27. Juni 1955

Was wird Genf bringen?

Von Bundeskanzler Dr. Adenauer

 

Die bevorstehenden Konferenzen finden ein günstigeres Klima vor als die Konferenz in Genf des Jahres 1954 und als die Konferenz in Berlin des gleichen Jahres.

Das Klima ist deswegen günstiger, weil der Westen, die freien Völker jetzt stärker sind, als sie früher waren. Sie sind stärker geworden durch die Einigung, die nunmehr in Europa erfolgt ist, durch den Abschluss des Vertrages der Westeuropäischen Union und durch den Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in den Nordatlantikpakt. Sie sind ferner stärker geworden durch die Entwicklung der militärischen Machtmittel, die namentlich in den Vereinigten Staaten vor sich gegangen ist.

Andererseits ist es wohl klargeworden, dass die Sowjetunion auf alle Fälle eine längere Pause der Erholung braucht, um den inneren wirtschaftlichen Aufgaben, vor die sie sich gestellt sieht, gerecht werden zu können. Sie kann während dieser Periode höchstwahrscheinlich nicht in der bisherigen Weise weiter aufrüsten; sie kommt auch nicht zur Konsolidierung ihrer Macht, solange ihre Bevölkerung schwere Not leidet. Und das ist gegenwärtig bestimmt der Fall. Das gilt auch von den Satellitenstaaten der Sowjetunion. Es hat ferner die Konferenz von Bandung eine unzweifelhafte Absage des größten Teiles Asiens an den Kommunismus ergeben. Die Sowjetunion kann nicht mehr damit rechnen, dass die Mehrheit der Völker Asiens hinter ihr steht.

Die Aussichten für eine Verständigung der Völker untereinander sind endlich besser geworden durch die in der Zwischenzeit eingetretene Entwicklung der Atomwaffe und der H-Bombe. Das klingt zunächst wie ein innerer Widerspruch; aber ich glaube, der Satz ist doch richtig. Die Entwicklung dieser Waffen ist so furchterregend, dass eines sicher feststeht: Auch der Sieger in einem Kriege, in dem diese Waffen eingesetzt werden, wird keinen Anlass haben, sich über seinen Sieg zu freuen.

Noch ein weiterer Umstand berechtigt uns, der kommenden Konferenz mit mehr Aussicht auf Erfolg entgegenzusehen. Die Überzeugung, dass die großen internationalen Spannungen, unter denen die Welt leidet, derart in innerem Zusammenhang miteinander stehen, dass kein größeres Problem für sich allein einer Lösung nähergebracht werden kann, ist wohl Allgemeingut geworden. Daher haben mit Recht die Vereinigten Staaten, England und Frankreich in ihrer Einladung an Sowjetrussland kein bestimmtes Programm beigefügt.

Natürlich wird dadurch das Gebiet der Konferenz außerordentlich umfangreich. Es wird eine harte, lange und mühselige Arbeit zu leisten sein, um zu einem guten Ergebnis zu kommen. Man wird viel Geduld aufwenden müssen. Aber, wenn es auf diese Weise gelingt, zu einer Minderung der weltweiten Spannungen zu kommen, dann wird die ganze Menschheit den Männern, die diese Arbeit geführt, und denen, die unter ihnen sie geleistet haben, von Herzen dankbar sein.

Ich glaube, dass jedermann in der freien Welt etwas zu einem erfolgreichen Ausgang beitragen kann. Für die Geduld und Kraft der Staatsmänner, die auf einer solchen Konferenz miteinander verhandeln, ist die psychologische Atmosphäre in der Heimat außerordentlich wichtig. Wenn dort Ungeduld aufkommt, wenn erhebliche Widerstände gegen das erstrebte Ziel sich dort geltend machen, dann wird die Kraft dieser Männer dadurch beeinträchtigt, ihre innere Kraft und auch die Kraft, die sie gegenüber dem Verhandlungsgegner aufwenden müssen. Der Gegner aber wird dadurch ermutigt.

Der Westen müsste sich bei den kommenden Verhandlungen eines vor allem vor Augen halten: Bei den westlichen Völkern spielt die Zeit eine entscheidende Rolle, daher kommt ihre Ungeduld, ihr Drängen auf einen baldigen sichtbaren Erfolg. Für die Russen spielt die Zeit keine Rolle. Für sie gilt nur der Raum. Dadurch haben sie bei Verhandlungen, die an sich schon mühsamer Natur sind, einen gewissen Vorteil. Der Westen kann gar nicht genug Geduld, Festigkeit und Gelassenheit haben und zeigen. Unter gar keinen Umständen darf er seinen Beauftragten in den mühseligen Verhandlungen in den Rücken fallen.

 

Quelle: General-Anzeiger für Bonn und Umgegend vom 27. Juni 1955.