25. Mai 1954

Von Hamburg nach Köln

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Jeder Parteitag der CDU hat sein eigenes Gesicht gehabt. Das wird auch in Köln so sein, in der Stadt, mit der mich persönlich jahrzehntelange Arbeit eng verbindet. Auch für die CDU hat diese Stadt besondere Bedeutung. Im Raum von Köln, wie in Berlin, haben die ersten grundlegenden Gespräche stattgefunden, die zur Gründung der CDU führten.

Im vorigen Jahr, als die CDU ihren Parteitag in Hamburg abhielt, standen die Bundestagswahlen bevor. Es galt daher noch einmal alle Kräfte zusammenzufassen, bevor zu der Entscheidung angetreten wurde, von der die Entwicklung der Bundesrepublik in weiteren vier Jahren abhing. Wir haben damals in Hamburg ein Programm beschlossen, das der deutschen Öffentlichkeit die tragenden Grundsätze und großen Ziele der CDU zeigen sollte. Am 5. September hat sich eine überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes zu der Politik bekannt, die in diesem Programm wie in der ganzen Arbeit der CDU zum Ausdruck kommt. Unmittelbar nach dem großen Wahlerfolg haben wir erklärt, dass dieser Erfolg eine Verpflichtung bedeute, zugleich eine Mahnung, auch weiterhin eine Politik des Maßhaltens, der Beharrlichkeit und der Gradlinigkeit zu verfolgen.

Inzwischen ist die Entwicklung innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik nicht stehengeblieben. Vieles ist in Fluss geraten und noch nicht abgeklärt. Die politische Tagesarbeit stellt uns daher manches Mal vor rasche und doch einschneidende Entscheidungen. Um so notwendiger ist es, in diesem oft sich fast überstürzenden Ablauf der Geschehnisse und des Andrangs der Probleme innezuhalten und sich über die Elemente klarzuwerden, auf denen unser Wollen beruht. Dies ist die eigentliche Aufgabe des Parteitages in Köln. Die Auswahl der Themen für die Hauptreferate macht dies deutlich genug.

Die CDU hat es dabei schwerer als andere Parteien. Auf ihr ruht die Hauptlast der Verantwortung für die Regierungsarbeit. Keine Regierung kann alle Wünsche der Staatsbürger erfüllen. Sich an Kritik zu beteiligen und Opposition zu sein ist immer einfacher und mag manchem populärer erscheinen, als sich zur Verantwortung zu bekennen. Die CDU wird sich deshalb in Köln auch darauf zu besinnen haben, dass sie unerschüttert durch alle Anfechtungen den einmal als richtig erkannten Weg weitergehen muss.

Gerade die Stetigkeit und Beständigkeit, mit der wir Jahr für Jahr unsere Politik betrieben haben, hat zu unseren Erfolgen wesentlich beigetragen und das Vertrauen des In- und Auslandes zur CDU mehr und mehr gefestigt. Dieses Vertrauen ist ein Kapital, das, gut eingesetzt, weitere Früchte tragen kann.

 

Intensivierung der Arbeit

Dazu gehört die Verwirklichung einer Anzahl großer Aufgaben in der Zukunft. In den ersten Jahren nach Errichtung der Bundesrepublik musste zunächst häufig improvisiert und unter unzulänglichen Voraussetzungen eine Anzahl von Maßnahmen durchgeführt werden, die das Zusammenleben in einem neuen Staatsleben überhaupt erst einmal ordneten. Diese Periode des Anlaufs ist im großen und ganzen abgeschlossen. Jetzt gilt es, das Haus der Bundesrepublik auszubauen. Der Staatsgedanke muss weiter mit Inhalt und Leben erfüllt werden. Wir dürfen nie vergessen, dass unsere Arbeit nur halb getan ist, wenn es nicht gelingt, in den Bürgern des Staates und insbesondere in der Jugend ein enges Verhältnis zum Staat und zu den öffentlichen Angelegenheiten zu wecken und zu stärken. Deshalb muss unsere Arbeit draußen im Lande sowohl in die Tiefe wie in die Breite gehen und nach Kräften intensiviert werden. Das ist eine staatspolitische Aufgabe.

Wir als CDU fühlen uns zu ihrer Lösung besonders berufen, weil wir unser öffentliches Wirken auf die Grundlage des Christentums gestellt haben. Unser Bemühen, aus christlicher Verantwortung heraus das öffentliche Leben zu gestalten, kann von Schlagworten wie Klerikalismus und Konfessionalismus gar nicht angerührt werden. Die CDU ist ins Leben getreten im Zeichen der Überbrückung konfessioneller Gegensätze. Sie hat Jahre hindurch die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit der Zusammenarbeit der Konfessionen bewiesen. Sie muss und wird diese Zusammenarbeit unbeirrt auch in Zukunft dem deutschen Volke vorleben. Der Parteitag in Köln wird diese Entschlossenheit bekräftigen.

 

Das soziale Postulat

Von dieser christlichen Grundhaltung aus erhält die soziale Frage besonderes Gewicht. Wir betrachten die Familie als die Kernzelle alles Gemeinwesens. Sie muss deshalb gestärkt, und es muss ihr freie Entfaltungsmöglichkeit gegeben werden. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit zur Eigentumsbildung für alle Schichten des Volkes. Darüber hinaus ist unser großes Anliegen der nächsten Zeit die Sozialreform. Von sozialen Gesichtspunkten aus muss auch der Wohnungsbau geleitet werden. Die innere Festigkeit einer Familie und eines Volkes beruhen in erster Linie auf gesunden Wohnungen und besonders auf dem Eigenheim. Auch die Steuerreform, deren Vorlage eine große Tat des Bundesfinanzministers Schäffer ist, zeigt soziale Tendenzen. Sie trägt aber auch ausgesprochen staatspolitische Züge, so in dem Bemühen, die Steuerehrlichkeit weiter zu fördern und allen ungesunden Auswüchsen entgegen zu wirken, und durch die Regelung des Finanzausgleichs, die das alljährliche Wiederaufleben der Interessengegensätze zwischen Bund und Ländern verhindern soll.

Eines der großen Ziele der Steuerreform ist die weitere Belebung der Wirtschaft. Von ihr und den Ausfuhrmöglichkeiten, die sich daraus ergeben, hängt die künftige Gesamtentwicklung der Bundesrepublik entscheidend ab.

Unser wirtschaftlicher Wiederaufstieg vollzieht sich in einer Zeit starker politischer und wirtschaftlicher Veränderungen in den meisten Teilen der Welt. Deutschland wächst mehr und mehr in die Umwelt hinein, deren Probleme es in zunehmendem Maße mittragen muss. Immer weniger können wir die großen Probleme, die uns angehen, allein unter deutschem Gesichtswinkel sehen. Unser Blick muss sich vielmehr weiten und die Bezogenheit unserer eigenen Probleme zur Welt erkennen. Wir sind nicht allein auf der Welt, und wir sind nicht ihr Mittelpunkt. Nur solche Betrachtungsweise erspart uns Fehlspekulationen und damit eine falsche Politik.

 

Für Frieden und Freiheit

Für unser Verhältnis zur Umwelt gilt zunächst ein unabdingbarer Satz: Wir gehören zum Westen und werden stets zum Westen gehören. Wir wollen mit allen Völkern in Frieden und guten Beziehungen leben. Aber wir wollen auch in Freiheit leben. Und wir wollen, dass eines Tages alle deutschen Menschen wieder in Freiheit leben können. Deshalb ist unser Platz inmitten der Gemeinschaft, die sich der Bedrohung der Freiheit widersetzt. In der Lage, in der sich die ganze Welt befindet, kann kein Volk es verantworten, sich zu versagen und abseits zu stehen. Der Widerstand gegen die Bedrohung erfordert ohne Ausnahme alle Kräfte.

Deshalb sind wir von Anbeginn an auch für den Zusammenschluss Europas eingetreten und haben uns auch durch Rückschläge nicht entmutigen lassen. Rom ist nicht in einem Tage erbaut worden, und der Zusammenschluss Europas, dieses seit Jahrhunderten zerrissenen Kontinents, dessen Völker sich so oft untereinander bekriegt haben, kann sich nicht von heute auf morgen vollenden. Die Verschiedenheiten und die von Gefühlen getragenen Erinnerungen sind noch zu groß. Sind denn aber nicht schon erstaunliche Fortschritte auf dem Wege nach Europa erzielt? Soll man immer nur die Schwierigkeiten und nicht auch die Erfolge sehen? Und sollen wir nicht diese Erfolge als Ermutigung auffassen, weiter für ein geeintes Europa zu kämpfen? Wenn wir in diesem Bestreben nachlassen, tun wir genau das, was Moskau möchte. Nichts darf deshalb unsere Entschlossenheit beeinträchtigen, den Weg in die Verteidigungsgemeinschaft des Westens, die eine Schicksalsgemeinschaft ist, und den Weg nach Europa weiterzugehen. Er hat uns aus der nahezu tödlichen Vereinsamung nach dem Zusammenbruch bereits in eine Allianz mit jenen großen Mächten geführt, die in den vergangenen Jahrzehnten gegen uns standen. Welch ein weltgeschichtlicher Fortschritt, dass es zwischen ihnen und uns keinen Krieg mehr geben soll! Damit sind bereits Schranken niedergerissen, hinter denen sich fanatischer Nationalismus verschanzen konnte. Nur auf diesem Wege kann der Nationalismus weiter erledigt werden.

Auch die Saarfrage muss man losgelöst von nationalistischen Ressentiments sehen. Es geht darum, dass über die Saarfrage hinweg, ohne dass ein Friedensvertrag präjudiziert wird, der wohl bedeutsamste Schritt zum Zusammenschluss Europas erfolgt: die Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland.

Alle diese Probleme werden auf dem Kölner Parteitag der CDU zur Erörterung stehen. Die Art, wie sie angefasst werden, wird zeigen, mit welchem hohen Maß von Besonnenheit und Verantwortungsgefühl für das deutsche Schicksal die CDU als größte deutsche Partei auch in Zukunft wirken will.

 

Quelle: Deutschland-Union-Dienst. Jg. 8, Nr. 100 vom 25.05.1954, S. 1-4.