Anlässlich unserer kürzlichen Unterhaltung auf dem Rittersturz hatten Sie den Wunsch geäußert, einiges über das Programm der von mir geplanten Koalitions-Regierung zu erfahren: Ich darf Ihnen hierzu folgendes ausführen:
Meine Freunde sind mit mir einig, dass auf innenpolitischem Gebiet die Fortführung der Frankfurter Wirtschaftspolitik unerlässlich sein wird. Allerdings haben wir die feste Absicht, unsere ganze Arbeit in erster Linie der sozialen Frage, und zwar der Sorge für die Vertriebenen und für die weiten Kreise aller derer zu widmen, die infolge der Katastrophe von 1945 und der harten Auswirkung der Währungsreform von 1948 heute gezwungen sind, ein wirtschaftlich und sozial menschenunwürdiges Dasein zu führen. In diesem Zusammenhang hat der noch zu schaffende definitive Lastenausgleich ganz besondere Bedeutung. Wenn ich sage, dass wir entschlossen sind, die Frankfurter Wirtschaftspolitik fortzuführen, so denke ich hierbei in erster Linie daran, die Gefahr einer vermehrten Arbeitslosigkeit durch eine möglichst starke Ausdehnung unserer industriellen Produktion zu überwinden, und zwar dadurch, dass wir mit allen Mitteln versuchen wollen, diese Produktion durch Investierungskredite des Auslands zu steigern. Anzeichen aus dem Ausland, [einer nicht sozialistischen Tendenzen zuneigenden Koalition solche Kredite zu geben], liegen vor.
Im übrigen wird die CDU in der kommenden Bundesregierung ihre Politik auf die proklamatischen Erklärungen stützen, wie sie in dem Ahlener Programm vom Februar 1947 und in den Düsseldorfer Leitsätzen vom Juli 1949, von denen ich je ein Exemplar beifüge, niedergelegt sind.
Auf außenpolitischem Gebiet liegt unsere Linie fest. Sie richtet sich in erster Linie darauf, ein enges Verhältnis zu den Nachbarstaaten der westlichen Welt, insbesondere auch zu den Vereinigten Staaten herzustellen. Es wird von uns mit aller Energie angestrebt werden, dass Deutschland so rasch wie möglich als gleichberechtigtes und gleichverpflichtetes Mitglied in die europäische Föderation aufgenommen wird. Bei der Durchführung dieser Absichten werden wir besonders eng mit den anderen in den westeuropäischen Völkern sich immer stärker entwickelnden christlich-demokratischen Kräften zusammenarbeiten. Die lebhaften Kundgebungen führender christlicher Politiker aus Italien, Frankreich, Belgien, Holland und Österreich [, die mir aus Anlass des Ausganges der Wahlen zuteil wurden,] zeigen, dass auch von deren Seite auf eine gegenseitige Förderung und Zusammenarbeit großer Wert gelegt wird.
Ich hoffe, dass diese Ausführungen Ihnen zeigen, worauf es mir und meinen Freunden im wesentlichen ankommt. [...]
Mit freundlichen Grüßen
Ihr ergebener
Dr. Adenauer
Quelle: Konrad Adenauer: Briefe über Deutschland 1945-1955. Eingeleitet und ausgewählt von Hans Peter Mensing aus der Rhöndorfer Ausgabe der Briefe. München 1999, S. 97-99.