30. Juni 1960

Ansprache vor der Landkreis-Versammlung 1960 in Bonn

 

Herr Bundespräsident, meine verehrten Damen und Herren!

Ich bin gern Ihrer Einladung gefolgt, an einer Versammlung der Landkreise teilzunehmen. Die Landkreise haben ja nach unserem Zusammenbruch eine ganz andere Funktion im Laufe der Entwicklung bekommen, als sie vor mehreren Jahrzehnten einmal gehabt haben. Es interessierte mich, gerade an einer solchen Versammlung heute teilzunehmen. Leider - ich konnte das nicht ändern - kann ich nur kurz bei Ihnen bleiben, weil ich in den Bundestag muss. Der Bundestag hat insofern auf Sie und mich Rücksicht genommen, als er außerdem den Beginn seiner heutigen Sitzung auf 10 Uhr statt auf 9 Uhr festgesetzt hat.

Lassen Sie mich an der Spitze meiner Ausführungen Ihnen noch einmal erklären, dass ich wie von jeher in der kommunalen Selbstverwaltung die sicherste Grundlage einer gesunden Demokratie erblicke. Meine Überzeugung, die ich von jeher hatte, hat sich immer mehr gefestigt, dass auch die Parlamente möglichst viele Mitglieder haben sollten, die durch diese ausgezeichnete praktische Schule der Selbstverwaltung gegangen sind; das ist das Heilsamste. Sie wissen, dass ich lange Jahre Kommunalbeamter war, was mich befähigt, um mit der Theorie fertig zu werden und die Praxis auch zu Wort kommen zu lassen.

Meine Damen und Herren! Die Tätigkeit in der Selbstverwaltung lehrt noch etwas anderes. Sie lehrt - das ergibt sich auch aus der Natur der Dinge -, dass man auch nicht im Besitz der alleinigen Verantwortung ist, sondern dass auch der politische Gegner unter Umständen einmal Recht haben kann.

(Heiterkeit und Beifall.)

Nun glauben Sie bitte nicht, dass ich damit dem heutigen Tag eine Prognose stelle;

(Heiterkeit.)

das würde eine falsche Auslegung sein.

Aber die staatspolitische Bedeutung einer gesunden Selbstverwaltung wird immer stärker, je mehr der demokratische Parlamentarismus arbeitet, und deswegen - ich darf jetzt nicht nur als Bundeskanzler sprechen, sondern auch ein Wort hier einfließen lassen, ein sehr vorsichtiges Wort - lege ich auch als Vorsitzender meiner Partei größten Wert darauf, dass diejenigen, die in die größere Politik gehen wollen, zuerst einmal anfangen sollen bei der kleinen, d.h. bei der kommunalen Selbstverwaltung.

Als der Zusammenbruch im Jahre 1945 kam, da haben gerade die Gemeinden und die Landkreise sich als Träger des letzten Restes staatlicher Hoheit in so ausgezeichneter Weise bewährt, dass ihnen das niemals vergessen werden darf. Ich möchte, auch wenn es etwas spät kommt - aber Sie haben ja auch nicht jedes Jahr Verbandstag -, ausdrücklich noch einmal von dieser Stelle aus erklären, dass, wenn die Geschichte der Zeit nach dem Zusammenbruch einmal geschrieben wird, den Gemeinden und den Landkreisen ein gutes Blatt in diesem Buch der Geschichte gebührt.

Mir scheint, dass jetzt den Gemeinden und den Landkreisen von der Zusammenballung eine Gefahr droht, von der eben auch der Herr Bundespräsident gesprochen hat. Auch ich, der ich doch lange Jahre Oberbürgermeister einer Großstadt war, erblicke in diesen Zusammenballungstendenzen, die sich auf allen Gebieten zeigen, eine große Gefahr, und ich glaube, jede Landesregierung und die Bundesregierung müssen mit dafür eintreten, dass den Gemeinden und den Landkreisen aus diesen Tendenzen keine Gefahren erwachsen.

Der Herr Bundespräsident hat eben einige Dinge schon gekennzeichnet, d. h. ein Absinken der geistigen und der technischen Ausbildung in diesen Ballungsräumen. Ich möchte doch hinweisen auf die sozialen Gefahren, die mit dem Entstehen dieser großen Ballungsräume verbunden sind; sie sind groß. Ich möchte hinweisen auf die Gefahren, die in den großen Ballungsräumen in Zeiten politischer Unruhe sich nur zu leicht gebildet haben. Ich habe in diesen Tagen mit dem Staatspräsidenten von Argentinien gesprochen über den Ballungsraum Buenos Aires und die Gefahr, die aus dem Vorhandensein eines solchen Ballungsraums für das ganze Staatswesen entsteht. Ich habe in März in Tokio mit dem Oberbürgermeister der Stadt Tokio gesprochen über die eminente Gefahr, die für das ganze Land, für ganz Japan entsteht aus dem Ballungsraum Tokio. Auch in Japan war man sich vollkommen klar darüber, welche großen Gefahren nach jeder Richtung durch die Bildung eines solchen Ballungsraums, wie es Tokio ist, entstehen. In Tokio wohnen über neun Millionen Menschen, und es gibt 90 Millionen Japaner, also ein Zehntel wohnt in Tokio.

Diese Beispiele, die wir erleben, sollten uns warnen, sollten uns dazu bringen, die Aufgaben, die nun die moderne Entwicklung bringt, das moderne Verkehrswesen, die moderne Industrie, nicht allein den großen Ballungen zugute kommen zu lassen, sondern insbesondere auch den Landkreisen. Sie gehen vielfach über die Kräfte der einzelnen kleinen Gemeinden hinaus. Aber die Landkreise in Verbindung mit den Städten, aber koordiniert im Ansehen und koordiniert im Einfluss mit den großen Städten, haben bei dieser Umwandlung unserer ganzen wirtschaftlichen Struktur große Aufgaben vor sich.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie diese Aufgaben erkennen, dass die gesamte Öffentlichkeit diese Aufgaben der Landkreise erkennt und dass sich in den Landkreisen immer einsichtige Männer finden, die gewillt und in der Lage sind, diesen Gefahren entgegenzutreten. Sie erweisen damit nicht nur dem eigenen Landkreis, nein, sie erweisen damit dem ganzen deutschen Volk in dieser gefährlichen Frage der Entwicklung, der Umwandlung in ein neues industrielles technisches Zeitalter, den denkbar größten Dienst. Ich wünsche Ihnen daher für die Arbeit, nicht nur in diesen Tagen, sondern für Ihre gesamte Arbeit, im Namen der Bundesregierung von Herzen alles Gute und allen Erfolg.

(Die Ansprache des Bundeskanzlers wurde vielfach mit starkem Beifall aufgenommen.)

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 120 vom 2. Juli 1960, S. 1189.