29. November 1946

Interview mit der Tageszeitung "Die Welt" (Hamburg)

 

Gespräch mit Dr. Adenauer - Drei CDU-Forderungen an die Militärregierung

Hamburg, 29. November. Einen Nahrungsmittelkredit aus Amerika, die Einstellung der Demontage und eine Amnestie für die Mitläufer im Rahmen der Entnazifizierung bezeichnete Dr. Konrad Adenauer, der Vorsitzende der CDU, in einem Gespräch mit einem Mitarbeiter der "Welt" als die drei Hauptvoraussetzungen, damit das Gefühl der Hoffnungslosigkeit im deutschen Volke gebannt werde und neuer Lebensmut einkehre.

Dr. Adenauer sprach sich gegen die Wiederherstellung Berlins als deutsche Hauptstadt aus und erklärte sich für die Verlegung einer zukünftigen deutschen Hauptstadt aus Berlin nach der "Gegend des Mains".

Dr. Adenauer wird nach seiner Rückkehr in das Rheinland die Verhandlungen mit der Sozialdemokratischen Partei über eine Koalitionsregierung in Nordrhein-Westfalen weiterführen.

 

Die große Not

Der Vorsitzende des Zonenausschusses der CDU erklärte zur Lebensmittelfrage: "Wir wissen natürlich genau, daß England nicht in der Lage ist, seine Dollarreserven zum Einkauf von überseeischen Lebensmitteln für Deutschland aufzubrauchen. Aber Amerika könnte helfend einspringen und Überbrückungskredite einräumen, die es gestatten, die Kalorienzahl auf das Mindestmaß, nämlich 2000, zu bringen.

Aber es ist mit Lebensmitteln allein nicht getan. Was vielleicht noch mehr dazu beiträgt, den Zustand einer nihilistischen Hoffnungslosigkeit und Apathie herbeizuführen, das sind die geplanten oder doch nicht widerrufenen Demontagen. Ich stehe nicht an, öffentlich zu erklären, daß England, falls die Stillegungen und im Anschluss daran die Abtragungen wirklich erfolgen, den Morgenthau-Plan tatsächlich ausführen würde. Dies würde Arbeitslosigkeit, den Ruin unserer Städte und die Abwanderung des besten Teiles unserer Jugend bedeuten. Viele wandern ja schon heute nach der Ostzone aus, zum Teil auch im Zusammenhang mit der schleppenden und zum Teil verfehlten Entnazifizierung.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin durchaus dafür, daß die wirklich aktiven Nazis unschädlich gemacht werden; aber die kleinen, die sogenannten Mitläufer, müsste man laufen lassen und sich lieber ganz auf die Hauptschuldigen konzentrieren.

 

Psychologische Fehler

Ich glaube, es werden in dieser Frage wie in andern psychologische Fehler begangen. Erinnern Sie sich doch an den ganzen Verlauf der Kohlenfrage. Wie lange mußten die Bergarbeiter um die erhöhte Kalorienmenge, um ihre Schuhe und Konsumgüter, um die Lohnerhöhung, um die teilweise Wiederherstellung der Knappschaftsversicherung kämpfen. Wäre alles dies rechtzeitig und auf einmal erfolgt, wäre unsere Kohlenförderung heute beträchtlich höher. Jetzt zum Beispiel handelt es sich um die Wohnungsbauten an der Ruhr. Kein Bergarbeiter kann begreifen, warum man verbietet, die neuen Häuser mit Kellern zu bauen.

Daß Offiziere und Unteroffiziere, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, ihrer Pensionen verlustig gehen, ist meiner Ansicht nach ebenfalls ein Unrecht.

Oder nehmen Sie die Dienstverpflichtungen. Wenn man so einen Dienstbefehl liest, fragt man sich tatsächlich, ob man 1946 oder 1936 schreibt.

In allen solchen Fragen sollte die Militärregierung zwar kontrollieren, aber nicht verwalten. Man kann nicht mit 26.000 landfremden Personen ein Gebiet von 22 Millionen verwalten. Die Länderregierungen werden, wie uns mitgeteilt wurde, alle ihre Gesetze erst den Zivilbeauftragten zur Genehmigung vorlegen müssen. Wir haben durchaus Verständnis dafür, daß die Zivilbeauftragten ein Einspruchsrecht gegen Gesetze der einzelnen Länder haben sollen. Warum aber im voraus jedes Gesetz auch innerhalb des Rahmens der von der Militärregierung zugebilligten Befugnisse zur Genehmigung unterbreitet werden muß, ist nicht leicht einzusehen."

Frage: Worin bestehen die Meinungsverschiedenheiten zwischen Ihnen als dem Vorsitzenden der CDU im Westen und Jakob Kaiser-Berlin, dem Vertreter der CDU in der Ostzone?

Antwort: In vielen, ja in den meisten Fragen besteht völlige Einigkeit, zum Beispiel in unserer Stellungnahme zur Gesellschaftsreform.

Ich gehe aber mit Jakob Kaiser-Berlin in einer Frage auseinander, nämlich, wo das Schwergewicht des künftigen Deutschland liegen soll. Wir im Westen lehnen vieles, was gemeinhin "preußischer Geist" genannt wird, ab. Ich glaube, daß die deutsche Hauptstadt eher im Südwesten liegen soll als im weit östlich gelegenen Berlin. In der Gegend des Mains, dort, wo die Fenster Deutschlands auch nach dem Westen hin weit geöffnet sind, sollte die neue Hauptstadt liegen.

Man muß sich über einen Punkt klar sein. Unsere ehemaligen Kriegsgegner haben keinen Grund, uns besonders liebevoll zu behandeln, am wenigsten die Franzosen. Es wird an uns liegen, das Mißtrauen langsam zu zerstreuen. Sobald aber Berlin wieder Hauptstadt wird, wird das Mißtrauen im Ausland unauslöschbar werden. Wer Berlin zur neuen Hauptstadt macht, schafft geistig ein neues Preußen.

Ich sehe die endgültige Lösung in der Schaffung eines gewaltigen Binnenmarktes in Westeuropa, das heißt eines einheitlichen Marktes, der England, Frankreich, Belgien, Holland, Luxemburg und Deutschland umfassen sollte.

Frage: Wie stehen die Koalitionsverhandlungen mit der SPD? Welche Ämter würde die CDU in einer solchen Regierung übernehmen?

Antwort: Sie sind noch keineswegs abgeschlossen, aber sie scheinen nicht ungünstig zu verlaufen. Die CDU würde vermutlich die Bereiche Justiz, Erziehung, Arbeit oder Wirtschaft, Ernährung und Landwirtschaft übernehmen.

Frage: Wie beurteilen Sie die Hungeraktion von Frau Sevenich?

Antwort: Ich habe mich für morgen bei Frau Sevenich angesagt. Ihr Zustand macht mir große Sorgen. Die rein menschliche Seite steht für mich zurzeit im Vordergrund. Meine Bemühungen, sie umzustimmen, scheinen bislang ohne Erfolg gewesen zu sein. Sie ist eine starke, eigenwillige Persönlichkeit, die sich in den letzten Entscheidungen nicht leicht beeinflussen läßt. Trotzdem hoffe ich zuversichtlich, daß es mir diesmal gelingen wird, Frau Sevenich dem Leben und der Arbeit wieder zuzuführen.

 

Quelle: Die Welt vom 30. November 1946.