30. Juni 1952

Ansprache in der Frankfurter Universität

 

Verständigung, Frieden und Freiheit

Ich danke Ihnen, verehrte Magnifizenz, von Herzen für die Worte, die sehr freundlichen Worte, die Sie an mich gerichtet haben. Ich danke Ihnen auch für die Auslegung, die Sie meinem Besuche bei Ihnen heute gegeben haben. Ich wollte der Universität Frankfurt und der Stadt Frankfurt einen Besuch abstatten, aber ich wollte darüber hinaus gerade in diesen überaus angestrengten schweren Wochen dadurch meinen Respekt [und] meine Reverenz allen deutschen Hochschulen bezeugen.

Die außenpolitischen und die wirtschaftlichen Spannungen unserer Zeit lassen wohl niemand von uns, sicher keinen, der diesem Kreis angehört, unberührt. Und doch mache ich bei den mannigfachen und vielen Gesprächen, die ich zu führen habe, immer wieder die Erfahrung, dass diese außenpolitischen Spannungen, und sie sind letzten Endes in Wahrheit auch entscheidend für die wirtschaftlichen Spannungen und für die Lösung der wirtschaftlichen Spannungen, in ihrer ganzen Schwere und in ihrer Tiefe von vielen nicht geahnt werden.

Wir Deutsche sind ein dynamisches Volk. Die Ereignisse der letzten Jahrzehnte, der Wiederaufbau Deutschlands in den kurzen Jahren seit 1947 hat es gezeigt, dass wir eine große Dynamik unser eigen nennen, und das ist gut so: Dynamik ist eine der wertvollsten, ja unentbehrlichsten Voraussetzungen für Aufstieg und Fortschritt, und dieses dynamische Streben und Handeln, das dem deutschen Volke eigen ist, ist auch ein Zeichen von Kraft und von Jugend. Aber allzu starke Dynamik, allzu starkes Denken und Handeln lediglich in dynamischer Richtung birgt auch große Gefahren in sich, und über diese Gefahren möchte ich Ihnen zunächst einige Ausführungen machen. Wenn man diese Gefahren nicht sieht, dann wird letzten Endes die in uns wohnende Dynamik uns wiederum in Verderben hineinführen. Dynamisches Streben ist in die Zukunft gerichtet; aber wenn es nur in die Zukunft gerichtet ist, dann wird es falsch sein. Das Heute steht auf dem Gestern und das Morgen steht auf dem Heute. Es gibt nicht nur ein Heute, oder gar, wie es Dynamiker gern sehen möchten, nur ein Morgen, sondern es gibt eben auch ein Gestern, das das Heute und das Morgen stark, ja, manchmal sogar entscheidend beeinflusst. Man muss das Gestern kennen, man muss auch an das Gestern denken, wenn man das Morgen wirklich gut und dauerhaft gestalten will. Der dynamisch eingestellte Mensch vergisst zu leicht, und vielleicht sogar zu gern die Vergangenheit, besonders, wenn die Vergangenheit nicht ganz so ist, wie er es jetzt gern haben möchte. Darin liegt eine sehr große Gefahr, denn die Vergangenheit ist eine Realität. Sie lässt sich nicht aus der Welt schaffen, und sie wirkt fort, auch wenn man die Augen schließt, um sie zu vergessen. Ich glaube, ich bin der letzte, der predigen würde, man solle den Blick nach rückwärts richten und nicht nach vorwärts. Sehen Sie: mich hat mein Geschick nach dem Zusammenbruch 1918 an die Spitze Kölns gestellt, und ich glaube, damals durch die Tat bewiesen zu haben, dass es mir an Wagemut nicht gefehlt hat und dass ich den Blick in die Zukunft richtete. Dann hat mich mein Geschick nach einem Zusammenbruch, der unvergleichlich furchtbarer war als der Zusammenbruch des Jahres 1918, nach dem Zusammenbruch 1945 schließlich auf diesen, glauben Sie es mir, entsetzlich verantwortungsvollen Posten gestellt, den ich jetzt innehabe.

Sie kennen die Politik, die ich für Deutschland verfolge, und der Rektor hat sie in seinen Worten geschildert. Sie wissen, dass ich vom ersten Tage meiner Tätigkeit an unentwegt versucht habe, den Zusammenschluss Europas in die Tat umzusetzen. Meine Politik mögen meine politischen Gegner mehr oder weniger für falsch halten - ich möchte betonen, im Grunde genommen das Weniger -, aber das eine wird mir auch mein politischer Gegner nicht bestreiten können, dass ich das Wagnis nicht gescheut habe. Ich habe versucht und versuche es weiter, Deutschland und die deutsche Politik in neue Wege zu führen. Aber gerade darum, weil ich auf diese meine Tätigkeit hinweisen darf, darf ich Sie bitten, über den Gedanken an die Zukunft nicht den Gedanken an die Vergangenheit einfach auszulöschen, sondern den Versuch zu machen, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen.

Wenn ich an das namenlose Elend denke, das zu einem erheblichen Teil durch die Schuld von Deutschen über unser Vaterland und die ganze Welt gekommen ist, dann bin ich empört über die fast einer Glorifizierung sich nähernden Beschreibungen und Schilderungen, die immer wieder in einem gewissen Teile unserer Blätter über die wahrhaft Schuldigen und wahrhaft Verantwortlichen jener Zeit erscheinen. Die Tatsache, dass es möglich war, einen erheblichen Teil des deutschen Volkes auf einen so verhängnisvollen Weg zu bringen, muss in jedem denkenden Menschen ernste, sehr ernste Fragen aufwerfen, die Frage vor allem, wie das überhaupt möglich war. Man muss sich diese Frage stellen, um alle Kraft dafür einzusetzen, die Wiederkehr eines so tiefen, eines so verhängnisvollen Falles zu verhüten. Eine übergroße und ausschließliche Dynamik birgt noch eine weitere Gefahr in sich. Eine übergroße, eine ausschließliche Dynamik macht egozentrisch. Sie lässt übersehen, dass auch andere Völker mit berechtigten Ansprüchen, mit eigenen Gedanken, mit eigenen Anschauungen, mit eigenen Ideen auf dieser Welt sind. Dynamik, die nicht verbunden ist mit dem Blick in die Vergangenheit und mit dem Blick in die Umwelt, ist sehr gefährlich.

Ich habe schon gesagt, dass wir Deutsche infolge unserer dynamischen Veranlagung nur zu gern die Vergangenheit hinter uns werfen und nur in die Zukunft schauen. Andere Völker, die nicht so dynamisch veranlagt sind wie wir, tun das nicht. Sie denken sehr an die Vergangenheit, oft oder manchmal vielleicht zu sehr, aber wir müssen die reale Tatsache hinnehmen; sie tun es und sie tun es umso mehr, je stärker sie noch unter den unmittelbaren oder mittelbaren Kriegsfolgen leiden. Auch die weiter blickenden Politiker und Staatsmänner dieser Völker können an der Realität dieser psychologischen Einstellung ihrer Völker nun einmal nicht vorbeigehen. Wir vor allem dürfen nicht in den Fehler verfallen, dass wir einfach das Vorhandensein solcher psychologischer Einstellung bei anderen Völkern entweder gar nicht beachten oder [für] restlos unberechtigt halten.

Wir müssen bei allen außenpolitischen Vorgängen das Misstrauen der anderen gegenüber dem deutschen Volk als eine Tatsache in Rechnung stellen. Die einzige Möglichkeit, dieses Misstrauen, das ein außerordentlich großes Hindernis für den Wiederaufbau und Wiederaufstieg unseres Volkes ist, schwinden zu lassen, ist, diesem Misstrauen keine neue Nahrung zu geben durch mangelnde Geradlinigkeit unserer Politik. Nur Stetigkeit und Wahrhaftigkeit wird dieses Misstrauen bei den anderen beseitigen. Worte, Reden, Beteuerungen tun das nicht. Allein das Handeln des deutschen Volkes entscheidet, und diese Beseitigung des Misstrauens der anderen wird kein Prozess von heute auf morgen sein, sondern ein langwieriger Prozess. Was schon für den einzelnen Menschen gilt, dass die Meinung, die er sich einmal im Laufe der Zeit von einem anderen gebildet hat, erst langsam und allmählich sich ändern kann, das gilt erst recht von den Ansichten und Meinungen und Überzeugungen, die sich in breiten Volksschichten festgesetzt haben.

Nichts würde nach meiner Überzeugung einer solchen Entwicklung mehr schaden, einem solchen Prozess des Überwindens des Misstrauens mehr schaden, geradezu gefährden, als Unklarheit der Politik, des politischen Verhaltens, wie auch unangebrachtes oder übertriebenes Verzögern in der Fällung von politischen Entscheidungen. Wir müssen das Misstrauen der anderen überwinden, und nur der Weg, den ich eben mir erlaubt habe Ihnen zu zeigen, macht diese Überwindung möglich. Daran müssen wir immer wieder denken, vor allem auch in den entscheidenden Wochen, die uns bevorstehen. Wir müssen mit den anderen Völkern zusammenleben in Frieden und Freundschaft. Allein können wir nicht auf der Welt in Freiheit existieren.

Ich habe von den außenpolitischen Spannungen zu Ihnen gesprochen, die unsere Zeit erfüllen. Sie werden, wie ich bestimmt glaube, vorübergehen, und sie werden, wie ich ebenso bestimmt glaube, ohne kriegerische Entladung vorübergehen, wenn nur von allen, die guten Willens sind - das gilt für alle Völker -, konsequent und zielbewusst auf die Beseitigung dieser Spannungen hingearbeitet wird. Sie können überzeugt sein, dass das geschieht. Sie können überzeugt davon sein, trotz all der Redereien, des Geschreis über Aggressionsabsichten der Bundesrepublik.

Aber eine weitere, und ich glaube, eine noch ernstere Gefahr droht der Menschheit, droht auch unserem Volke, das ist die Gefahr der Vermassung. Es handelt sich dabei um ein Grundproblem der Menschheit und damit auch um ein Grundproblem des deutschen Volkes. Absperrung der Persönlichkeit bringt Vermassung, Vermassung bringt Verlust der persönlichen Freiheit, bringt Verlust der politischen Freiheit und die Diktatur. Ich glaube, das ist absolut unabänderlich. Verlust der persönlichen Freiheit ist das Schlimmste, das dem Menschen widerfahren kann. Verlust der Freiheit des Einzelnen ist auch das Schlimmste, was der Menschheit widerfahren kann, denn der Verlust bringt Abstieg und Niedergang auf allen Gebieten menschlichen Seins. Ich fürchte, wir sind viel zu sehr von dem Gedanken beherrscht, dass das menschliche Sein sich im wesentlichen auf der jetzigen Stufe halten werde, dass vielleicht gelegentlich Schwankungen eintreten können, dass aber trotzdem und trotz aller Zwischenfälle die aufsteigende Linie in der menschlichen Kultur und in den materiellen Gebieten gesichert sei. Ich glaube, dass eine solche Überzeugung durch nichts gerechtfertigt ist, ja, dass sie nur zu leicht einen dazu verleiten kann, falsche Wege zu gehen.

Ich wiederhole: Die größte Gefahr für die menschliche Kultur erblicke ich in der drohenden Nivellierung und Uniformierung des Menschen und der dadurch eingeleiteten Vermassung. Das Problem der Vermassung, ihre Ursachen, ihre Folgen ist in den letzten Jahren von Gelehrten des In- und Auslandes untersucht worden. Das Ergebnis ihrer Untersuchungen und Forschungen ist in sehr lesenswerten Büchern niedergelegt, aber ich fürchte, in das Bewusstsein breiter Volksschichten ist das Bestehen dieser Gefahr noch nicht gedrungen, nicht einmal in Staat und Gesellschaft führende Kreise haben sich meines Erachtens mit dieser Schicksalsfrage genügend befasst. Sicher sind nicht die notwendigen Konsequenzen daraus gezogen worden. Es würde falsch sein, anzunehmen, dass diese Gefahren erst durch den letzten Krieg und seine Folgen heraufbeschworen worden sind. Die Gefahr war schon früher vorhanden. Der letzte Krieg hat die Entwicklung beschleunigt.

Ich darf Sie daran erinnern, dass der Bolschewismus, die härteste Form der Beraubung der persönlichen Freiheit, lange vor dem letzten Krieg das große russische Volk ergriffen und überwältigt hat. Gestatten Sie mir auch darauf hinzuweisen in diesem Zusammenhang, dass der Faschismus in Italien, dass der Nationalsozialismus in Deutschland nicht möglich gewesen wären, wenn nicht eine gewisse Anfälligkeit breiter Volksschichten, auf die eigene Persönlichkeit zu verzichten, vorhanden gewesen wäre. Die Ursachen dieser Entwicklung, dieser sehr bedenklichen Entwicklung, sind mannigfaltig. Sie sind teils ökonomischer, teils geistiger Art. Es würde den Rahmen dieser meiner Ansprache sprengen, wenn ich im Einzelnen darauf eingehen würde. Aber ich kann Ihnen allen dringend das Studium der Bücher, die sich mit dem Problem beschäftigen, empfehlen. Eine Ursache möchte ich besonders hervorheben, das ist das Überhandnehmen des Materialismus und das Versinken in Materialismus.

Jede Beschäftigung mit geistigen Dingen trägt bei zur Ausbildung der Persönlichkeit, aber vor allem gilt das von der Beschäftigung mit metaphysischen Dingen, mit metaphysischen Fragen. Unter gar keinen Umständen darf die Beschäftigung mit der metaphysischen Seite des menschlichen Seins vernachlässigt werden. Hier liegt die Wurzel der Persönlichkeitsbildung, und hier liegen in Wahrheit die unerschütterlichen Fundamente der Persönlichkeit. Es liegt mir so sehr am Herzen, gerade zu Ihnen über diese Fragen zu sprechen. Wir müssen in Deutschland wieder eine Schicht von Gebildeten schaffen. Sicher, es ist wahr, nicht die Hochschulen allein können Bildung verschaffen, aber sie sind an erster Stelle dazu berufen. Ich spreche absichtlich von Bildung und nicht von Wissen. Sie sind nicht identisch. Die Bildung steht höher als das Wissen. Bildung kann, das ist wahr, nirgendwo besser entstehen als auf diesem Boden, und darum, ich wiederhole das, sind die Hochschulen in besonderer Weise dazu berufen, wieder eine Schicht von gebildeten Menschen beiderlei Geschlechts heranzubilden.

Wissen ist auch nicht gleich Fachwissen, und ich denke manchmal, ob der Name Universitas wirklich noch zu Recht besteht, und dann - ich will mich jetzt nicht in fremde Jagdgründe begeben, von denen ich nicht allzu viel weiß -, aber das Wort Universitätsreform, glaube ich, darf nicht mehr verstummen, der Schrei nach ihr, sondern muss in die Tat umgesetzt werden. Universitätsreform - jetzt rechne ich auf ihren Beifall - schließt in sich Examensreformen. Ich habe hier und da in den letzten Jahren die Möglichkeit gehabt, aus der Nähe es mitzuerleben, was heutzutage von einem Studenten im Examen verlangt wird. Ich halte das für völlig unrichtig. Spezialisierung und Zersplittern des Wissens ist eine sehr ernste Gefahr, und es darf nicht dazu kommen, dass sich die Universitas umgestaltet in ein Bündel gehobener Fachschulen, die gelegentlich bei den Universitätsfesten zusammenkommen.

Wenn ich von der Entstehung einer neuen Schicht von Gebildeten sprach, müssen zwei Voraussetzungen dabei erfüllt sein; einmal der Zugang zu den Hochschulen muss auch für begabte Minderbemittelte erhalten bleiben. Die zweite Voraussetzung ist die: Es müssen für die Menschen, die akademisch sich gebildet haben, ausreichende Lebensmöglichkeiten geschaffen werden. Diese Minderbewertung der Tätigkeit des akademisch Vorgebildeten ist ein Unrecht und ein schwerer Schaden für das gesamte deutsche Volk. Wenn nicht das Ganze, das Volksganze Schaden leiden soll, muss unter Umständen dafür gesorgt werden, dass dieses Unrecht und dieser Schaden beendet wird. Es waren ernste Gedanken und ernste Fragen, die ich mir erlaubt habe, in Ihrem Kreise vorzutragen, und nun haben Sie ein Universitätsfest, und ich möchte daher nicht mit zu ernsten Ausblicken und zu ernsten Fragen schließen. Ich möchte mit froheren Gedanken und froheren Worten enden. Freude, Hoffnung und Jugend gehören zusammen. Aber Freude und Hoffnung, meine verehrten Kommilitonen und Kommilitoninnen, sind nicht denkbar ohne Sorgen. Die Polarität ist notwendig, sonst liegt die Gefahr doch sehr nahe, dass Freude zur Ausgelassenheit führt und dass Hoffnung in Leichtsinn ausartet. Aber ich weiß, dass diese deutsche Jugend der Gefahr nicht unterliegt. Ich bitte Sie nur um eines, und auch diese meine Bitte resultiert aus Gesprächen, die ich mit jungen Menschen gehabt habe. Lassen Sie sich nicht zu sehr niederdrücken von der Sorge. Man sieht nur zu leicht im menschlichen Leben vor sich alle die Sorgen, die die künftigen Monate und Jahre bringen werden. Aber was man nicht sieht, das ist die Kraft, die jeder Tag und jeder Monat und jedes Jahr dem Menschen, der die Kraft haben will, von neuem schenkt. Es ist meine Überzeugung, dass das deutsche Volk und damit auch Sie, wenn wir nur Geduld haben und wenn wir keine Dummheiten machen und wenn wir klug sind, besseren Zeiten entgegengehen, und mit uns das gesamte Europa, Und darauf sollen Sie hoffen und sollten in dieser Hoffnung ihre Arbeit tun. Wenn ich nicht in der Stadt Goethes spräche, würde ich ein Wort von Schiller zitieren. Aber vielleicht darf ich doch nur einen Vers sagen, drei Worte: Freude schöner Götterfunken! - ein paar Worte, die wir in unserer Jugend vielleicht nicht richtig erfasst und erkannt haben, aber erkennen Sie es. Und ein anderes Wort darf ich noch sagen; ich möchte nicht sagen „Solange wir jung sind", sondern ich möchte Ihnen zurufen: Freut Euch, dass Ihr jung seid!

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 81, 2. Juli 1952.