4. Dezember 1951

Rede vor der Interparlamentarischen Union in London

 

Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren!

Es ist für mich eine besondere Auszeichnung, in Westminster zu sprechen vor einer Institution, die sich um die Verbesserung der internationalen Beziehungen und insbesondere um die friedliche Regelung von internationalen Gegensätzen so große Verdienste erworben hat. In den Mauern dieses ehrwürdigen Gebäudes sind die Traditionen Großbritanniens lebendig. Die politischen Ideen, die hier im Laufe der Jahrhunderte entstanden, sind zum Allgemeingut der freien Welt geworden. Teile dieses Gebäudes sind einem von einer Gewaltherrschaft frevelhaft begonnenen Krieg zum Opfer gefallen. Der Wiederaufbau ist ein Symbol für das Festhalten an den überkommenen Werten, deren Vernichtung die Menschen zurückstoßen würde in barbarische Zeiten.

Zu dem Wiederaufbau des Unterhauses haben alle Staaten beigetragen, die im Commonwealth zusammengeschlossen sind. Ich habe mir in den Jahren, als mir die Machthaber des Dritten Reiches zu solchen Betrachtungen Muße ließen, manchmal die Frage vorgelegt, warum das Commonwealth so viele Stürme unerschüttert überdauert hat. Mir scheint deshalb, weil es nicht auf Macht gegründet ist, sondern auf die sittlichen Werte der angelsächsischen Rechtsordnung und die gemeinsame Überzeugung über die Grundwerte des persönlichen, des gesellschaftlichen und des politischen Lebens; vor allem aber, weil den Angelsachsen eine geistige Grundhaltung eigentümlich ist: der Sinn für Maß und die Abneigung gegen theoretische Spekulationen. Die natürliche Veranlagung der Briten zu der von mir gekennzeichneten Geisteshaltung hat eine starke Förderung erhalten durch den insularen Charakter des Landes. Er zwang seine Bewohner, sich gegenseitig abzuschleifen und zu einem Grad von Homogenität zu kommen, der für das ganze ungemein förderlich war.

Ich habe mich weiter gefragt, warum die Entwicklung auf dem Kontinent so anders verlaufen ist. Auch die kontinentalen Staaten Europas besitzen eine gemeinsame Zivilisation und Kultur, gemeinsame Rechtsbegriffe. Trotzdem haben sich die Nationen des Kontinents durch die Jahrhunderte immer weiter voneinander entfernt. Auch dann, wenn nach langen blutigen Auseinandersetzungen maßvolle Sieger sich mit dem Besiegten zusammenfanden, um den Grundstein zu einer dauerhaften, friedlichen Regelung ihrer Beziehungen zu legen, [wie im] Frieden von Utrecht oder auf dem Wiener Kongress, haben sich Gegensätze zwischen den europäischen Staaten stärker erwiesen als das Gemeinsame.

Die Ursache für die andere Entwicklung auf dem Kontinent liegt in der großen Verschiedenheit der Nationalitäten und dem Fehlen des Zwanges zur Schaffung einer Homogenität, wie ihn die insulare Lage Großbritanniens mit sich gebracht hat. Diese andersartige kontinentale Entwicklung hat sicher neben ihren Nachteilen auch große Wirkungen ausgelöst, die den Aufstieg der Menschheit gefördert haben. Ich habe geglaubt, auf die historische Entwicklung hinweisen zu sollen, um damit darzutun, dass die Gegensätze zwischen den kontinentalen Völkern Europas, die Unterschiede in der Entwicklung gegenüber Großbritannien, durch Umstände herbeigeführt worden sind, die zeitbedingt waren. Diese Verschiedenheiten sind aber deshalb kein Grund, der den Zusammenschluss der Völker, den unsere Zeit zwingend verlangt, unmöglich machen könnte.

Die seit 1918 eingetretene Entwicklung in der Welt, die völlig andere Verteilung und Schichtung der Macht verlangten zwingend einen solchen Zusammenschluss. Damit die Staaten Europas zu einer lebendigen Gemeinschaft zusammenwachsen, wie sie das Commonwealth darstellt, genügt es nicht, Mittel zur Verhütung kriegerischer Konflikte zu finden. Wir müssen die Ursachen für die Gegensätze zwischen den europäischen Staaten aus der Welt schaffen. Dabei denke ich insbesondere an den Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich, der die Veranlassung für so viel Unglück in ganz Europa gewesen ist. Endgültige Überwindung dieses Gegensatzes ist der Zweck der beiden großen Vertragswerke, welche die europäische Öffentlichkeit jetzt bewegen, nämlich der Schumanplan und der Plan für die europäische Verteidigungsgemeinschaft. Wenn sie verwirklicht werden - und ich hoffe von ganzem Herzen, dass das der Fall sein wird -, dann wird ein Krieg zwischen den beiden kontinentalen Völkern ein für allemal unmöglich sein.

Die politische, militärische und wirtschaftliche Bedeutung dieser Verträge liegt auf der Hand. Darüber hinaus liegt ihr entscheidender Wert darin, dass sie in jedem einzelnen Bürger der beteiligten Staaten das Bewusstsein der europäischen Zusammengehörigkeit schaffen. Unsere Zeit ist dafür reif geworden, den europäischen Zusammenschluss nicht nur zum Gegenstand von Beratungen zu machen, sondern in den Herzen der europäischen Menschen zu verwurzeln.

Die Vorbedingungen dafür sind in Deutschland ganz besonders günstig. Die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes hat nach der Katastrophe zweier Weltkriege den Nationalismus innerlich überwunden. In der Bejahung der europäischen Gemeinschaft sind sich heute alle Deutschen - mit Ausnahme verschwindender Minderheiten auf dem äußersten rechten und linken Flügel - einig, gleichgültig, ob sie bei den Wahlen ihre Stimme für die Parteien der Regierungskoalition oder für die Opposition abgeben. In keinem Lande ist das Verständnis für die Rolle der Opposition so entwickelt wie in Großbritannien, nämlich auch für ihre Grenzen, wenn es sich um die großen Fragen der Außenpolitik handelt. Wir werden in der Bundesrepublik hinsichtlich der Methoden des parlamentarischen Kampfes noch manches zu lernen haben. Wir haben uns zu unserem Unglück so lange die Monologe eines einzelnen angehört, dass der Dialog des parlamentarischen Systems uns erst wieder vertraut werden muss. Ich habe kein Mandat, hier für die Opposition im Deutschen Bundestag zu sprechen.

Ich kann mir aber nicht denken, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands die Tradition ihres Kampfes für die europäische Verständigung je aufgeben würde. Vor allem wissen die deutschen Gewerkschaften, die mit der Bundesregierung bei dem Aufbau Deutschlands so erfolgreich zusammenarbeiten, wo ihre unversöhnlichen Feinde stehen, nämlich im nationalistischen und totalitären Lager.

Die Bundesrepublik bildet heute ein Grenzland der westlichen Welt. Im Falle eines Krieges zwischen den beiden großen Mächtegruppen müsste unser Land zum Schlachtfeld werden. Es liegt deshalb nahe, einen Weg zu suchen, der uns vor diesem schrecklichen Schicksal bewahrt. Als ein solches Mittel wird uns, sei es aus ehrlicher Überzeugung, sei es aus politischer Berechnung, gelegentlich die Neutralisierung Deutschlands vorgeschlagen. Dieses Wort hat einen verführerischen Klang, namentlich für ein Volk wie das deutsche, das in den beiden letzten Kriegen so schwer und hart gelitten hat.

Auch in den Staaten Europas, die noch vor wenigen Jahren Deutschland als Gegner gegenüberstanden, mag der Gedanke einer Neutralisierung Deutschlands seine Anziehungskraft auf manche Menschen nicht verfehlen. Wir dürfen uns aber in Europa, innerhalb wie außerhalb Deutschlands, keinen Illusionen hingeben. Die Neutralisierung der Bundesrepublik würde nur dann praktischen Wert besitzen können, wenn es sich dabei um eine echte, bewaffnete Neutralität handelte, d.h. wenn sich die Bundesrepublik, gestützt auf eine ausreichende Verteidigungsmacht, allen Versuchen eines bewaffneten Angriffs mit der Aussicht auf Erfolg widersetzten könnte. Das ist nicht der Fall.

Eine Neutralisierung aber, die sich lediglich auf ein internationales Übereinkommen stützt, bietet keinerlei Sicherheit dafür, dass die Macht der Entwicklung nicht achtlos über sie hinweggeht. Das deutsche Volk wäre in diesem Falle jedes realen Schutzes bar, der ihm heute aus seiner Partnerschaft in der Staatengemeinschaft der freien Welt zuteil wird. In ständiger Sorge vor der Entwicklung der nächsten Zukunft müsste es früher oder später unweigerlich dem Sog des Ostblocks anheimfallen. Damit wäre seiner Zugehörigkeit zu dem europäischen Zusammenschluss ein Ende gesetzt. Das würde aber den Untergang auch der anderen freien Nationen Europas nach sich ziehen.

Wir erblicken die einzige Garantie unserer Freiheit in dem Zusammenwirken der europäischen Gemeinschaft mit den übrigen Zusammenschlüssen der freien Welt. Auf ihr zunehmendes Gewicht ist gegenwärtig allein die Sicherheit des Einzelnen und der Staaten gegründet.

Wir hassen den Krieg, wir sind aber überzeugt, dass die Gefahr eines Krieges erst gebannt ist, wenn die beiden Mächtegruppen, jede in der Achtung vor der Kraft der anderen, Verhandlungen mit dem Ziele einer wirklichen Friedenslösung beginnen. Erst dann werden alle Menschen von der furchtbaren Last der sie stetig verfolgenden Angst vor einer neuen Katastrophe frei werden.

 

Quelle: Mitteilung an die Presse Nr. 1100/51, 05.12.1951, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressearchiv F 25.