4. Dezember 1949

Artikel des Europakorrespondenten der amerikanischen Zeitung "Cleveland Plain Dealer", Leacacos, über ein Interview mit dem Bundeskanzler

Adenauer: Die Zeit ist gekommen, uns zu bewaffnen

 

Bonn, Deutschland, 3. Dez[ember 1949].

In einem Exklusiv-Interview von 50 Minuten enthüllte Bundeskanzler Adenauer einige wesentliche neue Gedanken über die künftige Rolle Deutschlands im Nachkriegseuropa.

Nachstehend die Hauptpunkte der Adenauer-Erklärung:

Deutschland "soll zur Verteidigung Europas einen Beitrag in einer europäischen Armee unter dem Kommando eines übergeordneten europäischen Befehlshabers leisten". Von diesem Augenblick an wird es nicht nur "richtig, sondern notwendig" für die Vereinigten Staaten sein, ihr militärisches Hilfeprogramm auf Deutschland auszudehnen.

Würde man der westdeutschen Republik die Einrichtung eines eigenen Außenministeriums gestatten (unbeschadet der letztinstanzlichen Aufsicht durch die Alliierte Hohe Kommission in Deutschland bezüglich der Außenpolitik), so würde das "einen heilsamen Eindruck auf die Sowjetzone" machen.

Westdeutschland das Recht der zivilen Luftfahrt zu gewähren, sollte "keinen Anlaß zu Befürchtungen geben, da die zivile Luftfahrt und die Luftwaffe völlig verschiedenen Gesetzen unterworfen sind".

Die Westmächte sollen die Internationale Flüchtlings-Organisation anweisen, den etwa 9 Millionen deutschen Flüchtlingen aus dem Osten zu helfen. Die internationale Ruhrbehörde soll vergrößert werden, um die Saar, die jetzt ausschließlich in die Zuständigkeit Frankreichs gehört, einzubeziehen.

Der westdeutsche Kanzler machte auch zum ersten Mal spezifische Ausführungen zu seinem vorstehenden Vorschlag, die Schwerindustrie der Ruhr und des benachbarten Belgien, Frankreich, Luxemburg "zuzüglich der Saar, wie oben angegeben", in einer leistungsfähigen Organisation zusammenzufassen.

Nach seinem Vorschlag soll der integrierte industrielle Komplex unter privater Leitung stehen. Alle Gewinne müssen mit den Arbeitern geteilt werden. Die Arbeiterschaft muß eine direkte Vertretung im Vorstand der Werke haben und im Verwaltungsrat sitzen. Garantien gegen Preiskartelle oder geheime Absprachen müssen durch die OEEC oder die europäische Marshall-Plan-Organisation durchgesetzt werden, die die Marktwirtschaft in den Endprodukten kontrolliert.

Adenauer diskutierte diese verschiedenen Themen im einzelnen, während Tischler an Wänden und Dach hämmerten, da sie dem neuen Amtsgebäude des Bundeskanzlers in der alten Universitätsstadt Bonn, der neuen Hauptstadt Westdeutschlands, den letzten Schliff gaben.

"Europa ist in einem Zustand der Schwebe oder Unentschiedenheit zwischen der großen asiatischen Macht der Russen und einem westlichen Europa, das noch unter starken kommunistischen Einflüssen steht", sagte Adenauer. "Wenn der Westen hilft, Westdeutschland zu stärken, wird das der beste Beitrag zur Konsolidierung Westeuropas sein. Das deutsche Volk ist jedoch außerordentlich beunruhigt" über die gegenwärtigen Gespräche darüber, ob Westeuropa am Rhein oder an der Elbe verteidigt werden soll.

Ganz "untragbar" ist es, daß die Diskussionen, in denen Deutschland als künftiger Kriegsschauplatz in Betracht gezogen wird, von "Nicht-Deutschen" geführt werden sollen. Außerdem sind die beabsichtigten Verteidigungslinien am Rhein oder an der Elbe ["]durch die Entwicklung der Kriegstechnik überholt. Sie dienen nur dazu, das russische Selbstvertrauen zu stärken. Der einzig sichere Weg für den Westen, die Russen aufzuhalten, ist, so stark zu sein, daß sie einen Krieg erst gar nicht beginnen können; denn wenn sie einmal den Rhein erreicht haben, werden sie ganz Europa überrollen." Adenauer lehnte den Gedanken ab, deutsche Soldaten für westliche Armeen zu rekrutieren; das hieße, "ein Volk kaufen, um Söldner zu haben". "Eigene deutsche Streitkräfte würden nicht mehr als eine Abteilung unter einem europäischen Kommando bilden", wiederholte Adenauer.

"Da die Westmächte Deutschland entwaffnet haben, ist es sowohl ihre moralische als auch ihre völkerrechtliche Pflicht, für die Sicherheit Deutschlands zu sorgen. Es ist uns unmöglich, uns selbst zu verteidigen, auch wenn man es uns erlaubte. Wir haben kein Geld und keine Waffen. Die Ruhr kann keine Waffen mehr herstellen, weil sie demontiert ist. Es besteht jedoch für die westdeutsche Regierung keine Notwendigkeit, um den Schutz des Atlantik-Paktes zu bitten, weil die Gegenwart der alliierten Besatzungsmächte automatisch den Pakt für Deutschland wirksam werden läßt, wenn es angegriffen wird. Frankreichs Furcht vor Deutschland ist verständlich, aber grundlos. Wenn sie entscheiden sollen zwischen der sowjetrussischen Gefahr und der eines deutschen Wiederaufbaues, so wiegt die russische Gefahr mehr."

Über die deutsche Wiedervereinigung und den kommunistischen ostdeutschen Staat, den Adenauer immer als "Sowjetzone" bezeichnete, sagte er: "Wir möchten der ostdeutschen Bevölkerung Vertrauen in die Zukunft des westdeutschen Staates geben. Wir möchten vermeiden, daß bei ihr der Eindruck entsteht, daß das sowjetische Gebilde gut oder dauerhaft ist. Wir möchten den Ostdeutschen das Gefühl vermitteln, daß wir Ostdeutschland immer als einen Teil Deutschlands ansehen."

Adenauer bat die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, dabei zu helfen, die westdeutsche Republik für die Ostdeutschen "anziehend" zu machen, indem sie nichts tun, was Deutschland in den Augen seiner eigenen Bevölkerung oder auch der Welt "deklassieren" könnte.

Adenauer erklärte, er dringe nicht auf die Revision des alliierten Besatzungsstatuts, nach dem Deutschland regiert wird, weil er glaube, das Statut ließe mit der Zeit eine weite Interpretation zu. Er wies darauf hin, daß sich 12 Länder um diplomatische Akkreditierung in Deutschland über die Hohe Kommission beworben hätten. Adenauer hofft, daß es Deutschland als Folge davon gestattet würde, "eine unabhängigere Position in der Außenpolitik zu entwickeln". Wenn die Errichtung eines Außenministeriums gestattet würde, möchte er diesen Kabinettsposten selbst übernehmen.

Schließlich sagte der Kanzler, er möchte betonen, daß die "psychologische Verfassung" des deutschen Volkes ein Faktor von größter Wichtigkeit ist. "Der größere Teil des Volkes ist guten Willens. Ein sehr kleiner Teil hat noch die alten Vorstellungen von Macht. Der dritte Teil hat Zweifel, ist unentschieden und nicht sehr überzeugt von dem guten Willen der Westmächte. Ich glaube daher, die beste Politik wäre, Vertrauen in die deutsche Regierung zu haben, damit wir bei einer Zusammenarbeit mit den westlichen Alliierten das deutsche Volk nicht enttäuschen, denn vor allem brauchen wir gegenseitiges Vertrauen, Frieden und Freiheit."

 

Quelle: Cleveland Plain Dealer. 104. Jg. Nr. 338 vom 4. Dezember 1949, S. 1, 14.