27. August 1949

Schreiben an Helene Wessel, Münster

Helene Wessel (1898-1969), Politikerin des Zentrums bis 1933 und ab 1945 (1949-1951 Parteivorsitzende), 1952 Mit­begründerin der Gesamtdeutschen Volkspartei, 1957 der SPD beigetreten, 1949-1953 und 1957-1969 MdB.

 

Sehr geehrte Frau Wessel!

 

Anlässlich unserer kürzlichen Unterhaltung auf dem Rittersturz hatten Sie den Wunsch geäußert, einiges über das Programm der von mir geplanten Koalitions-Regierung zu erfahren: Ich darf Ihnen hierzu folgendes ausführen:

Meine Freunde sind mit mir einig, dass auf innenpoliti­schem Gebiet die Fortführung der Frankfurter Wirt­schaftspolitik unerlässlich sein wird. Allerdings haben wir die feste Absicht, unsere ganze Arbeit in erster Linie der sozialen Frage, und zwar der Sorge für die Vertriebenen und für die weiten Kreise aller derer zu widmen, die infol­ge der Katastrophe von 1945 und der harten Auswirkung der Währungsreform von 1948 heute gezwungen sind, ein wirtschaftlich und sozial menschenunwürdiges Dasein zu führen. In diesem Zusammenhang hat der noch zu schaffende definitive Lastenausgleich ganz besondere Bedeu­tung. Wenn ich sage, dass wir entschlossen sind, die Frank­furter Wirtschaftspolitik fortzuführen, so denke ich hier­bei in erster Linie daran, die Gefahr einer vermehrten Arbeitslosigkeit durch eine möglichst starke Ausdehnung unserer industriellen Produktion zu überwinden, und zwar dadurch, dass wir mit allen Mitteln versuchen wollen, diese Produktion durch Investierungskredite des Auslands zu steigern. Anzeichen aus dem Ausland, [einer nicht soziali­stischen Tendenzen zuneigenden Koalition solche Kredite zu geben], liegen vor.

Im übrigen wird die CDU in der kommenden Bundes­regierung ihre Politik auf die proklamatischen Erklärun­gen stützen, wie sie in dem Ahlener Programm vom Februar 1947 und in den Düsseldorfer Leitsätzen vom Juli 1949, von denen ich je ein Exemplar beifüge, niedergelegt sind.

Auf außenpolitischem Gebiet liegt unsere Linie fest. Sie richtet sich in erster Linie darauf, ein enges Verhältnis zu den Nachbarstaaten der westlichen Welt, insbesondere auch zu den Vereinigten Staaten herzustellen. Es wird von uns mit aller Energie angestrebt werden, dass Deutschland so rasch wie möglich als gleichberechtigtes und gleichverpflichtetes Mitglied in die europäische Föderation aufge­nommen wird. Bei der Durchführung dieser Absichten werden wir besonders eng mit den anderen in den west­europäischen Völkern sich immer stärker entwickelnden christlich-demokratischen Kräften zusammenarbeiten. Die lebhaften Kundgebungen führender christlicher Poli­tiker aus Italien, Frankreich, Belgien, Holland und Österreich [, die mir aus Anlass des Ausganges der Wahlen zuteil wurden,] zeigen, dass auch von deren Seite auf eine gegenseitige Förderung und Zusammenarbeit großer Wert gelegt wird.

Ich hoffe, dass diese Ausführungen Ihnen zeigen, worauf es mir und meinen Freunden im wesentlichen ankommt. [...]

 

Mit freundlichen Grüßen

Ihr ergebener

Dr. Adenauer

 

Quelle: Konrad Adenauer: Briefe über Deutschland 1945-1955. Eingeleitet und ausgewählt von Hans Peter Mensing aus der Rhöndorfer Ausgabe der Briefe. München 1999, S. 97-99.