26. November 1923

Schreiben des Regierungspräsidenten Köln an den Reichsminister für die besetzten Gebiete über die Besprechungen am 23. und 24. November

Am Freitag, dem 23.11., nachmittags hatte der sogenannte Sechserausschuß, bestehend aus den Herren Geheimrat Hagen, Oberbürgermeister Adenauer, Dr. Meerfeld, Prof. Moldenhauer, Heinrich Meyer, Köngeter, Dyckerhoff, Justizrat Mönnig, Bayersdörfer, eine weitere Besprechung mit dem Präsiden­ten der Interalliierten Rheinlandkommission Tirard in Koblenz. Tirard empfing zunächst die Herren Hagen und Adenauer. Herr Adenauer setzte Tirard die Stimmung der Bevölkerung bezüglich eines Bundesstaates ausein­ander. Die Stimmung sei im Zentrum geteilt; bei der Sozialdemokratie und der Deutschnationalen Volkspartei ablehnend. Herr Tirard bestritt dies. Die Deputation, die bei ihm erschienen sei, hätte eine andere Auffassung be­kundet, er glaube, daß in französischer Zone von Bonn bis zur Pfalz der Wunsch nach einem Bundesstaat allgemein sei. Herr Adenauer setzte darauf Herrn Tirard den Plan von Moldenhauer kurz auseinander, der bekanntlich vorsieht, daß keinerlei staatsrechtliche Änderung de jure vorgenommen wer­den solle, daß aber de facto ein noch zu wählendes Gremium die unter den hiesigen Sonderverhältnissen notwendigen Verhaltungsmaßregeln trifft. Tirard verstand diese Mitteilung anfangs dahin, daß ein Gebilde innerhalb des Reichs, aber außerhalb Preußens gegründet werden solle. Über diesen Irrtum aufgeklärt, lehnte er den Plan unter Hinweis auf die öffentliche Meinung Frankreichs ab. Auf Bitten fand er sich bereit, neben den übrigen Herren nunmehr auch Herrn Moldenhauer zu empfangen, um von ihm das Nähere über diesen Plan zu hören. Herr Moldenhauer setzte in Gegenwart des ganzen Ausschusses seinen Plan näher auseinander und überreichte eine schriftliche Darlegung. Tirard erwiderte, einer solchen „Solution provisoire" könne er nicht zustimmen. Die Stimmung Frankreichs würde durch Vorlage eines solchen Planes nur verschlechtert, dabei blieb er auch, nachdem er darauf hingewiesen worden war, daß eine solche Fassung sich schnell durch­führen lasse. Auf die Frage des Herrn Geheimrat Hagen, was Frankreich wolle, hielt er eine längere Rede über die deutsche und französische Kultur und ihre Beziehungen, vermied aber irgendeine Regelung mitzuteilen. Der Ausschuß bat zum Schluß um näheres Studium der überreichten Denkschrift. Tirard erklärte, seine Türe stehe den Herren immer offen, ein Zeitpunkt für eine nähere Besprechung wurde indes nicht festgelegt. Die Herren schie­den mit dem Gefühl, daß der Plan keine Aussicht habe. Am anderen Morgen ließ nun Tirard bei Hagen durch den Verbindungsoffizier den Einwand gegen den Plan geltend machen, daß die Wahl des Verwaltungsgremiums durch die Reichstagsabgeordneten nicht zweckmäßig scheine, weil dadurch die Wirtschaft in diesem Gremium nicht zu ihrem Rechte kommen würde. Daraus kann gefolgert werden, daß Tirard den Plan immerhin eingehend geprüft hat und der Eindruck der völligen Ablehnung von vorneherein doch nicht ganz zutrifft.

Bei einer Besprechung, die Samstag nachmittag [24. November] unter Vorsitz des Herrn Reichsministers Jarres mit Mitgliedern des 21er-Ausschusses des Provinziallandtages hier im Rathaus stattfand, entwickelte Herr Oberbürger­meister Adenauer hinsichtlich der weiteren Entwicklung folgende Gedanken­gänge. Die Lage Deutschlands sei so trostlos, daß mit einem Auseinander­fallen des Reichs gerechnet werden müsse. Ein Eingreifen Englands sei in den nächsten Jahren nicht zu erwarten, es sei vorläufig ohnmächtig und dränge auf eine Einigung mit Frankreich. Die Schaffung eines Bundesstaates wäre für Frankreich günstig. Die Besorgnis, Kriegsschauplatz zu sein, würde diesen Bundesstaat, der eine maßgebende Stelle im Reiche einnehme, veranlassen, kriegerische Verwicklungen zu vermeiden. Die Verbindung mit der französi­schen Industrie, die früher nach Lothringen bestanden hätte, würde wieder aufleben. Ein Pufferstaat dagegen wäre für Frankreich durchaus ungünstig, er würde so bestehen und einen Revanchekrieg nur beschleunigen. Trotz viel­facher Kritik erblicke er in der Zersetzung Preußens und in der Schwächung der Präsidialmacht eine schwere Gefahr. Immerhin bedeute die Loslösung von Preußen nach seiner Meinung das kleinere Übel, wenn dann der dauern­de Friede zwischen Deutschland und Frankreich erreicht werden könne. Das Opfer, das mit der Schaffung eines Bundesstaats gebracht würde, hätte aber nur einen Zweck, wenn damit erreicht würde:

1. die Lösung der Reparationsfragen; 2. die Errichtung eines wirklichen Bundesstaates, nicht einer französischen Kolonie. Dies setze voraus die Besei­tigung der Interalliierten Rheinlandkommission und der Besatzung. Daß man in dieser Voraussetzung weiterkomme, sei zwar wenig aussichtsvoll, er schätze die Aussicht auf vielleicht 1 %. Da immerhin eine gewisse Mög­lichkeit bestehe, solle man diesen Versuch machen. Herr Reichsminister Jarres vertrat demgegenüber den Standpunkt, daß es aussichtslos sei, dieses Zu­geständnis zu erhalten, und daß die De-facto-Regelung Moldenhauer vorzuziehen sei, mit der man weniger aufgebe. Herr Landeshauptmann Horion vertrat die Auffassung, daß der Moldenhauer-Plan gefährlicher sei als der der Errichtung eines Bundesstaates. Der Provinzialausschuß der Rheinprovinz habe beschlossen, falls der Moldenhauer-Plan weiter gedeihe, die in Aussicht genommene Verwaltung an die Provinzialverwaltung anzuschließen.

Samstag vormittag hatte eine Sitzung des Verhandlungsausschusses und des Wirtschaftsausschusses stattgefunden, an der ich indes nicht teilgenommen habe. Nach den Mitteilungen, die bei der vorgeschilderten Besprechung Herr Hagen über das Ergebnis machte, ging die überwiegende Ansicht der An­wesenden dahin, daß die eingeleiteten Verhandlungen fortgesetzt werden sollten. Herr Oberbürgermeister Adenauer habe bei dieser Sitzung ähnliche Ausführungen gemacht, wie ich sie vorstehend wiedergegeben habe.

gez. Ministerialrat Graf Adelmann

 

Quelle: AA II a Bes. Gebiete Übergangsregelung. Brieftelegramm. Abschrift. Abgedruckt in: Erdmann, Karl Dietrich: Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1966, S. 320f.