29. Januar 1958

Rundfunkansprache des Bundeskanzlers

Antwort auf die Vorwürfe der Abgeordneten Dr. Dehler (FDP) und Dr. Heinemann (SPD) in der Bundestagssitzung am 23.01.1958, die Adenauer vorwarfen, er habe die Wiedervereinigung nie mit großem Nachdruck angestrebt.


Meine Damen und meine Herren!

Von vielen Seiten bin ich gefragt worden, warum ich auf die Vorwürfe und die Beschimpfungen des Abgeordneten Dr. Dehler in der Bundestagssitzung am 23. Januar nicht sofort geantwortet habe. Ich habe es nicht getan, weil das Niveau der Debatte vor und nach Mitternacht durch die Schuld der beiden früheren Bundesminister, die Abgeordneten Dehler und Heinemann, so tief gesunken war, dass eine ernsthafte Debatte nicht mehr möglich schien. Der Gedanke daran, was die Deutschen in der sowjetisch besetzten Zone, die das schwere Los der Unfreiheit zu tragen haben, denken, wenn Vertreter der SPD und der FDP behaupten, die Bundesregierung und an ihrer Spitze der Bundeskanzler sowie die Mehrheit des Bundestages erstrebten nicht mit aller Kraft und mit heißem Herzen die Wiederherstellung der Freiheit aller Deutschen, erfüllt mich mit Schmerz und Sorge. Aus rein parteipolitischen Erwägungen und um der Regierungskoalition und dem Bundeskanzler zu schaden, haben die Abgeordneten Dehler und Heinemann sich nicht gescheut, eine Frage, die eine Herzensangelegenheit aller Deutschen ist, in maßloser Leidenschaft zu zügellosen Angriffen zu missbrauchen. Ich bin seit 1949 im Bundestag. Ich habe noch keine Sitzung erlebt, die jeden Deutschen mit solcher Empörung und mit echtem Schmerz erfüllen muss.

In der ersten Zeit nach der Errichtung der Bundesrepublik war die Frage der Wiedervereinigung eine gemeinsame Angelegenheit aller Parteien des Bundestages mit Ausnahme der Kommunisten. Allmählich bemächtigte sich im Laufe der Jahre die Opposition bei parteipolitischen Auseinandersetzungen dieser Frage und warf der Bundesregierung und den hinter ihr stehenden Parteien vor, das Problem der Wiedervereinigung zu vernachlässigen und ihm mit Gleichgültigkeit gegenüberzustehen. In der Bundestagsdebatte der vorigen Woche bildeten diese Beschuldigungen den Hauptteil der Angriffe der Freien Demokraten und der SPD, die sich dabei auf Vorgänge stützten, die fast sechs Jahre zurückliegen, die aber festzuhalten sich lohnt, um einer Geschichtsklitterung vorzubeugen. Vorweg darf ich bemerken, dass zu dieser Zeit, im Jahre 1952, die Freie Demokratische Partei zur Regierungskoalition gehörte und durch Minister, darunter durch den Abgeordneten Dr. Dehler, im Kabinett vertreten war. Sie hat an allen getroffenen Entscheidungen mitgewirkt. Der Sprecher der FDP hat behauptet, die Sowjetunion habe in einer Note vom 10. März 1952, mit der sie den westlichen Besatzungsmächten einen Entwurf für den Abschluss eines Friedensvertrages übermittelte, für Gesamtdeutschland freie Wahlen angeboten. Diese Behauptung und diese Darstellung ist falsch. Der Redner der FDP hat es so dargestellt, als wenn wir damals von Stalin, der innere Schwierigkeiten gehabt habe, alles hätten bekommen können, was wir gewollt hätten. Das ist nicht richtig.

In der Note vom 10. März 1952, die Herr Dehler angeführt hat, und ebenso in einer späteren Note vom 9. April 1952 an die anderen Alliierten, verlangt Stalin:

1. Neutralisierung Deutschlands;

2. Anerkennung des Potsdamer Abkommens;

3. Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als östliche Grenze Deutschlands;

4. Verbot aller politischen Parteien, die von der Sowjetunion nicht ausdrücklich als demokratisch anerkannt würden;

5. Verbot aller Organisationen, die nach sowjetischer Terminologie friedensfeindlich, militaristisch oder nazistisch seien.

In der Note vom 10. März 1952, die Herr Dehler zur Grundlage seines Angriffs benutzt, spricht Stalin übrigens mit keinem Wort von freien Wahlen. Veranlassung zu den beiden Noten, sowohl zu der vom 10. März als auch zu der vom 9. April 1952, war für die Sowjetunion der unmittelbar bevorstehende Abschluss des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, Die Sowjetunion wollte die Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Welt verhindern. Die Sowjetunion verlangte die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung vor freien Wahlen, eine Regierungsbildung zwischen der Bundesrepublik und der sogenannten DDR als gleichberechtigte Partner. Die auf diese Weise gebildete Regierung, an der also die sogenannte DDR unter kommunistischer Führung 50 zu 50 als gleichberechtigter Bestandteil beteiligt werden sollte, hätte nach dem Verlangen der Sowjetunion die Aufgabe gehabt, einen Friedensvertrag mit den Gegnern des letzten Weltkrieges abzuschließen. Dazu verlangte die Sowjetunion, dass ein Jahr nach Abschluss eines solchen Friedensvertrages alle Besatzungstruppen abzuziehen seien und ferner die Auflösung aller alliierten Stützpunkte auf deutschem Boden.

Meine Damen und Herren! Ich muss hier ganz klar und eindeutig erklären, dass die Annahme dieser Forderungen der Sowjetunion oder nur das Verhandeln auf der Grundlage dieser Forderungen im krassen Gegensatz zu allen Beschlüssen des Bundestages gestanden hätte, und zwar den Beschlüssen, die nicht nur von den jetzigen Koalitionsparteien, sondern auch von den Abgeordneten der FDP und der SPD, zum Teil in namentlichen Abstimmungen, gebilligt waren. Vom Jahre 1951 bis zum Jahre 1955 hat der Bundestag mehrfach einstimmig - sonst mit überwältigender Mehrheit - gegen die Stimmen der Kommunisten Entschließungen gefasst, die vollkommen eindeutig und sehr bewusst die Reihenfolge festlegten, in der schrittweise die Wiedervereinigung mit der sowjetisch besetzten Zone vollzogen werden sollte. Noch in der Sitzung vom 26. Februar 1955 verlas der Abgeordnete Dr. Furler den einstimmigen Beschluss des Auswärtigen Ausschusses zur Wiedervereinigungsfrage, ein Beschluss, der dann vom Bundestag bestätigt wurde.

In diesem Beschluss heißt es im Punkt 4: „Der Deutsche Bundestag fordert daher Verhandlungen der vier Mächte mit dem Ziel

a) Wahl eines gesamtdeutschen Parlaments in allen Zonen auf der Grundlage eines demokratischen, allgemeinen, freien und gleichen Wahlrechts;

b) Schaffung einer gesamtdeutschen Verfassung und Bildung einer gesamtdeutschen Regierung durch das gesamtdeutsche Parlament;

c) Durchführung der Wiedervereinigung auf der Grundlage einer solchen Verfassung und

d) alles dies unter internationalem Schutz."

Alle Entschließungen des Bundestages von 1951 bis 1955 haben den gleichen Inhalt. Eine Bundesregierung, die im Gegensatz zu diesen Entschließungen auf das Angebot der Sowjetunion vom Jahre 1952 eingegangen wäre, hätte einen Sturm der Entrüstung im Deutschen Bundestag von rechts bis links entfesselt und niemals die Zustimmung des Bundestages erhalten.

In den Antwortnoten der Westmächte - an sie waren ja die Noten der Sowjetunion gerichtet - wurden die Vorschläge der Sowjetunion nicht mit einem trockenen Nein beantwortet. Es wurde verlangt, dass die gesamtdeutsche Regierung, die über einen Friedensvertrag verhandeln sollte, durch freie Wahlen zustande kommen müsse - dass also die freien Wahlen am Anfang stehen müssten -, und dass es einer Kommission der Vereinten Nationen erlaubt sein sollte, festzustellen, ob die Abhaltung solcher freier Wahlen in ganz Deutschland möglich sei. Die Vereinten Nationen hatten die Bildung einer solchen Kommission beschlossen. Die Sowjetunion lehnte eine solche Kommission ab. Sie verlangte eine Kontrolle durch die Besatzungsmächte. Die Bundesrepublik hielt sich an die Beschlüsse der Vereinten Nationen und öffnete dieser Kommission ihre Grenzen. Die Sowjetunion hingegen verweigerte der Kommission die Einreise in die sowjetisch besetzte Zone.

Wie die heutige Opposition - also die Sozialdemokratische und die Freie Demokratische Partei - über die Vorschläge im Jahre 1952 dachte, geht aus zwei Erklärungen hervor, aus denen ich zwei Sätze hervorheben möchte. Die SPD erklärte: „Die sowjetische Note enthält keine Angaben über die Abhaltung freier Wahlen unter internationaler Kontrolle"; die FDP erklärte am 11. März 1952, „dass nur eine aus wahrhaft freien demokratischen Wahlen hervorgegangene gesamtdeutsche Regierung legitimiert sei, Deutschland bei etwaigen Friedensverhandlungen zu repräsentieren".

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen, was damals verlangt wurde von der Sowjetunion: keine freien Wahlen zur Bildung einer freien gesamtdeutschen Regierung, keine Kontrolle durch die UNO, dagegen Neutralisierung und - durch Ausmerzung aller der Sowjetunion nicht genehmen Parteien - die Bolschewisierung Deutschlands. So sah das Angebot aus, das jetzt von Herrn Dehler so gepriesen wird und dessen Nichtannahme Herr Dehler der heutigen Bundesregierung und der damaligen Bundesregierung, der er angehörte, als schwerste Schuld anrechnet.

Wenn wir uns dabei noch vergegenwärtigen, dass nach dem Vorschlag der Sowjetunion ein Jahr nach Abschluss des Friedensvertrages alle alliierten Truppen Deutschland verlassen sollten, dass es in der westdeutschen Bundesrepublik keinen einzigen deutschen Soldaten gab, dagegen in der „DDR" eine Volksarmee von rund 100.000 Mann stand, hinter denen unzählige russische Divisionen in Polen und den anderen Satellitenstaaten standen, so haben Sie ein reales Bild der Situation im Jahre 1952.

Glauben Sie im Ernst, meine Damen und Herren, dass irgendeine deutsche Bundesregierung solche Bedingungen hätte annehmen können? Ich sage Ihnen, keine deutsche Regierung - auch nicht eine Regierung, die aus den heutigen Oppositionsparteien bestanden hätte - hätte das tun dürfen und hätte es auch nicht getan. Ich denke da besser von der Sozialdemokratischen Partei und von der Partei der Freien Demokraten, als heute ihre Redner von sich selbst denken. Meine Damen und Herren, ich habe es als meine Pflicht empfunden, diese nun schon der Geschichte angehörenden Vorgänge in aller Klarheit darzustellen; denn nichts ist gefährlicher - wir haben es am eigenen Leibe gespürt - als eine Legendenbildung in der Politik, eine Legendenbildung, die die Geister verwirrt und ein ganzes Volk ins Unglück stürzen kann.

Ich möchte aber diese heutige Gelegenheit benutzen, nicht nur in die Vergangenheit zu schauen, sondern auch einen Blick auf die Gegenwart zu werfen. Nach der Bundestagsdebatte der vergangenen Woche, nach den Briefen Bulganins, hat jetzt Chruschtschow eine Rede gehalten, die alle Befürchtungen der Bundesrepublik bestätigt. Er hat unter anderem erklärt, die Sowjetunion habe niemals - auch nicht auf der Genfer Gipfelkonferenz 1955 - freie Wahlen angeboten. Diese Erklärung steht in offenem Gegensatz zu den Tatsachen. In der Direktive der Regierungschefs auf der Genfer Konferenz hat die Sowjetunion dieses Zugeständnis freier Wahlen gemacht. Allerdings hat sie das Zugeständnis nur für 24 Stunden gehalten. Schon bei seiner Rückreise von Genf über Ost-Berlin zerstörte Chruschtschow in seiner dort gehaltenen Rede alle Illusionen. Ob ihn die deutschen Machthaber in der Ostzone dazu veranlasst haben, weiß ich nicht; die Vermutung liegt natürlich nahe.

Wir müssen, meine Damen und Herren, die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden. Wir müssen uns folgendes ins Gedächtnis zurückrufen: Durch die Zusammenfassung der drei Westzonen auf Grund des vom Parlamentarischen Rat beschlossenen Grundgesetzes kam es zu einem - wenn auch nicht endgültigen - Staatsgebilde, zur Bundesrepublik Deutschland. Aber nicht die Errichtung der Bundesrepublik hat die Spaltung Deutschlands verursacht, sondern sie machte sie erst ganz sichtbar. Schon vor dem Zusammentreten des Parlamentarischen Rates herrschte in der Sowjetzone der Kommunismus, wurden die Menschenrechte nicht geachtet, die freie Meinungsäußerung völlig unterbunden. Erst durch die Zusammenfassung der drei Westzonen zur Bundesrepublik gelang es, für ihre Bewohner Frieden und Freiheit zu retten.

Glauben Sie nicht, meine Damen und Herren - ich bitte Sie und ich flehe Sie an -, wiegen Sie sich nicht in der trügerischen Sicherheit, dass heute der Friede und die Freiheit der 52 Millionen Menschen in der Bundesrepublik bereits endgültig gesichert sei. Wir müssen nach wie vor unablässig daran arbeiten, Sicherheit und Frieden diesen 52 Millionen zu erhalten. Und nur, wenn die Bundesrepublik frei bleibt, eröffnet sich auch den 17 Millionen Deutschen, die in der Sklaverei der Sowjetzone leben, ein Weg zur eigenen Freiheit. Es wird das ein langer und mühseliger Weg schwierigster Verhandlungen sein. Aber es ist nach meiner Überzeugung der einzige Weg, der zu diesem Ziele führen kann.

Um keine Möglichkeit zu vernachlässigen - und damit komme ich auf die augenblickliche Situation zu sprechen -, habe ich während der Pariser NATO-Konferenz den Vorschlag gemacht, auf diplomatischem Wege eine Annäherung zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion zu versuchen. Die Sowjetunion hat auf diesen Vorschlag nicht reagiert, sondern nur eine neue Monstre-Konferenz vorgeschlagen und in ihren Briefen freie Wahlen strikte abgelehnt. Herr Chruschtschow hat dazu in der vergangenen Woche in einer Rede in Minsk darüber hinaus verlangt, dass Gesamtdeutschland das kommunistische Wirtschaftssystem übernimmt. Machen Sie sich bitte klar, meine Damen und Herren, was das für die Einwohner der Bundesrepublik bedeuten würde!

Ich muss hier mit aller Deutlichkeit aussprechen, dass das Auftreten der FDP und der SPD in der letzten Bundestagsdebatte meinen Versuchen, zu ernsten Verhandlungen zu kommen, schweren Schaden zufügte, weil es in der Sowjetunion die Hoffnung nährt, durch eine Spaltung innerhalb der demokratischen Parteien des Bundestages doch noch zu ihrem Ziel, nämlich der Bolschewisierung ganz Deutschlands, zu kommen.

Meine Damen und meine Herren, so wie ich es Ihnen geschildert habe, sah die Vergangenheit aus und so ist die Gegenwart. Ich bleibe aber trotz der entmutigenden Äußerungen der Sowjetunion dabei, dass der Versuch gemacht werden muss, in stiller und zäher Arbeit eine Verständigung auf diplomatischem Wege mit dem Kreml zu suchen. Am Ende eines solchen Bemühens muss dann eine Konferenz auf hoher Ebene stehen, auf der die letzten Entscheidungen zu treffen wären. Solche Entscheidungen müssen aber vorbereitet werden, sonst können sie nicht zu segensreichen Entwicklungen, nicht zur Wiederherstellung der deutschen Einheit und nicht zu einem echten Frieden für alle führen!

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 20, 30. Januar 1958.