29. Dezember 1953

Vor schwerwiegenden Entscheidungen

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Rückblick und Ausblick bestimmen an der Schwelle des Neuen Jahres unsere Position. Aus den Erfahrungen und Erfolgen der Vergangenheit schöpfen wir Belehrung und Mut für die Zukunft.

Das nun hinter uns liegende Jahr 1953 war das entscheidungsreichste Jahr in der bisherigen Geschichte unserer jungen Bundesrepublik. In diesem Jahre hat der Deutsche Bundestag den Deutschland- und den EVG-Vertrag gebilligt. Er hat - um nur weniges anzuführen - einer weitgehenden Steuersenkung und dem Bundesvertriebenengesetz sowie der Regelung unserer Auslandsschulden und dem Wiedergutmachungsvertrag mit dem Staate Israel zugestimmt. Nimmt man die Fortschritte hinzu, die im verflossenen Jahr trotz mannigfacher Schwierigkeiten erzielt werden konnten, dann können wir mit Recht sagen, dass das Jahr 1953 zur innen- und außenpolitischen und damit auch zur wirtschafts- und sozialpolitischen Konsolidierung unserer Bundesrepublik wesentlich beigetragen hat. Das wichtigste Ereignis aber war die Neuwahl des Bundestages am 6. September. An diesem Tage hat die Bevölkerung der Bundesrepublik in freien demokratischen Wahlen nicht nur unsere bisherige Politik gebilligt, sondern auch der CDU/CSU die absolute Mehrheit im Bundestag zugewiesen und damit die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass im neuen Bundestag eine Koalition von solcher Breite gebildet werden konnte, dass sie allen an uns herantretenden Aufgaben gewachsen ist.

Während wir bei diesem Rückblick verweilen, beanspruchen jedoch schon die Aufgaben, die das Jahr 1954 bereit hält, unsere volle Aufmerksamkeit. Wir stehen vor einer Konferenz der vier Außenminister in Berlin - ein Ereignis, das die gespannteste Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich lenkt. Wir Deutschen freuen uns, dass sich die vier Großmächte in dem gemeinsamen Entschlusse, diese Konferenz abzuhalten, gefunden haben, denn wir wissen, dass die Erfüllung unseres sehnlichsten Wunsches - der Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit - nur durch ein solches Vierergespräch in die Wege geleitet werden kann. In dieser Erkenntnis haben wir - Bundestag und Bundesregierung - alles, was in unseren Kräften stand, getan, um das Zustandekommen einer Viererkonferenz zu fördern. Ich erinnere an die Beschlüsse des Deutschen Bundestages vom 10. Juni und 10. Dezember 1953. Ich darf ferner insbesondere darauf hinweisen, dass ich am 8. Juli in einem Schreiben an Herrn Dulles der Außenministerkonferenz in Washington namens der Bundesregierung den Zusammentritt einer Konferenz der vier Mächte über die Deutschlandfrage vorgeschlagen habe. Ich habe dann im zeitlichen Zusammenhang mit der westlichen Antwortnote vom 2. September Herrn Malenkow in einem öffentlichen Appell gebeten, "das Angebot der westalliierten Regierungen anzunehmen und damit den Weg freizumachen für die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit". Ich habe schließlich, sooft ich von den Regierungen der Westmächte konsultiert wurde, im Einklang mit den Beschlüssen des Bundestages immer auf das Zustandekommen einer Viererkonferenz hingewirkt, soweit ihre Voraussetzungen für uns Deutsche nur irgend annehmbar waren. In der Tatsache, dass diese Konferenz nun in naher Zukunft zusammentreten soll, dürfen wir also mit Recht auch einen Erfolg unserer eigenen Politik erblicken. Wir wünschen dieser Konferenz aus aufrichtigem Herzen Erfolg.

Vom Neuen Jahr erwarten wir ferner die Ratifizierung der großen Vertragswerke in jenen Ländern, deren Parlamente bisher noch keinen Ratifizierungsbeschluss gefasst haben. Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass die Ratifizierung der Verträge erfolgen wird.

Zwischen Viererkonferenz, deutscher Wiedervereinigung und EVG gibt es keine Gegensätze. Die EVG hat ja - das muss immer wieder gesagt werden - nicht nur den Zweck, einer eventuellen Aggression aus dem Osten zu begegnen, sondern auch das reale Ziel, einen Krieg unter den Völkern Westeuropas ein für allemal unmöglich zu machen. Und schließlich soll die EVG - auch darauf habe ich in meinem Schreiben an Herrn Dulles vom 8. Juli hingewiesen - Ausgangspunkt für ein Sicherheitssystem sein, das die Sicherheitsbedürfnisse aller europäischen Völker, einschließlich des russischen Volkes, berücksichtigt.

Die Bundesrepublik hat ihrerseits alles getan, um den sich für sie aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen gerecht zu werden. Sie darf daher auch darauf hinweisen, dass sie an einer endlichen Ratifizierung der Verträge ein doppeltes Interesse hat. Ein Interesse, das sie mit allen Vertragspartnern und der gesamten freien Welt teilt, und ein besonderes Interesse, dass nämlich das deutsche Volk, nachdem es alles getan hat, um den Weg für die Ratifizierung freizumachen, endlich auch in den Genuss des Status der Unabhängigkeit kommen möchte. Ich habe bereits in der Regierungserklärung vom 20. Oktober auf die tiefe Enttäuschung hingewiesen, die sich des deutschen Volkes bemächtigen würde, wenn das Zustandekommen des gesamten Vertragswerkes, zu dem auch der Deutschlandvertrag gehört, immer weiter hinausgezögert würde.

Vom Neuen Jahr erwarten wir ferner entscheidende Fortschritte im Aufbau der Europäischen Politischen Gemeinschaft. Weil uns das Ganze am Herzen liegt, übersehen wir nicht das Nächstliegende: die Herstellung eines echt freundschaftlichen Verhältnisses zu Frankreich. Wir hoffen dabei insbesondere, dass die Bemühungen um die Bereinigung der Saarfrage endlich zu einer Lösung führen, die den Interessen aller Beteiligten gerecht wird.

Wir erwarten also, dass uns das Neue Jahr der Lösung aller dieser Fragen entscheidend näher bringt. Wir hoffen und ersehnen das, weil wir die ungeheuren Gefahren klar erkennen, die mit einer weiteren Verzögerung der europäischen Integration für das ganze freie Europa untrennbar verbunden sind.

Neben die Aufgaben der Außenpolitik treten auch im Neuen Jahr mit unvermindertem Gewicht die Erfordernisse unserer Innenpolitik. Der erste Bundestag und die erste Bundesregierung konnten bei allem Fleiß der Fülle der zu bewältigenden Probleme nicht genügen. An vorderster Stelle sieht die CDU/CSU hier die Aufgabe, die Bundesrepublik durch eine gesunde Sozialpolitik und mit Hilfe unserer bewährten Wirtschaftspolitik zum sozialen Rechtsstaat auszubauen, wobei die Fragen der Familie und des Wohnungsbaues vordringlich behandelt werden müssen. Wir wollen die Stabilität von Haushalt und Währung weiterhin verteidigen. Auf finanzpolitischem Gebiet wird das Neue Jahr im Zeichen der angekündigten Großen Steuerreform stehen. Die Regierungserklärung vom 20. Oktober kann als ein Katalog der dringenden Aufgaben bezeichnet werden, vor deren Lösung wir alle gestellt sind. Statt einer nochmaligen Aufzählung dieser Anliegen genüge hier die Versicherung, dass wir mit allen Kräften bemüht sein werden, schon im Jahre 1954 einen möglichst großen Teil dessen zu verwirklichen, was uns für die Legislaturperiode des zweiten Bundestages aufgegeben ist.

Die CDU/CSU, die die Hauptlast der Verantwortung trägt, vertraut auf die Mitarbeit aller, die sich gleich ihr der geschichtlichen Tragweite der deutschen Haltung gerade in unseren Tagen bewusst sind. Es gibt keinen Grund, der diese loyale Mitwirkung ausschließen könnte. Alle müssen zusammenstehen und einander ergänzen. Ist das der Fall, dann werden wir allen Entscheidungen gewachsen sein, die uns das Neue Jahr abfordern mag.

 

Quelle: Deutschland-Union-Dienst. Jg. 7, Nr. 249 vom 29.12.1953, S. 1-4.