4. Januar 1976

Rede Helmut Kohls anlässlich der Feierstunde der CDU zum Gedenken des 100. Geburtstages von Konrad Adenauer in der Beethovenhalle, Bonn

[...] Es ist ein Stück deutscher Geschichte und damit Gegenwart und Zukunftschance unseres Volkes, wenn wir heute Abend bei dieser Feier der CDU Deutschlands so viele Männer und Frauen der ersten Stunde begrüßen dürfen. Es sind Männer und Frauen, die in einer schwierigen Zeit das Beste, ihr Bestes für unser Vaterland gegeben haben, die das alles mit aufgebaut haben, was wir heute gemeinsam genießen, die das erbaut haben, worauf wir Jüngeren heute mit Stolz stehen dürfen. [...]

Dies ist am Vorabend von Konrad Adenauers 100. Geburtstag die Familienfeier der CDU Deutschlands, gemeinsam mit den Freunden der CSU. Heute kann man sagen, und wir sind darüber ohne jeden Vorbehalt glücklich, dass dieser große alte Mann ganz ohne Zweifel unserem ganzen Volke gehört. Wir sind auch stolz darauf, wenn ihn in diesen Tagen viele für sich, für ihre Politik in Anspruch nehmen. Nur, es ist in seinem Geiste, wenn wir das bei manchem mit Schmunzeln feststellen. Über manchen, der ihn jetzt für sich in Anspruch nimmt, würde Konrad Adenauer sich doch sehr gewundert haben, wenn er es erlebt hätte.

Wir gedenken am 100. Geburtstag von Konrad Adenauer dem Mitbürger und Mitmenschen, wie ihn viele von uns, manche viele Jahrzehnte hindurch, manche, wie ich, erst in späteren Jahren, erlebt haben und erleben durften. In diesen Tagen steigen viele Erinnerungen auf an persönliche Erlebnisse und Begebnisse, an einen großen alten Mann, an den Mann, der uns, den Jüngeren, lehrte, nach dem Kriege wieder in geschichtlichen Perspektiven und über den Tellerrand des Tages hinauszudenken, an jenen kämpferischen Politiker Konrad Adenauer, dem wir, die CDU Deutschlands, in diesem Jahr 1976 kraftvoll nachfolgen müssen.

Wir denken aber auch an den menschlichen, liebenswürdigen Mitbürger, den warmherzigen Konrad Adenauer, der so gar nichts mit jenem Feindbild eines zynischen alten Mannes gemeinsam hatte, der sehr wohl zu unterscheiden wusste, dass es die Pastelltöne sind, die das Leben liebenswert und liebenswürdig machen, der in der Last seines schweren Amtes als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland das Lachen, den Humor und das Schmunzeln nicht verlernt hatte und der nicht durch Public-Relations-Maßnahmen als ein Mensch aufgebaut werden musste, der Freude am Leben hatte. Wer heute auf die zwanzig Jahre zurückblickt und die Gegenwart erlebt, der kann sich nur mit einer gewissen Sehnsucht an jene Zeit erinnern, in der richtig gelacht werden konnte.

Wir gedenken des Mitgründers und ersten Vorsitzenden der CDU, des prägenden Staatsmannes, des Mannes, der mehr als jeder andere die Geschicke unseres Landes bestimmt hat. Die Geschichte kennt nur wenige Beispiele dafür, dass der Wiederaufstieg eines Landes nach einem totalen Zusammenbruch mit dem Namen eines Staatsmannes so eng verbunden ist wie das Schicksal der Bundesrepublik Deutschland mit dem Namen Konrad Adenauer. Die Ergebnisse seiner Politik gehören heute zu den grundlegenden Selbstverständlichkeiten unseres politischen Alltags und sind gemeinsame Grundlagen der Politik aller Parteien. Sie waren jedoch 1949, als Adenauer das Kanzleramt übernahm, alles andere als selbstverständlich.

Adenauer hat sie Schritt für Schritt und vielfach gegen den erbitterten Widerstand der Opposition erkämpft. Ware es damals nach der SPD gegangen, wir hätten die Institutionen und Realitäten nicht, in denen sich auch die Politiker der heutigen Regierung mit der größten Selbstverständlichkeit bewegen. Die größten Leistungen, die ein bedeutender Mensch erbringen kann, sind diejenigen, welche so selbstverständlich zum Allgemeingut aller werden, dass sich die meisten gar nicht mehr des Ursprungs bewusst sind.

So ähnlich geht es den Deutschen mit dem politischen Erbe Adenauers; sie sind Erben, ohne sich noch als Erben zu verstehen; sie leben in dem Bewusstsein, sich das selbst geschaffen zu haben, was sie heute besitzen. Was aber bleibt das Verdienst von Konrad Adenauer. Seine Leistung war es, das Potential und den Einsatz eines ganzen Volkes zu entfalten. Seine Leistung war der Wille zur politischen Führung. Seine Leistung war die Fähigkeit, das Wollen der Bürger in unserem Staat aufzunehmen, in ein Konzept zu bringen und durch tausend Situationen täglicher Auseinandersetzungen durchzuhalten und durchzusetzen.

Es ist die Aufgabe des Politikers, das sachlich Notwendige und das von einem Volk Erstrebte unter den gegebenen, täglich wechselnden Verhältnissen möglich zu machen. Das sachlich Notwendige erfüllt sich letztlich nicht von selbst, sondern kann versäumt und verfehlt werden. Die persönliche Leistung des großen Staatsmannes besteht darin, die Notwendigkeiten situationsgerecht zu erfassen und ihrer Verwirklichung den Weg zu öffnen. So hat Adenauer sich immer selbst verstanden: nicht als Schöpfer, sondern als einen, der das Notwendige und Gewollte möglich machte. Konrad Adenauer wollte seinem Vaterland dienen. Sein Dienst bestand in der genialen praktischen Durchsetzung und politischen Gestaltung des von allen gemeinsam Gewollten und Geleisteten.

Dieser große deutsche Staatsmann und Europäer war die hervorragende Persönlichkeit unserer Partei. CDU und CSU sind deshalb in einem engeren und besonderen Sinn die Erben Konrad Adenauers. Er hat sich auf die CDU gestützt und aus ihrem Fundus geschöpft. Er hat unsere Partei geführt, ihr Impulse gegeben und den Weg gewiesen.

Für uns aber ist sein Erbe nicht in erster Linie Besitz, sondern Verpflichtung und Vorbild. Wir wollen das, was Adenauer geschaffen hat, nicht nur erhalten, sondern weiterbauen gemäß den Grundsätzen, nach denen er die christlich-demokratische Politik in Deutschland geprägt hat. Das heißt nicht, dass wir die einzelnen Formeln und Orientierungspunkte wie alte Rezepte aufbewahren und Jahr für Jahr in den alt vertrauten Formen wieder ausbacken, nur weil sie damals Erfolg hatten. Das zu tun, würde zugleich heißen, dass wir Adenauer selbst gründlich missverstanden hätten. Grundsätze behalten nur dann ihren Wert und Konzepte nur dann ihren Sinn, wenn wir das tun, was Adenauer selbst getan hat: Tag für Tag die Lage überprüfen, sich immer wieder um die Verbesserung der politischen Diagnose bemühen, sich auf neue Gegebenheiten einstellen, die Anwendungsweise der Grundsätze und die praktische Durchführung unseres Konzeptes jeder Veränderung anpassen. Würden wir nicht so verfahren, dann wären wir nicht die Erben Adenauers, sondern seine Epigonen.

Es war für Adenauer und für Deutschland vom ersten Tag seiner Kanzlerschaft an ein großer Vorteil, dass er als Gegner des Nationalsozialismus ausgewiesen war. Adenauer besaß eine geistige und politische Position, die mit den Ideologien des Dritten Reiches überhaupt keine Berührungspunkte hatte. Die Nationalsozialisten haben ihn öffentlich als prominenten Gegner angeprangert, weil er schon immer das gewesen ist, was viele Deutsche erst nach den bitteren Erfahrungen der Jahre 1933 bis 1945 wurden: ein Europäer, ein Demokrat und ein Gegner des Nationalismus.

Europa war für Adenauer mehr als ein geographischer Begriff. Es war in seinem Verständnis ein Konzept humanen Lebens, weil es allein die Chance bietet, für die Probleme der modernen Welt menschenwürdige Lösungen zu finden. Deshalb war für ihn und ist für uns die europäische geistige und politische Tradition kein Ballast, den es abzuwerfen gilt, sondern die Grundorientierung einer auf die Zukunft gerichteten Politik. Die Europäer müssten vielmehr ihre gemeinsame Tradition aufgreifen, sie schützen und weiterführen. Sie müssen lernen, Unterschiede nicht länger als trennende Gegensätze zu verstehen, sondern als Vielfalt in der Einheit.

Die Eingliederung Deutschlands in die Gemeinschaft der europäischen und atlantischen Nationen bleibt deshalb mehr als ein Zweckbündnis. Sie ist auch keine Rückversicherung für spektakuläre außenpolitische Experimente. Für Adenauer handelte es sich auch nicht in erster Linie darum, eine wirksame Abwehr des Kommunismus zu organisieren. Deutschland sollte vor allem dort seinen Platz einnehmen, wo es seiner Geschichte nach hingehört; wo es mit den anderen Staaten dafür wirken kann, die Welt des 2O.Jahrhunderts im Geist der Freiheit und Menschenwürde mit zu gestalten. Die Freundschaft mit Frankreich und Friede und Freundschaft mit Israel sind mehr als jedes andere Werk seine herausragende Leistung.

Die innenpolitische Entscheidung unseres Volkes für politische Freiheit, rechtsstaatliche Verfassung und Demokratie wurde und bleibt dadurch außenpolitisch ergänzt und gesichert, dass die Bundesrepublik klar und unmissverständlich auf die Seite derjenigen Staaten trat, die diese Grundsätze weltweit repräsentieren. Für Adenauer war deshalb die Verzahnung von Innen- und Außenpolitik ein Grundgesetz seiner Politik schlechthin. Die politische Einheit des freien Europa bleibt deshalb für die CDU Deutschlands ein sachliches Erfordernis wie eine Verpflichtung aus dem Erbe Adenauers. Wir werden weiterhin unbeirrt auf dieses große Ziel hinarbeiten.

Es hat gar nichts mit Realismus zu tun, wenn man sich für das als notwendig Erkannte nur deshalb nicht einsetzt, weil es im Augenblick keine Aussicht auf Verwirklichung hat. Adenauer ist aber auch Beispiel dafür, dass in der Politik nur die Grundsätze und die großen Ziele unverzichtbar sind. Die Mittel und Wege dazu dürfen nicht als unantastbar gelten. Wir müssen heute vor allem danach streben, dass die tatsächlich vorhandene Gemeinsamkeit des Selbstverständnisses und Interesses aller Europäer ihr verbindliches politisches Konzept findet. Die Europäische Politische Union ist nur durch neue politische und ordnungspolitische Entscheidungen zu schaffen. Sie dürfen zu den Nationalstaaten nicht in Konkurrenz stehen, sondern müssen diese ergänzen und überprüfen.

Von verschiedenen Seiten wird gerne behauptet, es habe Adenauer am rechten Willen gefehlt, die Versöhnungspolitik, die er im Westen eingeleitet und vollendet hat, auch nach Osten hin zu betreiben. Dort habe die seit 1969 regierende Koalition das Erbe Adenauers aufgenommen und mit ihrer sogenannten neuen Ostpolitik erfüllt. Diese Behauptungen sind aus zwei Gründen falsch: Erstens wird nicht zur Kenntnis genommen, was Adenauer wirklich getan hat. Zweitens wird die wesentliche Tatsache verdeckt, dass die Ostpolitik grundlegend anderen Bedingungen unterliegt als die Westpolitik. Die Ostpolitik seit 1969 mit Adenauers Westpolitik auf eine Stufe zu stellen, bedeutet deshalb, Unvergleichbares miteinander zu vergleichen.

Adenauer hat während seiner ganzen Regierungszeit das Ziel verfolgt, eine Verständigung auch mit der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten herbeizuführen. Er hat dies versucht, wo immer sich Möglichkeiten boten. Dass bei nüchterner Beurteilung der Lage diese Möglichkeiten nur gering waren, war nicht seine Schuld. Sein Verdienst aber war es, sich selbst und der Bevölkerung keine Illusionen gemacht und daher keine Scheinlösungen herbeigeführt zu haben.

Gerade die jüngsten Forschungen haben in eindrucksvoller Weise nachgewiesen, dass es Adenauer nicht an neuen und kühnen Einfällen mangelte. Aber die Sowjetunion wollte keine Lösungen, die nicht nur ihre eigenen Rechte und Interessen, sondern auch die der Deutschen berücksichtigt hätten. Die fundamentale Schwierigkeit zwischen der Sowjetunion und uns besteht darin, dass es keine gemeinsamen Grundvorstellungen und verbindenden politischen Überzeugungen gibt.

Dies darf eine Politik der Verständigung nicht ausschließen. Sie wird sich aber bereits im Ansatz von der Politik der Aussöhnung mit unseren westlichen Nachbarn unterscheiden. Denn sie kann weder auf gemeinsamen Grundlagen aufbauen noch gemeinsame Vorstellungen entfalten. Eine Politik der Verständigung mit unseren Nachbarn im Osten muss dagegen gegensätzliche, ja vielfach sich gegenseitig ausschließende Wert- und Zielvorstellungen überbrücken. Wir dienen dem Frieden nicht, wenn wir die tiefgreifenden Gegensätze verschleiern, wenn wir unsere eigenen Prinzipien verleugnen, indem wir uns angewöhnen, diskret darüber zu schweigen, und wenn wir so tun, als konnten sich beide Seiten einander angleichen. Das Trennende verschwindet nicht dadurch, dass man es nicht zur Kenntnis nimmt. Es wird auf diese Weise nur der öffentlichen Kontrolle entzogen. Eine tragfähige und dauerhafte Verständigung zwischen der Sowjetunion und uns kann es nur dann geben, wenn wir die Gegensätze nicht ausklammern. Wir müssen sie vielmehr in die Disziplin rationaler Auseinandersetzungen und offen geführter Verhandlungen nehmen.

Ostpolitik kann auch nicht darauf aufgebaut werden, dass anstelle des Gegensatzes zwischen Freiheit und Unfreiheit unterschieden wird zwischen fortschrittlichen und beharrenden Kräften und hinzugefügt wird: Die Fortschrittlichen auf beiden Seiten müssten gemeinsam die Beharrenden in beiden Lagern überwinden. Wer so Politik betreibt, kann für sich nicht in Anspruch nehmen, das Erbe Adenauers zu erfüllen. Ein Frieden, der nur auf Sicherheit und Kooperation beruht, nicht aber auch auf Freiheit und gerechtem Ausgleich der berechtigten Interessen aller Beteiligten, ist nur ein halber Frieden. Ein Selbstbestimmungsrecht, das sich mit der souveränen Gleichheit der Staaten begnügt, nicht aber die Möglichkeit einschließt, dass jedes Volk frei seine Regierungsform wählt, ist nur ein halbes Selbstbestimmungsrecht.

Wir sind auf dem besten Wege, uns mit solchen Halbheiten abzufinden, ja sie sogar als Erfolge zu verkaufen. Die Versöhnungspolitik von Konrad Adenauer im Westen hat dagegen den ganzen Frieden unter dem vollen Selbstbestimmungsrecht erreicht, wie es das Beispiel der Losung der Saarfrage beweist. Wir können es doch beinahe täglich erleben, wie unsicher der halbe Frieden ist. Jeder Konflikt wird von den Beteiligten als Sicherheitsgefährdung empfunden. Ständig besteht die Sorge vor einem Rückfall in die offene Konfrontation. Niemand wird abstreiten, dass auch zwischen den Staaten Westeuropas genug Gegensätze und Konflikte vorhanden sind. Weil hier aber ein ganzer, ein auf Freiheit und Gerechtigkeit gegründeter Frieden herrscht, kommt kein Mensch auf den Gedanken, dass die Konflikte die Sicherheit gefährden oder gar die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung heraufbeschwören konnten. Gerade weil wir uns auch als politische Erben Konrad Adenauers verstehen, sind wir nicht bereit, uns mit dem jetzt in der Ostpolitik herrschenden halben Frieden zu begnügen.

Wir wissen sehr genau, dass es in diesem Bereich sehr viel schwieriger ist, den wirklichen Frieden zu schaffen. Aber auch wenn über viele Jahre hinweg keine Aussichten bestehen, dass wir das unerlässlich Notwendige erreichen, dürfen gerade wir als Politiker nicht müde werden, es zu fordern und dafür zu arbeiten. Es hat weder Sinn noch gibt es eine Berechtigung, unsere eigenen Grundpositionen zu verleugnen. Wenn wir daran festhalten, dann ist es weder ein Zeichen von Starrheit noch von Einfallslosigkeit. Im Gegenteil!

Adenauer hat oft bewiesen, dass gerade derjenige Politiker, der das Grundsätzliche mit Festigkeit vertritt, gewagte Schritte einschlagen kann, um es zu verwirklichen. Ebenso gewinnt gerade der, der an seinen eigenen Rechtspositionen unbeirrbar festhält, den erforderlichen sicheren Halt, um sehr flexibel verhandeln zu können.

Die Gesellschaftspolitik Konrad Adenauers kann mit dem einen Satz umschrieben werden: Soziale Gerechtigkeit durch freie Wirtschaft. Adenauer vertrat in der Wirtschaftspolitik den Primat der Politik über die Wirtschaft. In der Sozialpolitik betrachtete er das Wohl und die Zufriedenheit der einzelnen Menschen als Kriterium der Qualität von Sozialgesetzen und staatlichen Maßnahmen. Es galt für ihn als selbstverständlich, dass die Wirtschaft ihre Kräfte nur in Freiheit entwickeln könne. Das setzt die freie unternehmerische Entscheidung ebenso voraus wie die Freiheit der Arbeitnehmer beim Aushandeln der Arbeitsbedingungen.

Die Freiheit der Wirtschaft war für Adenauer aber nur gerechtfertigt, wenn sie Dienerin der Menschen und dem sozialen und politischen Leben verpflichtet blieb. Wo immer im Namen sogenannter wirtschaftlicher Sachgesetzlichkeiten der Spielraum der Politik zu Lasten höherrangiger Ziele eingeengt werden sollte oder die Freiheit der Wirtschaft die Bevölkerung einem ungerechtfertigten Zwang zu unterwerfen drohte, griff Adenauer ein und nutzte die Kompetenzen seines Amtes. Was Konrad Adenauer in diesem Sinne getan hat, damit die Marktwirtschaft wirklich eine soziale wurde und unter seiner Regierung blieb, ist nur wenig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen. Der Grund liegt darin, dass es sich in der Regel um Einzelentscheidungen der Regierungspolitik handelte, über die die Auseinandersetzungen im Kabinett auszutragen waren.

Immer wieder prüfte Konrad Adenauer die sozialpolitischen Vorlagen daraufhin, was sie dem einzelnen Menschen an tatsächlichem Gewinn brächten. Es war seine ständige Sorge, dass die Entwicklung der Wirtschaft und die Organisationen staatlicher Sozialleistungen menschliches Maß behielten. Deshalb gab er in der Sozialpolitik der praktischen unmittelbaren Hilfe den Vorrang vor perfekten Plänen. Adenauer war überzeugt, dass diese Einstellung aufs Ganze gesehen die politisch klügere und langfristig die erfolgreichere sei. Und er behielt Recht.

Seine bedeutendsten sozialpolitischen Leistungen waren, um nur die zwei wichtigsten zu nennen, der Lastenausgleich und die dynamische Rente. Beide sind Ergebnisse, die in besonderer Weise auch der Grundhaltung Konrad Adenauers entsprachen: nämlich das, was den Menschen offenkundig dient, auch dann ins Werk zu setzen, wenn auch unter dem Gesichtspunkt abgesicherter Planung vielleicht größere Vorsicht geboten gewesen wäre. Aufs Ganze gesehen war Adenauer die soziale Komponente der Marktwirtschaft näher und sympathischer als die marktkonformen Prozesse. Aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen als Oberbürgermeister von Köln blieb er kritisch gegen übermäßige Konzentration wirtschaftlicher Macht und gab dem Mittelstand den Vorzug. Das wirtschaftspolitische Konzept der CDU hat dieser Grundeinstellung Konrad Adenauers immer entsprochen.

Sicherlich war und ist es nötig, unter den verschiedenen Bedingungen einmal mehr die einen, einmal mehr die anderen Elemente stärker zu berücksichtigen. Für uns steht jedoch fest: Die Marktwirtschaft ist nicht mehr sozial, wenn sie sich über den materiellen Wohlstand hinaus nicht auch an den geistigen und sozialen Bedürfnissen der Menschen orientiert. Die Sozialpolitik ist nicht mehr sozial, wenn sie den Bürger bevormundet. Sozialpolitik in unserem Sinne muss dem Bürger die allgemeinen Voraussetzungen eigenständiger Lebensführung sichern. Sie muss ihm helfen, seine individuellen Kräfte zu entfalten, damit jeder mehr aus seinem Leben machen kann.

Zieht man die Summe aus diesen politischen Überzeugungen Konrad Adenauers, so wird ihre Verankerung im christlichen Menschenbild überzeugend sichtbar. Welcher der Ansprüche des christlichen Standpunktes in der Politik sinnvoller Weise sein kann und wie ein Politiker sich als Christ zu verstehen hat, dafür kann uns Adenauer Vorbild sein. In einer Rede vor der Interparlamentarischen Union in Bern führte er im März 1949 aus: „Wir behaupten in der CDU/CSU nicht, dass wir allem Christen seien, geschweige denn, dass wir die guten Christen seien, aber wir wollen, dass die Werte des Christentums in der Wirtschaft und im Öffentlichen Leben auch in der Außenpolitik bestimmend sein sollen. Die Freiheit und die Würde der Person sind unsere Grundforderungen. Wir sind der Auffassung, dass jeder Mensch unabdingbare Rechte gegenüber dem Staat und der Wirtschaft sein eigen nennt. Wir sind gegen jede gefährliche Häufung wirtschaftlicher und politischer Macht bei Einzelpersonen, bei Korporationen irgendwelcher Art, auch beim Staate."

Niemand von uns gibt sich der Täuschung hin, dass sich der christliche Standpunkt zu einem bestimmten politischen Programm verarbeiten ließe. Es ist auch nicht möglich, daraus blind anwendbare Regeln für die Tagespolitik abzuleiten. Aber er gibt uns ein bestimmtes Bild vom Menschen, nach dem wir unsere Ziele bestimmen und an dem wir unsere praktische Politik orientieren. Der Mensch besitzt als Person eine unverlierbare und unantastbare Würde. Sie muss von der Gesellschaft anerkannt werden, ganz gleich, ob einer etwas leistet oder versagt. Der Mensch, der in die Verantwortung sittlicher Entscheidung gestellt ist, muss sie in dem Bewusstsein treffen, dass weder er sein Leben aus eigener Kraft vollenden noch dass er die Welt in ein Paradies verwandeln kann. Aus diesem Menschenbild ergeben sich Freiheit, Solidarität, Toleranz und Mal? als Orientierungswerte einer Politik aus christlicher Verantwortung.

Für Konrad Adenauer waren sie Bestandteile einer selbstverständlichen Lebenspraxis. Sie brauchten weder ausdrücklich theoretisch begründet noch betont öffentlich dargestellt zu werden.

Wilhelm Hausenstein schrieb in seinen „Pariser Erinnerungen" über Adenauer: „Sein Christentum war mir je und je umso deutlicher, als es nie aus einer jedes Misstrauen ausschließenden Diskretion heraustrat. Der Kanzler bewegte sich in seinem Christentum ohne die geringste Auffälligkeit, vielmehr mit aller Zurückhaltung einer unmittelbaren Realität, die gar nicht auf den Gedanken kommt, sich zu beweisen."

Konrad Adenauer hat einmal Politik als die Kunst bezeichnet, das auf ethischer Grundlage als richtig Erkannte zu verwirklichen. Ein solches Politikverständnis bedeutet einerseits, dass Politik, wenn sie menschlich sein soll, sich nicht nur an sittlichen Grundsätzen orientieren, sondern sich auch sittlich begründete Ziele setzen muss. Ein solches Politikverständnis erfordert aber auch, dass der Politiker die Kunst der Verwirklichung beherrschen muss. Es ist kein Zeichen besonderer moralischer Qualität, wenn der Politiker versucht, sein Ziel durch einzelne moralische Kraftakte durchzusetzen. Der Politiker darf es nicht an der nötigen Besonnenheit und Gewissenhaftigkeit fehlen lassen, die das Alltagsgeschäft der Politik erfordert, nur um moralisches Prestige zu gewinnen. Der Politiker muss vielmehr sein sittlich begründetes Ziel geduldig und sachgerecht in die gegebenen wirklichen Verhältnisse gewissermaßen übersetzen.

Die Realitäten zu beachten und zu respektieren, ist allerdings etwas ganz anderes, als die Realitäten einfach anzuerkennen. Realitäten anerkennen heißt, dass man sie legitimiert, dass man vor ihnen kapituliert und darauf verzichtet, das sittlich Gebotene zu verwirklichen. Zur Sittlichkeit des Politikers gehören der Wille und der Mut, für seine als gut erkannte Sache hart zu kämpfen. Adenauers Geschicklichkeit und Taktik werden von seinen Freunden wie Gegnern gleichermaßen gerühmt. Doch seine Klugheit hätte ihm wenig genützt, wären seine Ziele nicht sittlich legitimiert gewesen und wäre er nicht bereit gewesen, unermüdlich dafür zu kämpfen. Auf einem CDU-Parteitag rief Adenauer einmal aus: „Kampf ist wichtiger in der Politik als Werbung." Erben Adenauers müssen wir auch in diesem Punkt sein.

Wir, die CDU/CSU, können sein Werk weitsichtiger christlich-demokratischer Politik nur dann fortführen, wenn wir nicht nur seine Gedanken aufnehmen und weiterdenken, sondern zäh und entschlossen an den als richtig erkannten Zielen festhalten und keinen Kampf dafür scheuen.

Als Konrad Adenauer 1949 Kanzler wurde, ging es ihm nicht nur darum, Krisen zu bewältigen. Er hat den Aufbruch zu neuen Zielen für unser Land gewagt; er hat die Energien dafür in unserem Volke freigesetzt. Er gehörte zu den wenigen, wie Spaak einmal von ihm gesagt hat, die eine Vision besaßen, die fähig waren, das Unmittelbare der Zukunft, den materiellen Vorteil zu opfern für die Verwirklichung einer Idee. Darum sollte es uns allen auch heute wieder gehen!

 

Quelle: Broschüre, hrsg. von der Bundesgeschäftsstelle der CDU.