31. August 1959

Rundfunkansprache zum zwanzigsten Jahrestag des Überfalls auf Polen und Beginn des Zweiten Weltkriegs

Vor zwanzig Jahren, am 1. September 1939, begann der Krieg. Lange Jahre hindurch herrschten in Europa, auf den Meeren, in anderen Erdteilen Schrecken und Gewalt. Die Katastrophe des Schreckens wandelte sich nach Einstellung des Kampfes in eine Periode der Angst, hervorgerufen durch eine Aufrüstung, so furchtbar und schrecklich, wie sie nie zuvor die Menschheit gesehen hat. Ein gesicherter, ein wahrer Friede ist bis jetzt, nach 20 Jahren, auf die Erde nicht zurückgekehrt.

Ich will heute keine politische Rede halten, nur das möchte ich sagen: Die Aufgabe aller Menschen, gleich welchen Glaubens, gleich welcher Farbe, gleich welcher politischen Auffassung, muss sein, den Zustand der Friedlosigkeit und der bewaffneten Angst zu beenden, den gesicherten Frieden in die von Angst erfüllte Welt zurückzuführen, damit sich alle Völker dem wahren inneren und äußeren Fortschritt widmen können. Ein besonderes Wort aber muss heute dem Volke gelten, das durch den Einfall der Truppen Hitler-Deutschlands und der Sowjetunion das erste Opfer des Krieges geworden ist, ich meine das polnische Volk. Weit länger als ein Jahrhundert hat dieses sympathische Volk, ohne dass es irgendeine Schuld traf, unter den politischen und kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa gelitten; dreimal wurde es zerrissen und geteilt und vor zwanzig Jahren wurde es das erste Opfer dieses letzten Krieges, als Hitler-Deutschland und die Sowjetunion in das Land einfielen und es grausam zerstörten.

Das heutige Deutschland ist ein anderes Deutschland als jenes unter Hitler. Der triumphale Einzug, der vor wenigen Tagen vom deutschen Volke dem siegreichen Heerführer gegen Hitler-Deutschland bereitet worden ist, beweist schlagender, als Worte es können, welch tiefer Gesinnungswechsel gegenüber dem Nationalsozialismus, seiner Doktrin und seinen Taten bei den Deutschen stattgefunden hat. Darum sage ich aus innerer Überzeugung, dass dieses Deutschland, das neue Deutschland einmal ein guter Nachbar Polens werden wird.

Im Konzentrationslager im zweiten Weltkrieg war ich mit polnischen Soldaten und Offizieren zusammen. Uns verband mehr als die Schicksalsgemeinschaft des Konzentrationslagers, zwischen uns entstand im Lager eine Gemeinschaft, die auf dem Fundament einer tiefen, geistigen Übereinstimmung beruhte. In den vergangenen zehn Jahren habe ich als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland öfter erklärt und wiederhole diese Erklärung heute: Unser Bestreben wird es sein, Verständnis, Achtung und Sympathie zwischen dem heutigen Deutschland und dem polnischen Volk zu begründen, damit auf diesem Boden dereinst eine wahre Freundschaft erwachse.

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 159, 1. September 1959.