31. Dezember 1953

Jahreswende der Entscheidung

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Am Ausgang des Jahres 1953 leben wir alle, lebt die ganze Welt unter dem Eindruck wichtiger Entscheidungen. Hinter uns liegt die Konferenz auf den Bermudainseln, vor uns liegt die Berliner Konferenz der vier Großmächte, die eine Vorentscheidung darüber bringen kann, ob die Welt einer friedlichen Zukunft oder neuen Jahren der Spannung und der Unruhe entgegensieht.

Das deutsche Volk ist von diesen Entscheidungen gewiss am meisten betroffen. Im Spannungsfelde zwischen Ost und West gelegen, ohne die Möglichkeit eigener Verteidigung, lebt es in einer echten und tiefen Sehnsucht nach einem dauerhaften Frieden in Freiheit. Wir wünschen einen wirklichen Frieden, der dem einen, dem freien Teil unseres Vaterlandes die Möglichkeiten sichert, das begonnene Werk des Wiederaufbaues fortzusetzen, und der dem heute noch unfreien Teil diese Möglichkeiten zurückgewinnt.

Die Staatsmänner des Westens haben uns bei zahlreichen Konferenzen und in vielen Verlautbarungen zugesichert, dass sie dieses Ziel mit uns teilen, dass sie uns in diesem Streben nach einem Frieden in Freiheit unterstützen wollen. Die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes unter Wahrung dieser Grundsätze ist auch ihnen gewichtiger Bestandteil ihrer Politik.

Die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit aber kann nicht geschehen durch eine hier und da gewünschte Neutralisierung. Ein neutralisierter Staat ist niemals ein freier Staat, zu stark ist der Sog des übermächtigen Ostens. Ein neutralisiertes Deutschland würde über kurz oder lang eine wehrlose Beute der Mächte, die im heute noch unfreien Teil unseres Vaterlandes ein verhängnisvolles Beispiel dafür geben, was auch wir zu erwarten hätten, wenn wir in ihre Gewalt gerieten.

Die Politik der Bundesregierung zielt daher ganz bewusst darauf hin, unser Volk zu schützen vor den Gefahren, die es bedrohen. Diesen Schutz aus eigener Kraft zu erstreben, ist für jedes europäische Volk allein ein aussichtsloses Bemühen. Die Bundesregierung bekennt sich daher zu einem gemeinsamen Schutz der europäischen Völker, denn auch unseren Nachbarn drohen die gleichen Gefahren wie uns, mag diese Erkenntnis auch hier und da im Auslande noch nicht durchgedrungen sein. Gemeinsam mit allen europäischen Völkern wollen wir diesen Kontinent und damit unser Volk stark machen, zu unser aller Schutz und für den Frieden.

Die Vereinigung der europäischen Völker zur gemeinsamen Verteidigung ist auch das beste Mittel, europäische Auseinandersetzungen zu verhüten, die in der Vergangenheit diesen Kontinent so verhängnisvoll schwächten. Unsere europäischen Nachbarn, insbesondere das französische Volk, sehen ihren Wunsch und ihren berechtigten Anspruch auf Sicherheit am besten erfüllt, wenn wir unsere politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Kraft zusammenschweißen zu einer europäischen Einheit, die allen wohlverstandenen Interessen gerecht wird.

Die europäische politische, wirtschaftliche und militärische Gemeinschaft wird ihrer ganzen Natur nach nur dem Frieden dienen. Wir alle in Europa haben guten Anlass, uns einen dauerhaften Frieden zu wünschen, denn wir alle ohne Ausnahme haben noch auf Jahrzehnte harte Arbeit, um die Folgen der unseligen Kriege zu beheben. Aber wir haben auch allen Anlass, zu wünschen, dass niemand Europa in dieser friedlichen Aufbauarbeit störe. Die Machthaber im Osten geben keine Gewähr, dass wir ohne den Ausbau der gemeinschaftlichen europäischen Verteidigung in Ruhe und Frieden arbeiten können. Zu viele Beispiele in aller Welt gibt es, die mahnen, den Friedensbeteuerungen aus dem Kreml zu misstrauen.

Die Berliner Konferenz wird ein guter Prüfstein dafür sein, ob die Sowjets ehrlich bereit sind, am Frieden in der Welt mitzuarbeiten und von ihren dauernden Friedensstörungen abzusehen. Es wäre müßig, hier zu prophezeien. Gewiss, wir wollen auf ein gutes Ergebnis der Berliner Konferenz hoffen. Diese Hoffnung aber darf uns nicht dazu verleiten, die so verheißungsvoll begonnenen Arbeiten zur Vereinigung Europas auf allen Gebieten zu unterbrechen. Wir würden damit nur die Position der Mächte aus dem Osten unheilvoll stärken.

Ich sagte: es gibt keine Beispiele, die einen echten Friedenswillen der Sowjets belegen könnten. Aber es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass die östliche Aggressionslust eingedämmt werden kann, wenn der Westen einig und stark ist. Diese Einigkeit und Kraft der freien Völker mehren zu helfen ist auch das Bestreben der Politik der Bundesregierung. Sie weiß, dass sie damit dem Frieden der Welt am besten dient.

 

Quelle: Deutsche Korrespondenz. Jg. 3. 1953, Nr. 52 vom 31. Dezember 1953.