5. Dezember 1952

SPD und Außenpolitik

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Es ist gerade in unserer Zeit von entscheidender Bedeutung, ob eine Partei ein weltanschauliches Fundament hat und welche Weltanschauung sie vertritt. Die Frage, an der sich die Geister scheiden, lautet: Ist der Staat um des Menschen willen da oder ist es umgekehrt?

Die Lehre, dass der Staat die Gottheit ist, eine Lehre, welche die Person und die Rechte der Persönlichkeit verneint, ist die Quintessenz der materialistischen Auffassung. Sie bildet den Gegenpol zu der christlichen Auffassung. Der Kampf der materialistischen Weltanschauung gegen die christliche wird nicht mehr wie zur Zeit von Karl Marx in der Literatur, in Büchern und auf dem Katheder geführt. Er wird in unserer Zeit mit allen, auch den grausamsten Mitteln geführt. Er wird geführt mit Kerker, mit Folter, mit Tod, mit Konzentrationslagern, mit Versklavung. Sowjetrussland ist das Beispiel.

In diesem Kampf muss man seine Stellung beziehen. Man muss vor allem einmal eine geistige Abwehr entgegenstellen. Das kann man aber nicht tun mit negativen Protesten gegen den Kommunismus, wie das die Sozialdemokratische Partei tut. Man kann einen rettenden Schutzdamm nur errichten, wenn man sich bewusst und entschlossen gegen die gesamte materialistische Weltauffassung wendet und ebenso bewusst und entschlossen sich auf den Boden der christlichen Weltanschauung stellt. Und das tut die Sozialdemokratische Partei nicht. Sie vermeidet sogar ängstlich, irgendetwas zu tun, was sie in den Verdacht bringen könnte, dem Christentum Zugeständnisse zu machen. Sie kann anders auch gar nicht handeln, weil sie ihre Herkunft aus der materialistischen Weltanschauung nicht verleugnen kann und auch nicht verleugnen will. Darum werden und können der Sozialismus und die deutsche Sozialdemokratie niemals die Welt vor dem Kommunismus retten.

Wir liegen mitten in dem Spannungsfeld zwischen Sowjetrussland und seinen Satellitenstaaten einerseits und den Westmächten andererseits. Wer da nicht vernünftige Außenpolitik treibt, macht allen Aufbau illusorisch. Gerade die Außenpolitik ist in unserer Zeit von entscheidender Bedeutung. Nun wird der Bonner Regierung immer wieder von sozialdemokratischer Seite bestätigt, wie schlecht ihre Außenpolitik sei. Die Sozialdemokratische Partei vergisst, dass durch das Petersberg-Abkommen der weitaus größte Teil der westdeutschen Industrie vor der Demontage gerettet wurde; sie vergisst, dass die Ruhrbehörde, in die Westdeutschland eintrat, um wenigstens mit am Tisch zu sitzen, sang- und klanglos verschwunden ist. Man erinnere sich daran, welche Weltuntergangsprophezeiungen von sozialdemokratischer Seite damals erfolgten! Stillschweigend ist auch schon das Besatzungsstatut in vieler Beziehung abgebaut worden. Nun hat sich die SPD die Torpedierung des Deutschlandvertrages und des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft sowie des Militärbündnisses mit Großbritannien zum Ziel gesetzt.

Der Schwebezustand, der jetzt noch besteht, bedeutet politische Unruhe für die ganze Welt. Die Situation ermutigt Sowjetrussland, weiterhin alles zu tun, um das Zustandekommen des Vertragswerkes zu verhindern und damit die Integrität Europas unmöglich zu machen.

Der strategische Verteidigungsplan gegenüber einem etwaigen sowjetrussischen Angriff hängt entscheidend davon ab, ob deutsche Divisionen dabei sind oder nicht. Ich bin überzeugt davon, dass die Regierungen Großbritanniens, der Vereinigten Staaten, Frankreichs und der anderen beteiligten Länder dem Geist der abgeschlossenen, wenn auch noch nicht ratifizierten Verträge treu sind. Gerade deswegen empfinde ich es als bitteres Unrecht, wenn ein führender sozialdemokratischer Abgeordneter glaubt, dem deutschen Volk sagen zu müssen, man dürfe der französischen Politik nicht trauen. Von der sozialdemokratischen Opposition wird behauptet, das Zustandekommen des Vertragswerkes verhindere die Wiedervereinigung Deutschlands. Aber niemals und nirgendwo hat die SPD versucht, einen Beweis für diese Behauptung zu erbringen. Die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit hängt natürlich von den vier einstmals alliierten Mächten ab, also auch von Sowjetrussland. Diese vier Mächte waren einmal im Potsdamer Abkommen dahin übereingekommen, dass Deutschland seine Freiheit niemals wiedererhalten und unter dauernder Kontrolle gehalten werden sollte. Jetzt sagen sich im Deutschlandvertrag die drei Westalliierten von diesem verderblichen Abkommen los - und mehr noch als das, sie verpflichten sich darin, zusammen mit der Bundesrepublik für die Wiedervereinigung Gesamt-Deutschlands in Frieden und Freiheit einzutreten. Ist das nicht schon Grund, für das Vertragswerk einzutreten? Jetzt handelt es sich darum, der vierten Macht, der Sowjetunion, die Zustimmung abzuringen. Nicht durch Krieg, daran denkt niemand. Aber es gibt einen Weg, um zu vernünftigen Verhandlungen zu kommen. Zur Zeit verhält sich Sowjetrussland ablehnend. Wenn sich der Westen aber fest zusammengeschlossen hat, wenn die Europäische Verteidigungsgemeinschaft besteht, wird Sowjetrussland einsehen müssen, dass es weder durch kalten noch durch heißen Krieg weitere Erfolge erzielen kann. Es wird dann prüfen, ob es sich lohnt, den größten Teil seiner Arbeitskraft und seines Kapitals in die Kriegswirtschaft zu stecken. Das ist der Augenblick, an dem Sowjetrussland verhandeln wird. Kein Diktator paktiert mit schwachen oder ohnmächtigen Partnern, sondern nur mit starken.

Herr Ollenhauer hat auf dem Dortmunder Parteitag gesagt, "wenn wir an die Macht kommen" - was übrigens Gott verhüten wolle! -, "werden wir eine andere Methode anwenden und einen anderen Weg einschlagen". Was für eine Methode aber und was für einen Weg? Herr Ollenhauer und die anderen SPD-Redner haben sich anscheinend nicht für befugt erachtet, den Schleier, der das Geheimnis verdeckt, zu lüften. Das empfinde ich persönlich als ein großes Unrecht. Schließlich ist die SPD eine deutsche Partei und trägt die Mitverantwortung für das Schicksal des deutschen Volkes. Wenn die Sozialdemokraten wirklich glauben, in der ungeheuren Gefahr, in der das deutsche Volk schwebt, eine bessere Methode und einen besseren Weg zeigen zu können, dann sollen sie reden und raten. Solange sie das nicht tun, glaube ich mit Fug und Recht sagen zu können, dass sie keine andere Methode und keinen besseren Weg wissen. Daher ist das Verhalten der Sozialdemokratischen Partei letztlich gegen die Interessen des deutschen Volkes. Ich bin der Auffassung, dass der Tag der Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit schneller kommen würde, wenn die Sozialdemokratische Partei sich an der Arbeit in außenpolitischen Fragen beteiligen würde. In sozialdemokratischen Zeitungen war zu lesen, dass die oppositionelle Haltung der SPD die Verhandlungen mit den Westalliierten erleichtert habe. Das Gegenteil ist der Fall. In dem Deutschlandvertrag stehen Bestimmungen, die sich nicht darin befinden würden, wenn die SPD die Regierungskoalition unterstützt hätte.

Natürlich ist die Sozialdemokratische Partei auch gegen die europäische Integration. Sie sagt, man hätte die Zusammenarbeit aller demokratischen Regierungen Europas einschließlich Englands, Schwedens, Dänemarks und Norwegens herbeiführen müssen. Auch hier besteht der Wunsch, dass die Opposition das Rezept verraten möge, mit dem sie den Beitritt der genannten Länder zur Europa-Föderation erreichen will. Es ist wohl viel richtiger, die Föderation einmal mit sechs Staaten anzufangen, als überhaupt nichts zu tun. Nun nennen die Sozialdemokraten dieses Gebilde "Klein-Europa". Immerhin umfasst dieses Klein-Europa 160 Millionen Europäer, die eine ausgezeichnete Wirtschaft ihr eigen nennen. Wenn England seine z. Z. noch platonisch wohlwollende Haltung eines Tages in die Tat umsetzen wird, dann sind 200 Millionen Europäer zusammengeschlossen. Demgegenüber zählen die Vereinigten Staaten 150 bis 160 Millionen, Sowjetrussland 195 Millionen. Ist dieses Klein-Europa tatsächlich so klein? Wenn nicht zufällig Herr de Gasperi in Italien am Ruder wäre und Herr Schuman in Frankreich und ein Dr. Adenauer in Deutschland, wenn vielmehr drei Sozialdemokraten die Sache betrieben, dann fände sicherlich auch ein noch kleineres Europa die Zustimmung der SPD.

 

Quelle: Rheinischer Merkur vom 5. Dezember 1952.