Paul Silverberg (1876-1959), Dr. jur., rheinischer Braunkohlen-Industrieller, 1908-1926 Vorstandsvorsitzender der Rheinischen AG für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation, 1919-1933 Präsidiumsmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, 1934 in die Schweiz emigriert.
Lieber Herr Silverberg!
Erst jetzt habe ich die Gelegenheit, Ihnen ein Lebenszeichen zukommen zu lassen. Es waren sehr schwere Monate. Dass ich Ende November aus dem Gefängnis entlassen worden bin, habe ich Ihnen seiner Zeit mitteilen können. Es war mir angedroht worden, dass ich beim Näherrücken der Alliierten sofort wieder verhaftet und nach dem Innern des Landes transportiert werden würde. Glücklicherweise kamen die Amerikaner so unvermutet über die Brücke Remagen-Erpel, dass zu einer derartigen Maßnahme der Gestapo keine Zeit mehr blieb. Wir haben aber sehr unter den Kämpfen gelitten, da das Siebengebirge bis zum letzten Haus verteidigt werden sollte. Der Kampf hat hier mitten zwischen Honnef-Rhöndorf mehrere Tage gestanden, wir haben unter schwerstem amerikanischem Granatfeuer von der linken Rheinseite her gestanden, später unter deutschem Feuer. Wir haben mehrere Treffer ins Haus bekommen, sind aber trotz ständiger Lebensgefahr persönlich unverletzt geblieben. Die „Befreiung" hat sich anders vollzogen, als ich ursprünglich angenommen hatte, trotzdem ich keineswegs optimistisch war. Man wollte mich dann nach Köln holen, ich habe aber mehrfach abgelehnt und erst seit dem 4. 5. auf intensives Drängen der Amerikaner das Amt eines Oberbürgermeisters übernommen mit dem Vorbehalt, dass ich jederzeit berechtigt sei, das Amt wieder niederzulegen. Ich wohne noch in Rhöndorf, fahre zum Wochenende von Köln nach hier. Wie Köln aussieht, lassen Sie sich am besten durch Herrn v[on] W[eiss] mündlich schildern. Die Stadt hat noch durch die letzten Luftangriffe im März sehr schwer gelitten. Die Verwaltung haben die Nazis in einem geradezu skandalösen Zustand zurückgelassen, man muss buchstäblich ganz von vorn wieder anfangen. Es ist unbeschreiblich schwer.
Es sieht überall sehr bös aus. Man kann sich noch gar kein Bild machen, wie alles werden soll. Auch die politische Lage ist, wie Sie wissen werden, sehr schlecht und daher eine Ankurbelung der Wirtschaft in Deutschland sehr ungünstig. Es würde zu weit führen und sogar unmöglich sein, das alles schriftlich wiederzugeben. Ihre Erfahrung und Klugheit fehlt uns sehr, nicht nur der Braunkohlenindustrie, der Industrie in Köln, sondern der ganzen Industrie im Westen. Es wäre daher für uns alle außerordentlich wertvoll, wenn Sie baldmöglichst zurückkommen würden. Ich darf Ihnen allerdings als Ihr Freund nicht verhehlen, dass der Aufenthalt und die Arbeit in Deutschland ein sehr großes persönliches Opfer bedeuten würde. Ob ich Ihnen dazu raten darf, weiß ich nicht. Ich kann Ihnen nur die Verhältnisse schildern, wie sie sind - Herr von Weiss wird sicher mündlich diese Schilderung ergänzen können -, und Ihnen nochmals sagen, dass ich und viele mit mir Ihr Kommen von ganzem Herzen begrüßen würden.
Herr Pferdmenges ist noch nicht zum Vorschein gekommen. Er soll sich auf dem Landgute eines Freundes bei Magdeburg aufhalten, ob das richtig ist, weiß ich nicht. Es wundert mich, dass man noch gar nichts von ihm gesehen und gehört hat, ich bin deswegen etwas in Besorgnis um ihn.
Mein Sohn Konrad war Februar noch in Norwegen, mein Sohn Max im Schwarzwald, wir haben noch nichts von ihnen gehört. Mein Sohn Paul war bei Berlin, vor einigen Tagen hörte ich, dass er - er ist Sanitäter - in Ballenstedt Harz in amerikanischer Gefangenschaft ist. Meine anderen Kinder wünschen sehnlichst, möglichst bald wieder auf die Schule bzw. die Universität gehen zu dürfen, davon kann aber einstweilen noch keine Rede sein. Meine Frau und ich grüßen Sie sehr herzlich. Sie bald zu sehen, wäre uns eine wirklich große Freude.
Wie immer Ihr
K. Adenauer
Quelle: Konrad Adenauer: Briefe über Deutschland 1945-1955. Eingeleitet und ausgewählt von Hans Peter Mensing aus der Rhöndorfer Ausgabe der Briefe. München 1999, S. 14-16.