vorbereitet wird.

Das Mißtrauen der Deutschen gegenüber Moskau hat leider gut belegbare Gründe. Wer etwas von Menschenrechten hält, der hat Verständnis dafür, daß die 17 Millionen Deutschen in der Sowjetzone in der Zubilligung des Selbstbestimmungsrechts durch Moskau eine Mindestforderung sehen. Herr Chruschtschew hat am 30. Dezember 1955 vor dem Obersten Sowjet gesagt, jedes Volk habe das Recht, sein Leben nach eigenem Wunsch aufzubauen. Nicht weniger präzise war seine am 1. Dezember vorigen Jahres ausgerechnet in Budapest abgegebene Erklärung, daß jedes Volk selbst nicht nur das Regime, sondern auch das soziale System wählen dürfe, unter denen es leben wolle. Wenn Herr Chruschtschew immer wieder erklärt, dies sei sein Prinzip, und es spiegele auch den Willen der Sowjetunion, dann muß es doch für die Mitte Europas ebenso gelten wie für jeden Teil von Afrika.

 

Friede ohne Ausnahme

Mit den Friedensbeteuerungen Chruschtschews ist es in unseren Augen so lange schlecht bestellt, als er Deutschland gegenüber erhebliche Einschränkungen macht. Ein wirklicher Weltfriede läßt keine Ausnahmen zu. Wir können unmöglich darüber hinwegsehen, daß Herr Chruschtschew zum österreichischen Staatspräsidenten bei der Zusammenkunft in Moskau sagte, er könne es nicht dulden, daß Berlin und die Bundesrepublik Deutschland ein anderes politisches System hätten als die Sowjetzone. Dort herrscht immerhin der Kommunismus nach den Weisungen Moskaus. Erst kürzlich hat Herr Chruschtschew diese Haltung gegenüber dem italienischen Staatspräsidenten Gronchi bekräftigt.

Wenn der Westen trotz allem einen dauerhaften Frieden im Zeichen der Freiheit für alle Völker erreichen will, dann muß er sich ebenso geduldig wie bestimmt verhalten. Wir müssen davon ausgehen, daß auf keiner der kommenden Konferenzen alle Probleme mit einem Male gelöst werden können. Die Sache ist zu wichtig und zu entscheidend für die Zukunft der Welt, als daß man nicht das äußerste an Geduld aufbringen müßte. Allerdings muß vermieden werden, daß die Geduld des Westens wie Schwäche aussieht. Bis die kontrollierte Abrüstung erreicht ist, muß der freie Westen mindestens so stark wie Sowjetrußland bleiben, sonst kommen wir nie dazu, daß die Furcht verschwindet und der wahre Friede in der Welt wieder einzieht.

 

Die Gefahr eines Wirtschaftskrieges

Bei aller Konzentration auf die eben angedeuteten Aufgaben darf der Westen auf keinen Fall über die Gefahr eines Wirtschaftskrieges weltweiten Ausmaßes hinwegsehen. Die Sowjetunion kann eine gefährliche Wirtschaftsmacht werden. Eine Diktatur kann den in ihr lebenden Menschen vieles vorenthalten, was ihnen eigentlich zukommt, um sich darauf zu konzentrieren, gewisse Erzeugnisse billig auf den Weltmarkt zu werfen und so das wirtschaftliche Gefüge anderer Länder schwer zu erschüttern. Damit würde die Sowjetunion Gelegenheiten entwickeln, den Kommunismus auszubreiten.

Die freien Völker können sich nur durch engen Zusammenschluß dagegen wehren. Die atlantische Wirtschaftsgemeinschaft, die die USA und Kanada mit den europäischen Länden noch enger als bisher verbindet, bietet wahrscheinlich die aussichtsreichste Möglichkeit, einen möglichen Wirtschaftskrieg mit den Sowjets zu bestehen. Wenn wir von den Sowjets Friedenstaten statt nur schöner Worte fordern, dann müssen wir in der freien Welt die Chancen durch energisches gemeinsames Handeln zu fördern suchen.

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 38 vom 25. Februar 1960, S. 373f.