3. September 1954

Das Gelöbnis von Fulda

Von Bundeskanzler Dr. Adenauer

 

Wir leben in einer sehr ernsten, aber auch in einer großen Zeit. Ein Kampf zwischen Christentum und Materialismus ist in größtem Ausmaß entbrannt, die Front zieht sich rund um den ganzen Erdball. In diesem Kampf ist Deutschland, ist den Christen in Deutschland, ist den deutschen Katholiken eine entscheidende Rolle zugefallen. Der Materialismus, der von seiner Bastion Sowjetrussland aus den Angriff auf die Welt leitet, hat vor allem Deutschland zum Ziel seines Angriffes gemacht. Die Sowjetzone hat er in seiner Macht, er streckt die Hände aus nach der Bundesrepublik und über sie nach ganz Europa.

Auf allen Gebieten trägt er den Kampf vor, vor allem auf politischem. Sein Ziel ist die Erringung der politischen Macht, weil er durch brutale Anwendung der politischen Macht seine Ziele zu erreichen hofft: die Ausrottung der Religion, die Versklavung der Menschheit. Ein zweiter Feind bedroht das Christentum, er steht im Bunde mit dem Materialismus, er bereitet ihm den Boden. Dieser Feind ist mitten unter uns: die drohende Vermassung. Ihr bester Wegbereiter ist die innere Haltlosigkeit der Menschen unserer Zeit, ihre Scheu, sich der drohenden Gefahren bewusst zu werden, die Oberflächlichkeit des Denkens, in die sich viele infolge der vorangegangenen Katastrophen flüchten.

Es gibt nur eine Macht, die uns durch diese Gefahren unbesiegt hindurchführen kann: das Christentum. Aber es genügt nicht, von christlichen Eltern abzustammen, getauft zu sein und sich Christ zu nennen. Unsere Zeit verlangt von uns, dass wir Christen der Tat sind, in der Familie, im Beruf, im öffentlichen Leben. Im demokratischen Staat fallen die wichtigsten Entscheidungen, die die Grundlagen für ein christliches Leben, für Frieden und Freiheit sind, im politischen Raum. Im politischen Raum mitzuarbeiten, tätig zu sein, damit diese Grundlagen richtig gelegt werden, ist die Pflicht des Christen, von der er nicht entbunden werden kann. Unsere Glaubensgenossen aus der Sowjetzone, die so zahlreich zu unserer größten Freude am Katholikentag teilnehmen, wissen um diese Wahrheit. Sie wissen, dass kommunistische Diktatur, Unterdrückung der Religion, Unterdrückung der persönlichen Freiheit, Sklaverei, Willkür, Not und Elend ein untrennbares Ganzes bilden. Sie wissen zu schätzen, welche Güter Freiheit, Recht, Gerechtigkeit sind. Viele von uns wissen das nicht mehr, sie betrachten alles, was wir besitzen, als eine Selbstverständlichkeit, als einen Besitz, den ihnen niemand nehmen kann. Ist sich jeder von uns immer darüber klar, dass es dem Bolschewismus gelungen ist, in drei Jahrzehnten das Christentum im russischen Volke, das gläubig und religiös war, in einem Volke von über 150 Millionen Seelen, nahezu auszulöschen?

Nicht laut genug, nicht eindringlich genug können wir hinweisen auf die ungeheure Gefahr, die der katholischen Kirche, die dem Christentum in Europa droht. Nur wenn sich die christlichen Kräfte in Deutschland, Europa, auf der ganzen Welt zusammenscharen, wird es möglich sein, dem kommunistischen Angriff zu widerstehen, den Kommunismus, den Materialismus, die Vermassung durch die Kraft des Geistes, durch die Kräfte des Christentums zu überwinden, Frieden und Freiheit für alle zu sichern.

Die Jugend ist so stark vertreten auf dem Katholikentag, sie rufe ich besonders auf. In ihren Händen liegt die Zukunft, in ihren Händen liegt es, ob sie Sklaven werden oder freie Menschen. Wenn sie, wenn wir alle die Christen der Sowjetzone, Katholiken und Protestanten, diese Bekenner, diese Missionare christlicher Treue und Standhaftigkeit doch immer wieder sehen und sprechen könnten. Welches Beispiel geben sie uns, ein Beispiel, vor dem viele von uns, viele in Westeuropa beschämt erröten müssten! Wir danken ihnen für ihren Mut, für ihre Beharrlichkeit, für ihre Festigkeit. Wir schulden ihnen Dank für ihr Ausharren, für ihr Beispiel.

Der Katholikentag tagt in der Stadt des heiligen Bonifatius. Er zog aus, um Westeuropa für das Christentum zu gewinnen. Wir wollen an seinem Grabe das Gelöbnis ablegen, alles zu tun, damit bei uns das Christentum wieder stark und lebendig wird, alles zu tun, damit wir Deutschland, damit wir Westeuropa für das Christentum retten.

Vorstehenden Aufsatz habe ich wenige Stunden vor der Abstimmung in Paris über den Vertrag zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft geschrieben. Ich brauche daran nichts zu ändern.

 

Quelle: Deutsche Tagespost, Regensburg vom 3. September 1954.