Sehr verehrter Herr Direktor!
Gestern war ich bei Herrn T[irard] in Koblenz. Ich bin auf Grund des Briefes des Herrn A[rnaud] mit sehr wenig Hoffnung dorthin gefahren. Ich habe aber, um das gleich vorwegzunehmen, gerade das Gegenteil von dem vorgefunden, was ich erwartet hatte. Wenn man mich nicht täuscht, hat die Besprechung des Herrn A[rnaud] und des Herrn L[aurent] mit P[oincaré] einen vollständigen Umschwung herbeigeführt. Herr T[irard] empfing mich zunächst mit lebhaften Klagen über die Haltung Berlins und auch über die Haltung des Reichskanzlers, Berlin treibe auch jetzt wieder wie immer Camouflage, der Reichskanzler habe sich in einem Interview - ich glaube mit dem New Yorker Herald - sehr unversöhnlich gezeigt; Berlin sei auch bei Einleitung der jetzigen Verhandlungen höchst ungeschickt verfahren, indem es alles sofort in die Öffentlichkeit bringe; ob ich vielleicht von den Unterredungen, die ich mit ihm, T[irard], führe, etwas in der französischen Presse gelesen hätte. Ich habe ihm das Unrichtige seiner Ansicht bez. Berlin klarzulegen versucht, insbesondere ihm auch gesagt, daß der Reichskanzler von meinen Besprechungen mit ihm, T[irard], wisse. Über dies letztere zeigte er sich sehr befriedigt. Einwendungen bezüglich der Größe des westdeutschen Bundesstaates machte er nicht mehr; im Gegenteil, er frug, ob man auch Frankfurt hineinbeziehen wolle. Ich antwortete ihm hierauf ausweichend, sagte ihm aber, daß es nach meiner Meinung zweckmäßig sei, wenn möglich unbesetzte Teile Westfalens hinzuzunehmen. Er erklärte, er wolle mich darauf aufmerksam machen, daß in der Pfalz, in Hessen und in Hessen-Nassau Vermutung bestände, dieser südliche Teil des besetzten Gebietes würde in einem solchen westdeutschen Bundesstaat durch das Schwergewicht Rheinlands und Westfalens erdrückt werden; er rate deswegen, zu überlegen, ob man nicht aus der Pfalz, aus Hessen, Hessen-Nassau und dem südlichen Teil der Rheinprovinz eine Provinz innerhalb des westdeutschen Bundesstaates machen solle. Er fügte hinzu, er empfehle das nur meiner Beachtung, es sei unsere innere Angelegenheit und nicht seine Arbeit - welche Wendung gegenüber der bisherigen Auffassung.
Ich hatte ihm, wie Sie sich erinnern werden, bei meiner letzten Zusammenkunft mit ihm ein Exposé über das Verhältnis dieses Bundesstaates zum Deutschen Reich übergeben und in diesem Exposé nachdrücklichst verlangt, daß er gleichberechtigt und gleichverpflichtet wie alle anderen Bundesstaaten sein müsse. Er hatte damals hiergegen sehr opponiert und erklärt, daß er mir Änderungsvorschläge machen wolle. Zu meiner Überraschung kam er gar nicht mehr auf seine Bedenken zurück, sondern erklärte nur, daß dieser Bundesstaat eine eigene ausländische Vertretung haben müsse, daß aus ihm keine Reichswehr rekrutiert werden dürfe und daß seine Beamten Einheimische sein müßten. Ich mußte aus dem, was er sagte, entnehmen, daß er bzw. seine Regierung damit einverstanden sei, daß dieser Bundesstaat in übriger Hinsicht genau die Rechte und Pflichten wie alle anderen Bundesstaaten haben solle. Was die Frage der Besatzung angeht, so erklärte er hierzu folgendes: Die französische öffentliche Meinung sei durch die bisherige Haltung Deutschlands, auch durch die Haltung Deutschlands gegenüber der Kontrollkommission, zu beunruhigt, als daß die Besetzung sofort aufgehoben werden könne; wenn aber dieser Bundesstaat als wirklicher Staat errichtet sei, dann könne die Besatzung, dies sei die erste Stufe, verringert und gewissermaßen als Garnison in einigen Orten bleiben; als zweite Stufe könne man dann eine andere Regelung durch Vermittlung des Völkerbundes herbeiführen. Über diese Frage müßte natürlich noch eine ins einzelne gehende Verhandlung stattfinden. Ich hatte aber auch hier den Eindruck, als wenn eine starke Verminderung der Besatzung und eine Beschränkung lediglich auf ihre Aufgabe als Garnison, d. h. nicht mehr mit administrativen Rechten usw., sofort erreicht werden könnte. Die Frage des Bestehenbleibens der Rheinlandkommission habe ich daraufhin absichtlich nicht mehr besonders angeschnitten, einmal, weil man mit dem Vorsitzenden dieser Kommission nicht gut von ihrer Abschaffung sprechen kann und diese Frage am besten mit Paris selbst direkt erledigt wird, dann aber auch, weil für die Rheinlandkommission gar kein Raum mehr ist, wenn die Besatzung lediglich die Form und die Rechte von Garnisonen haben soll.
Ich schnitt darauf die Frage der Reparationen an. Ich bin der Auffassung, daß, falls man in dieser Frage bei den vorläufigen Verhandlungen Entgegenkommen findet, man auf die ehrliche Absicht der Gegenseite wirklich vertrauen kann. Herr T[irard] sagte, daß die Frage der Reparationen und die rheinische Frage, wie seine Regierung ausdrücklich erklärt hätte, nicht gegeneinander ausgehandelt werden dürften. Ich erwiderte ihm darauf, das sei auch meine Meinung, aber Frankreich könne die Reparationsfrage mit günstigen und mit ungünstigen Augen ansehen. Wenn es bezüglich der Frage der Sicherheit beruhigt sei, dann könne es, wenn es wolle, die Reparationsfrage mit günstigen Augen ansehen. Herr T[irard] erklärte, das sei richtig. Er sagte dann weiter, daß die Reparationsfrage vom Reparationsausschuß verhandelt und entschieden werden müßte. Ich erklärte ihm, das sei zutreffend, aber ob es nicht möglich sei, durch eine Art von Vorverhandlungen durch seine Vermittlung eine Vorbereitung dieser Verhandlungen vorzunehmen. Herr St[innes] und V[ögler] hätten sich einen Plan über die Reparationen gemacht, ob er nicht diese beiden Herren mit den in dieser Angelegenheit maßgebenden Herren auf der französischen Seite zusammenbringen könne. Er erwiderte, die französischen Sachverständigen der Reparationskommission seien mit ihm befreundet. Er sei bereit, Herrn St[innes] und Herrn V[ögler] mit diesen zusammenzubringen, er müsse aber zunächst seine Regierung darüber befragen. Die Reparationsfrage müsse erst gelöst sein, ehe die Frage der gegenseitigen Verflechtung der beiderseitigen Industrien behandelt werden könne. Das sei nötig, weil man sonst in Frankreich sagen würde, die Großindustrie habe durch Verflechtung der beiderseitigen Industrien zunächst für sich gesorgt, und die Reparationsfrage habe man dagegen in den Hintergrund treten lassen.
Eine Meinungsverschiedenheit ergab sich zwischen T[irard] und mir über die Frage des modus procedendi. Er meinte, man solle jetzt meine Ideen über die Art der Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland, namentlich auch den Gedanken der Errichtung eines westdeutschen Bundesstaates, propagieren. Ich sagte, daß dieser westdeutsche Bundesstaat nur auf gesetzlichem Wege geschaffen werden dürfe und könne, und zwar durch Reichsgesetz. Wenn man dem Reichstag eine annehmbare Lösung der Reparationsfrage vorlege, wenn man ihm dann gleichzeitig ein Gesetz betreffend die Errichtung eines westdeutschen Bundesstaates unterbreite und wenn die Mehrheit der Bevölkerung des besetzten Gebietes dafür sei, dann würde der Reichstag zustimmen; ich hielt es aber für ganz falsch, jetzt etwa in eine Propaganda dieses Gedankens einzutreten. Er erwiderte, ich müsse das ja schließlich besser wissen. Er erklärte weiter, er überlege, ob er über die Herbeiführung eines modus vivendi im besetzten Gebiet mit einem aus Politikern und Wirtschaftlern zusammengesetzten Beirat verhandeln solle.
Ich hatte zum ersten Mal in den verschiedenen Zusammenkünften den Eindruck, daß er aus sich herausging, und ferner auch den Eindruck, daß es ihm um eine ehrliche Verständigung zu tun sei.
Einen Brief an Herrn A[rnaud] lege ich bei mit der Bitte, ihn auf sicherem Wege an ihn gelangen zu lassen. Die Herren St[innes] und V[ögler] habe ich auf den 2. Januar nach hier eingeladen, um zusammen mit ihnen, Herrn Hagen, Herrn Mönnig und Herrn Silverberg zu überlegen, was jetzt zu geschehen hat. Insbesondere scheint es mir jetzt dringend notwendig zu sein, daß eine Fühlungnahme zwischen St[innes] und V[ögler] einerseits und den französischen Persönlichkeiten andererseits über die Lösung der Reparationsfrage stattfindet. Offenbar wird T[irard], der ja auch jetzt wieder in Paris war und Anfang Januar wieder nach Paris geht, von P[oincaré] auf dem laufenden gehalten. Das Mißtrauen gegen Berlin ist aber bei P[oincaré] so groß - wie das ja auch aus dem Briefe des Herrn A[rnaud] hervorgeht -, daß bezüglich der Reparationsfrage auf dem von mir angedeuteten Wege vorgearbeitet werden muß, um zu einer Lösung zu kommen. Gehen Sie bitte mit diesem Briefe zum Herrn Reichskanzler, und lassen Sie ihn ihn lesen.
Meine Frau und ich wünschen Ihnen, Ihrer Frau und Ihrer Tochter ein recht gutes neues Jahr. Hoffentlich stellt es Sie ganz wieder her und gibt auch unserm armen Vaterlande endlich wieder die Möglichkeit zu leben.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
[eigenh.] A
Quelle: HAStK 2/253/7. Entwurf mit eigenh. Korrekturen. Abgedruckt in: Erdmann, Karl Dietrich: Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1966, S. 343-346.