29. Dezember 1961

Nüchtern und unbeirrt

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Beim Übergang in das Jahr 1962 ist ein schweres Sorgenpaket mitzunehmen. Im vergangenen Jahr sind wichtige weltpolitische Fragen ungelöst geblieben. Neue kritische Situationen sind entstanden, noch bevor sich zum Beispiel im Zusammenhang mit dem deutschen Problem Zeichen zu echter Entspannung ergaben. Vermehrt sind die Unruheherde der Welt. Es ist nicht bei Drohungen mit Waffengewalt geblieben. Gefährdet ist das bisherige Übergewicht der Bemühungen, auch harte Gegensätze durch geduldiges Verhandeln zu mildern und möglichst völlig auszugleichen.

So kann der Abschied vom Jahre 1961 nicht schwerfallen. Es hat nicht nur den in einem willkürlich geteilten Lande lebenden Deutschen schwere Enttäuschungen gebracht. Gewiss bleiben noch berechtigte Hoffnungen, doch tun alle Völker gut daran, sehr nüchtern in die Zukunft zu schauen. Es ist wohl noch nie so deutlich gewesen, dass es bei allen Konflikten der Gegenwart letzten Endes um die Freiheit der Menschen geht. Sie zu erhalten sollte weit mehr als bisher die Sammlung und der unermüdliche Einsatz aller jener Kräfte gefördert werden, die sich in eben dieser Freiheit bewusst zu entfalten vermögen.

Der Ablauf des politischen Jahres 1961 hat auch hartnäckigsten Zweiflern bewiesen, dass die in der Bundesrepublik lebenden Deutschen ihre Probleme nicht etwa aus eigensüchtigen Motiven international hochgespielt haben. Hier geht es um eine Entwicklung, deren Auswirkungen weit über den europäischen Kreis hinausstrahlen. Jene Kräfte, die bis jetzt die große deutsche Befriedigung verhindern, würden sich ganz sicher nicht mit einem etwaigen Erfolg im mitteleuropäischen Raum begnügen. Der kommunistische Gewaltstreich des 13. August 1961 in Berlin war nur scheinbar ein begrenztes Ereignis im deutschen Lebensgebiet. Das anschließende Verhalten der weltrevolutionären Mächte müsste allen die Augen geöffnet haben, die um die Erhaltung von Frieden und Freiheit bangen. Die Auslösung neuer gewaltiger Atomexplosionen durch die Sowjetunion war lediglich ein ins Höchste gesteigerter Ausdruck einer langen Serie von Drohungen und Machtproben, deren Zusammenhang unschwer zu erkennen ist. Wie anders ist es zu werten, dass kurz hintereinander zum Beispiel Dänemark wegen gewisser NATO-Kommandostellen attackiert und Österreich von Moskau nicht weniger scharf gerügt wurde, weil es assoziiertes Mitglied der Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft werden möchte.

Niemand kann in die Zukunft sehen, doch eins ist sicher: Die freien Völker müssen ihre Kräfte noch weit mehr als bisher vereinen. Die Bundesrepublik Deutschland ist zu größten Anstrengungen bereit, da sich jeder Einsatz für die Freiheit lohnen wird. Das deutsche Volk ist dankbar für die vermehrten Vertrauensbeweise aus der ganzen freien Welt. Vor allem auch für die zunehmende Einsicht, dass die Freiheit Deutschlands und Berlins entscheidend viel für die eigene Freiheit und Sicherheit der übrigen freien Völker bedeutet.

Den in Freiheit lebenden Deutschen in der Bundesrepublik und in West-Berlin geht es gewiss um eine starke Rückendeckung gegenüber der Bedrohung durch den weltrevolutionären Kommunismus, doch nicht minder um eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit ihren verständnisvollen Nachbarn und Freunden. Es kommt darauf an, für jeden Gegner das Risiko eines Angriffs zu erhöhen. Um das zu erreichen, ist es unerlässlich, die Verteidigungskraft der freien Völker in das notwendige Höchstmaß zu steigern. Zugleich muss die wirtschaftliche und politische Einigung Europas und die Verbindung mit den USA vervollkommnet werden. Das große, weltweite Unternehmen der Entwicklungshilfe sollte ebenfalls mit Bedacht, doch systematisch und energisch durchgeführt werden.

Über Strategie und Taktik der von Moskau gesteuerten Kräfte, deren Endziel die Beherrschung der Welt durch den Kommunismus ist, hat uns das Jahr 1961 wesentliche Aufschlüsse vermittelt. Die erweiterten Erkenntnisse stehen gleich Wegweisern für das Verhalten der freien Völker am Beginn des neuen Jahres.

 

Quelle: Wiesbadener Kurier vom 29. Dezember 1961.