29. Dezember 1955

1956 - Ein Jahr ernster Aufgaben

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Vor uns liegt ein Jahr ernster Aufgaben. Das Jahr 1956 ist das letzte volle Arbeitsjahr des zweiten Deutschen Bundestages, denn die nach 1956 bis zur Neuwahl noch verbleibenden Monate werden - das lehrt uns die Erfahrung - bereits im Schatten des Wahlkampfes stehen. Wir müssen also das vor uns liegende Jahr gründ­lich ausnutzen, um den großen Aufgaben gerecht zu werden, die unserer harren.

Das abgelaufene Jahr hat in mehrfacher Hinsicht Klarheit ge­bracht. Mit der Inkraftsetzung der Verträge am 5. Mai wurde ein weit gestecktes Ziel der Politik der Bundesregierung erreicht: die Bundesrepublik hat die Souveränität erlangt. Der Verlauf der Genfer Außenministerkonferenz hat klar bewiesen, dass das durch die Verträge begründete Bündnis mit den anderen freien Völkern gerade im Hinblick auf die deutsche Wiedervereinigung eine Re­alität ist, mit der das deutsche Volk rechnen kann und der kommu­nistische Osten rechnen muss. In Genf wurde leider auch klar, dass die Sowjetunion gegenwärtig nicht gewillt ist, einer Wieder­vereinigung Deutschlands zuzustimmen - es sei denn um den Preis der deutschen Freiheit und der Bolschewisierung Gesamtdeutschlands. Gerade diese abweisende Haltung der Sowjetunion in Genf hat aber dazu geführt, dass die demokratischen Parteien in der Bundesrepublik durch ihre gewählten Vertreter mit letzter Klarheit zum Ausdruck gebracht haben, dass das deutsche Volk nur eine Wiedervereinigung in Freiheit erstrebt, dass es sich mit den übrigen freien Völkern untrennbar verbunden fühlt und jede Bolschewisierung mit größter Entschiedenheit ablehnt.

Nicht alle diese Klarstellungen sind erfreulich, sie haben je­doch den Vorteil, dass das ganze deutsche Volk weiß, wie die Dinge liegen. Diese Klarheit aber ist auch die Voraussetzung der Entschlüsse, die wir für unser weiteres Verhalten zu fassen hatten und zu verwirklichen haben. Es bedarf keiner besonderen Unterstreichung, dass die Schaffung eines freien wiedervereinig­ten Deutschlands unverrückbar das oberste Ziel unserer Politik bildet. Um dieses Ziel durch Beharrlichkeit zu erreichen und jede in dieser Richtung liegende Chance wahrnehmen zu können, bedürfen wir des ungeminderten Vertrauens der freien Welt. Schon aus diesem Grunde ist die loyale und tatkräftige Verwirklichung der Pariser Verträge notwendig. An der Vertragstreue des deut­schen Partners dürfen keine Zweifel aufkommen!

Wenn ich an die Ratifizierung der Verträge und die beiden Genfer Konferenzen erinnere, so ist damit schon ein großer Teil un­serer außenpolitischen Arbeit im verflossenen Jahr genannt. Wir wollen nicht vergessen, dass in den Verträgen auch die Voraus­setzungen dafür geschaffen wurden, dass die Saarbevölkerung erst­mals einen Landtag wählen konnte, der ihrem Willen entspricht.

Die Regierungs- und Parlamentsarbeit des verflossenen Jahres umfasst wiederum auch eine ganze Reihe sozialer Gesetze: die Grosse Novelle zum Lastenausgleichsgesetz, mehrere Gesetze zur Verbesserung der Lage der Rentenempfänger, Hilfe für die Sowjet-Zonenhäftlinge, Abgeltung von Besatzungsschäden; die Familien­ausgleichskassen sind wirksam geworden, und in der einschlägigen Gesetzgebung wurden die noch bestehenden Lücken geschlossen. Ich erinnere ferner an das landwirtschaftliche Paritätsgesetz, das Personalvertretungsgesetz, das Verkehrsfinanzgesetz, das Gesetz über das Mietpreisrecht. Schließlich ist es auch gelungen, den mehrjährigen Streit über die Finanzverfassung der Bundesrepublik durch ein Kompromiss aller hier Beteiligten zu bereinigen.

Neben diesen bereits eingetretenen Erfolgen wurde sehr viel Ar­beit geleistet, deren Früchte im neuen Jahr reifen werden. Ich nenne hier wegen ihrer Dringlichkeit an erster Stelle diejenigen Gesetze, die zur Verwirklichung des deutschen Verteidigungsbeitrages notwendig sind, vor allem das Soldatengesetz. Auf dem Arbeitsprogramm des neuen Jahres stehen ferner u.a. das Zweite Wohnungsbaugesetz, die Fürsorge für die Körperbehinderten, die Tuberkulosehilfe, der Abschluss der Gesetzgebung über die Wieder­gutmachung nationalsozialistischen Unrechts, steuerliche Begünsti­gungen, besondere Anliegen einzelner Berufsstände, insbesondere des gesamten Mittelstandes, das Kriegsfolgeschlussgesetz, das Kartellgesetz, das Parteiengesetz und wahrlich nicht zuletzt ein neues Wahlgesetz für den Deutschen Bundestag.

Unter allen diesen Aufgaben steht in erster Linie die Sozial­reform, der der Hauptteil unserer Arbeit im neuen Jahr gelten muss. Ich möchte auch bei dieser Gelegenheit nachdrücklich wie­derholen, dass sich die Sozialreform nicht in einer Ordnung des Rentenwesens erschöpfen kann, sondern den einschneidenden Änderungen gerecht werden muss, die die Struktur unseres wirt­schaftlichen und sozialen Lebens während der letzten Jahrzehnte erfahren hat. In erster Linie wird man dabei an die Sicherstellung der Familien und an diejenigen denken müssen, die nach einem von Arbeit ausgefüllten Leben nicht mehr in der Lage sind, für ihren Unterhalt selbst aufzukommen Die Bundesregierung wird im Jahre 1956 dem Bundestag die gesetzliche Neuregelung der Alters- und Invalidenversicherung vorlegen.

Die großen Aufgaben, vor denen wir stehen, verlangen die Einig­keit und Zusammenarbeit aller berufenen Kreise. Am Ende des alten Jahres danke ich allen, die im Geiste dieser Notwendigkeit bis­her schon gehandelt haben. Mein Dank gilt ferner jenen, die bei den Landtagswahlen in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Bremen auch der von der CDU/CSU hauptverantwortlich geführten Politik ihr Vertrauen bekundet haben. Schließlich möchte ich auch an dieser Stelle noch einmal herzlich allen danken, die in der Zeit meiner Krankheit mit guten Wünschen meiner gedacht haben.

Und ein Letztes: Einer großen Zahl deutscher Menschen war es nach langen Jahren vergönnt, an diesem Weihnachtsfest im Kreise ihrer Familie wieder die Weihnachtsglocken der Heimat zu hören. Ihnen gilt mein besonderer Gruß wie auch allen, die der Freiheit noch entbehren - sei es, dass sie noch nicht heimgekehrt sind, sei es, dass die Zerreißung unseres Vaterlandes es ihnen ver­wehrt, in der gleichen Freiheit zu leben, deren wir uns erfreuen dürfen.

 

Quelle: Deutschland-Union-Dienst. Jg. 9, Nr. 250 vom 29.12.1955, S. 1-4. Zugleich in: Schwäbische Landeszeitung vom 31. Dezember.