5. Februar 1963

Vorwort zum Tätigkeitsbericht der Bundesregierung "Deutsche Politik 1962"

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer


Die Sicherung des Friedens in einer bedrohten Welt war auch im Jahre 1962 das oberste Prinzip unserer Politik. Allein und isoliert sind wir nicht in der Lage, unseren Platz zu behaupten, geschweige denn die Wiedervereinigung unseres Volkes zu erreichen. Dazu braucht Deutschland Freunde und Verbündete. Das freie Deutschland hat sich deshalb seit Bestehen der Bundesrepublik der freien Welt angeschlossen.

 

Die Außenpolitik

Nur die enge Zusammenarbeit der freien Völker der Welt sichert der Menschheit eine für unsere Begriffe lebenswerte Zukunft. Als Ergebnis dieser eindeutigen und klaren Politik wird eines Tages auch das Selbstbestimmungsrecht für das ganze deutsche Volk verwirklicht werden können. Ohne diese Geradlinigkeit, ohne unser Bündnis mit dem Westen, das vor zehn Jahren begründet und folgerichtig weitergeführt wurde, wären wir ein Volk ohne Einfluß, ohne Hoffnung und Zukunft. Deshalb strebte die deutsche Politik an der Seite unserer Freunde auch 1962 nach einer weiteren Vertiefung und Festigung unserer Bündnisse.

 

Festigung unserer Bündnisse

Der Ausbau der Atlantischen Bündnisgemeinschaft macht Fortschritte. Was sie für den Zusammenhalt der freien Welt bedeutet, zeigte sich während der politischen Hochspannung im Herbst. Als Mitglieder dieser Gemeinschaft können wir Vertrauen in die Zukunft des freien Berlin haben. Während meines Besuches im November 1962 in Washington wurde von Präsident Kennedy erneut bestätigt: die Freiheit und Lebensfähigkeit Berlins wird unter allen Umständen und mit allen Mitteln erhalten, eine Lösung der Deutschlandfrage kann nur unter Wahrung des Rechtes auf Selbstbestimmung gefunden werden.

Auch für die europäische Gemeinschaft brachte das Jahr 1962 Fortschritte von großer und bleibender Bedeutung. Ich war im Juli eine Woche lang Gast des französischen Staatspräsidenten de Gaulle und des französischen Volkes. Ich fühlte mich in Frankreich wie unter Freunden. Der Gegenbesuch General de Gaulles und seine begeisterte Aufnahme durch das deutsche Volk besiegelten die Solidarität zwischen beiden Nationen. Was diese Begegnungen bedeuteten, ging bei den Kundgebungen in Bonn und in den Hauptstädten unserer Bundesländer, auf Straßen, Plätzen und in Fabrikhallen in das öffentliche Bewußtsein ein: an die Stelle einer jahrhundertealten tragischen Spannung treten Versöhnung und Freundschaft, ohne die es auf unserem Erdteil keine freien Völker und kein geeintes Europa gibt. Angesichts der schweren Bedrohung, die auf der Welt lastet, ist die deutsch-französische Aussöhnung, getragen von der gemeinsamen Sehnsucht der Menschen und Völker nach Freiheit, eine Bürgschaft für den Frieden auf diesem Kontinent. Wir wollen an diesem Werk der Freundschaft 1963 weiterbauen und es vertiefen. Wir hoffen dabei besonders auf die Mitwirkung, die schöpferische Kraft und den Elan der deutschen und französischen Jugend.

Einen weiteren Fortschritt in der europäischen Politik brachte 1962 der Übergang der zweiten Etappe des Gemeinsamen Marktes und die beschleunigte Durchführung der Römischen Verträge seit dem Sommer. Oberstes Gesetz der europäischen Institutionen war bei der Gründung Einigkeit, sie muß auch oberstes Gesetz bleiben. Dem Beitritt Englands zur EWG kommt eine besondere Bedeutung zu. Die Bundesregierung hofft, daß diese Bestrebungen mit Geduld und gegenseitigem Verständnis zu einem guten Ende führen; dabei dürfen die Struktur des Vertrages von Rom und die bisherigen großen Erfolge des Gemeinsamen Marktes nicht gefährdet werden.

 

Verstärkung unserer Verteidigung

Das Ziel unserer Verteidigungspolitik ist und bleibt die Sicherung des Friedens und die Rettung unserer Freiheit. Diesem Ziel dient die Bundeswehr. Sie wurde und wird in hingebender und mühevoller Arbeit aufgebaut. Für unser Volk ist sie "Unsere Bundeswehr" geworden. Die beispielhafte Hilfsbereitschaft und der Einsatz unserer Soldaten, etwa bei der Flutkatastrophe in Norddeutschland, haben gezeigt, wie eng das Band zwischen Bevölkerung und Bundeswehr bereits geworden ist. Auch in den Augen unserer Verbündeten und der ganzen Welt stellt die Bundeswehr ein leistungsfähiges Instrument zu Lande, zu Wasser und in der Luft dar, das schon jetzt einen wichtigen Teil der Verantwortung für die Verteidigung Europas zu tragen imstande ist. Unsere Anstrengungen, dieses Instrument im Rahmen unserer Bündnisverpflichtungen zu stärken und zu vervollkommnen, haben durch die beiden NATO-Konferenzen dieses Jahr in Athen und Paris neue, zum Teil andere Impulse bekommen. Auch die Bahama-Beschlüsse des amerikanischen Präsidenten und des britischen Premierministers bedeuten einen wichtigen Schritt in unserer Allianz. Sie bestärken uns in unserer Überzeugung, daß es der NATO unter der Führung der Vereinigten Staaten gelingen wird, gestützt auf ausgewogene Streitkräfte und, wie wir hoffen, bald auch auf eine multilaterale atomare Streitkraft, jeden Gegner von jedem unüberlegten Schritt an jeder Stelle des Bündnisbereiches abzuschrecken.

Wir erwarten, daß 1963 das Jahr eines vertieften militärischen Erfahrungsaustausches und einer immer engeren vertrauensvollen politischen Konsultation sein wird. Jedermann weiß, und ich wiederhole es, daß die Verstärkung unserer Verteidigung kein Selbstzweck ist. Sie ist vielmehr ein von uns unter schweren Opfern geleisteter Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung der freien Welt. Diese Verteidigungsanstrengungen haben nur ein Ziel: einen Krieg zu verhindern. Daneben trat und tritt die Bundesregierung konsequent und entschlossen für eine allgemeine kontrollierte Abrüstung ein, damit der gefährliche Rüstungswettlauf überflüssig wird.

 

Sowjetische Provokation

Das Jahr 1962 war voller Spannungen und Sorgen; es hat die Welt hart an den Rand eines kriegerischen Abgrunds gebracht. Die Vorgänge in Berlin und Laos sind mit ernsten Belastungen verbunden gewesen; auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise waren wir einem nuklearen Weltkrieg nahe. Die Sowjetunion hatte insgeheim atomare Angriffswaffen auf dem Territorium ihres Satelliten Castro in unmittelbarer Nähe von Florida in Stellung gebracht. Dadurch wurde die Sicherheit der Vereinigten Staaten und damit die der atlantischen Verteidigungsgemeinschaft direkt bedroht. Wäre diese Störung der bis dahin bestehenden militärischen Lage zugunsten der Sowjetunion hingenommen worden, so hätte der Weltkommunismus seinen bisher größten Nachkriegstriumph erzielt. Die sowjetische Provokation wurde beantwortet mit der entschlossenen Reaktion der Vereinigten Staaten, die sich dabei auf die klar bekundete Solidarität der verbündeten NATO-Mächte und der Organisation der amerikanischen Staaten stützen konnte. Dadurch wurde die Durchführung der Absichten der Sowjetunion unterbunden.

Die Rücksichtslosigkeit des kommunistischen Vorgehens in Kuba zeigte jedoch erneut, daß die sowjetische Gefahr noch immer weltweit und überall gegenwärtig ist. Andererseits hat die Kuba-Krise auch die Richtigkeit unserer geradlinigen Politik bestätigt, an der wir festhalten müssen. Das deutsche Volk wird künftig wie bisher in der Gemeinschaft der freien Völker seinen Beitrag dazu leisten, den Frieden in Freiheit zu erhalten, um eines Tages auch den Ost-West-Gegensatz zu überwinden. Starke militärische Kräfte sind und bleiben die notwendige Voraussetzung, damit die geistige und wirtschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kommunismus erfolgreich weitergeführt werden kann.

Im Jahre 1962 ist im Fernen Osten eine Entwicklung besonders deutlich geworden, die auch für uns in Mitteleuropa in nächster und in weiterer Zukunft von großer Bedeutung werden kann: die Gegensätze zwischen China und der Sowjetunion und das Ringen zwischen China und Indien. Auch der chinesische Überfall auf das indische Volk erweist sich als eine warnende Lehre. Diese Tatsache sowie die chinesische Behauptung, nur in Rotchina sei die Lehre Lenins noch unverfälscht, gibt den Russen vielleicht zu erkennen, daß ihnen aus China dereinst größere Gefahren drohen können als aus dem Westen, dem ideologische kriegerische Angriffsabsichten fremd sind.

 

Kommunistische Bedrohung der Welt

Wir dürfen aber nicht der Selbsttäuschung erliegen, als verminderten diese Vorgänge schon heute die kommunistische Bedrohung der Welt. Noch gibt es keine Anhaltspunkte dafür, daß sich in der Deutschlandfrage die kommunistischen Ziele tatsächlich geändert hätten, daß der Druck auf die Deutschen in der Sowjetzone schwächer und die Einkreisung Berlins weniger bedrohlich geworden seien. Im Gegenteil: die Mauer quer durch Berlin war auch 1962 eine Stätte und ein Symbol der blutigen Unterdrückung der Freiheit. Was für die Vergangenheit richtig war, gilt auch für die Zukunft. Wenn wir mit großer Geduld unsere klare Politik fortsetzen, wird auch Moskau auf lange Sicht zu der Überzeugung kommen, daß eine Deutschlandpolitik auf der Grundlage der Selbstbestimmung aller Deutschen für die Sowjetunion am vorteilhaftesten ist. Dieses Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein wesentlicher Bestandteil der Freiheit; was man in den letzten Jahren so vielen jungen Nationen zugestanden hat, kann man dem deutschen Volk nicht vorenthalten.

Ministerpräsident Chruschtschew hat erklärt, gewisse Überreste des zweiten Weltkrieges in Europa müßten liquidiert werden. Diese Überreste bestehen aber für uns Deutsche vor allem in der Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes für unser Volk durch Sowjetrußland. Durch dieses Nein zur Selbstbestimmung wird die Entspannung in der Welt ebenso verhindert wie die Normalisierung der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Einen wesentlichen Beitrag für beides würde die sowjetische Regierung zunächst dadurch leisten, daß sie eine Verbesserung der Verhältnisse in der von ihr noch immer besetzten Zone Deutschlands in allen Bereichen des Menschlichen zuließe.

Wir sind der festen Überzeugung, daß eine friedliche und gerechte Lösung der deutschen Frage eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Erhaltung und Stärkung des Weltfriedens ist. Aber unsere immer wieder der Sowjetunion gegenüber betonte Bereitwilligkeit zu einer Vereinbarung muß nach wie vor dort ihre Grenzen finden, wo der Bevölkerung das Recht auf freie Entscheidung über ihre Staats- und Lebensform und auf freie Wahl ihrer Freunde und Partner geleugnet und vorenthalten wird. Das sind wir unseren Brüdern und Schwestern, die noch in Unfreiheit leben, schuldig.

 

Innenpolitischer Leistungsbericht

Der innenpolitische Leistungsbericht der Bundesregierung für das Jahr 1962 zeigt wieder erfreuliche Fortschritte. Alles, was erreicht wurde, ist das Ergebnis einer seit 1949 zäh und stetig durchgehaltenen Politik, für die zunächst außenpolitisch die Grundlagen gelegt wurden. Dadurch erwarben wir uns nach einem Zusammenbruch ohnegleichen Vertrauen. Es ist also gerade auch für unsere wirtschaftliche und soziale Entwicklung notwendig, daß wir diese Politik gradlinig fortsetzen und das bisher in der Welt erworbene Vertrauen erhalten.

 

Die Entwicklung der Wirtschaft

Wir konnten auch 1962 weiterhin die Früchte des nun schon 13 Jahre andauernden, zielbewußten Strebens der Bundesregierung und aller Schichten der Bevölkerung ernten. Von Jahr zu Jahr vergrößert sich der Erfolgsanteil jedes einzelnen. Die Wirtschaft als Grundlage dieser Entwicklung wuchs von neuem. Die Produktion stieg an, die Vollbeschäftigung brachte die Einstellung weiterer Gastarbeiter, über 700.000 von ihnen sind jetzt in Deutschland tätig. Andererseits führte die Abflachung des Anstieges der Beschäftigungszahl zusammen mit einer weiteren Arbeitszeitverkürzung zu einer Verringerung der Expansion. Die gesamtwirtschaftliche Produktivität je Erwerbstätigem nahm 1962 um weniger als 3 v.H. zu. Die reale Zunahme des Bruttosozialprodukts ermäßigte sich weiter auf rund 4 v.H. In den Vorjahren betrug sie noch 5,3 bzw. 8,8 v.H. Demgegenüber weiteten sich die Ansprüche erheblich stärker aus. Sie betrugen insgesamt rund 8,5 v.H.

Diese Ausweitung der Nachfrage über das reale Wachstum hinaus hat zu dem weiteren Preisanstieg im Jahre 1962 entscheidend beigetragen. Diese Preiserhöhung schlug sich auch in einer Erhöhung der Kosten der Lebenshaltung nieder. Die Anhebung des inländischen Kosten- und Preisniveaus ließ - zusammen mit anderen Einflüssen - die Einfuhr stärker wachsen als die Ausfuhr. Der Überschuß im Waren- und Dienstleistungsverkehr mit dem Ausland ging von 6,5 Mrd. DM in Jahre 1961 auf schätzungsweise 2,5 Mrd. DM zurück. Dennoch ist das Jahresergebnis von 1962 durchaus zufriedenstellend. Die Grundlage der deutschen Wirtschaft ist gesund. Ich bin daher auch für die Zukunft zuversichtlich. Unsere wirtschaftliche und soziale Entwicklung wird weiter aufwärts gehen. Wesentlich ist jedoch, daß wir richtig handeln.

Wir dürfen nicht über unsere Verhältnisse leben. Wir müssen energisch die Anpassung an die veränderten Wachstumsbedingungen vollziehen. Wir dürfen uns nicht der Erkenntnis verschließen, daß die Periode des stürmischen Wiederaufbaues beendet ist. Eine weitere Steigerung des Bruttosozialprodukts ist schwieriger geworden. Das beweist die geringe zukünftige Zuwachsrate an Arbeitskräften. In dem Jahrzehnt von 1950 bis 1960 stieg die Zahl der Erwerbstätigen um rund 25 v.H. Für das Jahrzehnt von 1960 bis 1970 kann insgesamt nur mit einer Steigerung von 3 bis 5 v.H. gerechnet werden. Wir müssen uns daher daran gewöhnen, daß auch für unsere Wirtschaft insgesamt gesehen eine Periode normalen Wachstums der Produktion, der Umsätze und des Verbrauchs begonnen hat. Wie ich schon in meiner letzten Regierungserklärung festgestellt habe, geht es nunmehr darum, das Errungene zu bewahren und es in maßvoller Weise weiterzuführen. Der Appell an alle zum Maßhalten ist allzu berechtigt, besonders auch zum Maßhalten der öffentlichen Hand. Die öffentliche Haushaltspolitik muß sich daher auf allen Ebenen an der realen Wachstumsrate des Sozialprodukts orientieren. Das gilt insbesondere für die Ausgaben auf dem Baugebiet.

 

Verantwortung für das Wohl des Ganzen

Die Bundesregierung wird alles tun, um durch abgestimmte Maßnahmen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zu einer stabilen Wirtschaftsentwicklung beizutragen. Aber auch die Unternehmer müssen bei allen ihren Dispositionen der Forderung nach einer stabilen Kosten- und Preisentwicklung Rechnung tragen. Ihre Investitionsprogramme sollten sich noch mehr als bisher auf Rationalisierung ausrichten. Die Möglichkeiten der Fremdfinanzierung sollten verstärkt wahrgenommen werden. Etwa auftauchenden Absatzschwierigkeiten sollte nicht durch Produktionseinschränkung, sondern durch eine elastische Preispolitik begegnet werden. Von den Tarifpartnern muß erwartet werden, daß sie ihre Lohnpolitik nicht mehr vorwiegend an der Arbeitskräfte-Knappheit orientieren. Sie sollten sie vielmehr in den Dienst der Preisstabilität stellen. Die Erhaltung eines angemessenen Wachstums des Bruttosozialprodukts für die Zukunft und die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft verlangen zunächst ein Zurückstecken in den Lohnforderungen und auch einen Verzicht auf weitere Arbeitszeitverkürzungen.

Ich bin überzeugt, daß die große Mehrheit unseres Volkes genau so denkt. Sie ist gegen überhöhte Ansprüche und überhöhte Zugeständnisse. Nur wenn alle Gruppen des deutschen Volkes sich von der Verantwortung für das Wohl des gesamten Volkes leiten lassen, werden wir das Erreichte sichern und bewahren können.

Damit unterstreiche ich auch eine wesentliche Forderung unserer Finanzpolitik. Die Deckung des Bundeshaushalts 1963 ist aus den dem Bund zur Verfügung stehenden Finanzquellen noch nicht möglich gewesen. Es bleibt eine größere Deckungslücke infolge der zwangsläufigen Aufgaben des Bundes und des langsameren Wachsens des Sozialprodukts. Daher mußten und müssen wir bei allen finanzpolitischen Planungen mit äußerster Sparsamkeit zu Werke gehen und die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit im Auge behalten. So sichern wir am wirkungsvollsten auch unsere Währung. Ihren Schutz und ihre Wertbeständigkeit machte die Bundesregierung seit 1949 zum obersten Grundsatz ihrer Finanzpolitik in der klaren Erkenntnis, daß wir sonst unsere freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und das Wohlergehen jedes einzelnen aufs Spiel setzen.

 

Landwirtschaft - Verkehrspolitik - Bundespost

Erhöhte Anforderungen wurden 1962 an die deutsche Landwirtschaft gestellt durch die Zusammenführung der nationalen Agrarwirtschaften im Gemeinsamen Markt. Im Hinblick auf das Ziel der Erhaltung und organischen Verflechtung unserer Landwirtschaft in der EWG hat die Bundesregierung seit Jahren eine Politik auf weite Sicht geführt. Sie half den Bauern, ihre Höfe auf zeitgemäßere Produktionsmethoden umzustellen. Sie förderte die Verbesserung der Agrarstruktur durch Flurbereinigung, Ausbau des Wegenetzes, Aufstockung und Aussiedlung der Betriebe. Sie trug zur Erhöhung der Qualität und zur Absatzförderung landwirtschaftlicher Produkte bei.

In den "Grünen Plänen" wurden seit Jahren alle diese Maßnahmen organisch zusammengefaßt und aufeinander abgestimmt. Dieser schwierige Prozeß der Umstellung auf die Begegnung mit der vollen Konkurrenz in der europäischen Großraumwirtschaft verlangte Umsicht und Entschiedenheit. Die ersten Marktregelungen wurden 1962 getroffen, ohne daß sich pessimistische Voraussagen über ihre Folgen erfüllten. Wir werden und müssen weiterhin und in verstärktem Maße unsere Landwirtschaft wie die deutsche Öffentlichkeit auf diesen Wettbewerb mit ihren Partnern vorbereiten, immer auch mit dem Blick auf den Verbraucher.

Wie in der Landwirtschaft war in der Verkehrspolitik die europäische Zusammenarbeit im Rahmen der EWG zu fördern. Im nationalen Bereich stellte der dynamische moderne Verkehr die Bundesregierung nach dem Wiederaufbau des Verkehrswesens sowie der Neu- und Umgestaltung seiner Rechtsordnung vor wachsende Aufgaben. In verhältnismäßig kurzer Zeit wurde Außergewöhnliches geleistet. Rund 80 Mrd. DM wurden seit Bestehen der Bundesrepublik im Verkehr investiert. Der Ausbau der Fernstraßen, der Wasserstraßen und der Bundesbahn vollzieht sich nach langfristigen Ausbauplänen. Seeschiffahrt und Luftfahrt mußten neu erstehen. Beide haben heute wieder eine beachtliche Stellung in der Welt. In den kommenden Jahren wird die Verkehrspolitik ihre größte Aufmerksamkeit dem Ausbau der Verkehrswege, der Beseitigung der Verkehrsnot in den Großstädten und der Entwicklung der Verkehrsordnung, besonders auch im Hinblick auf den Schutz des Menschen, zu denen ja doch wohl auch die Fußgänger gehören, zu widmen haben.

Nicht weniger große Aufgaben stellten sich mit dem allgemeinen Aufschwung der Wirtschaft unserer Bundespost. Sie hatte seit 1949 einen stetig, zuweilen sprunghaft ansteigenden Nachrichtenverkehr zu bewältigen, und zwar gleichzeitig mit dem Wiederaufbau der zerstörten und dem Bau neuer Einrichtungen des Post- und Fernmeldewesens. Dank der Modernisierung und Rationalisierung konnten die erheblich gestiegenen Anforderungen der Wirtschaft und der Öffentlichkeit mit einem verhältnismäßig geringen Personalzuwachs erfüllt werden. Während 1949 3,9 Milliarden Briefsendungen befördert wurden, hat sich diese Zahl bis Ende 1962 mehr als verdoppelt. Die Zahl der Postscheckkonten stieg von etwa einer Million auf 2,1 Millionen. Ende 1962 waren 11,7 Millionen Sparkonten gegenüber 1,9 Millionen 1949 vorhanden. Fernsprechhauptanschlüsse waren es 1,2 Million 1949, heute sind es 3,9 Millionen, über 87 v.H. der Ferngespräche werden heute bereits im Selbstwählferndienst abgewickelt, während es 1949 nur 10 v.H. waren. Mit rund 44.000 (1949: 1.611) Telexanschlüssen besitzt die Bundesrepublik heute mehr Fernschreibteilnehmer als das ganze übrige Europa.

 

Sozialreform - Wohnungsbau - Gesundheitswesen

Nach der Reform der Rentenversicherung 1957, die unseren Rentenempfängern von Jahr zu Jahr steigende Einkommen brachte, hat 1962 die Bundesregierung durch die Einbringung mehrerer Gesetze, die innerlich miteinander verbunden sind, das genannte Sozialpaket, eine weitere Etappe der Sozialreform, eingeleitet. Der erste wie dieser zweite Schritt fußten auf den Erfolgen unserer Politik der sozialen Marktwirtschaft und geben weiten Bevölkerungskreisen einen steigenden Anteil am wachsenden Wohlstand. Die in dem "Sozialpaket" zusammengefaßten Gesetze gehen davon aus, daß der Mensch zunächst aus eigener Kraft die Lebensrisiken bewältigen soll. Sie helfen ihm dabei, aber wollen auch der eigenen Verantwortung Raum lassen, insbesondere angesichts der erfreulich verbesserten Einkommens- und Lebensverhältnisse. Mit dem Gesetzentwurf über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall wurde die Weiterentwicklung eines sehr wichtigen gesellschaftlichen Problems dem Parlament zur Entscheidung vorgelegt: die Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten in dieser Frage.

Dem sozialen Fortschritt dient auch der Entwurf des Krankenversicherungs-Neuregelungsgesetzes mit einer Reihe erheblich verbesserter, auch vorsorgender Leistungen zugunsten des Versicherten und seiner Angehörigen, denen im Interesse des Wesens der Krankenkassen eine angemessene Selbstbeteiligung gegenübersteht. Hand in Hand damit geht eine Neuregelung der Kindergeldzahlung durch den Entwurf eines Bundes-Kindergeldgesetzes. Diese drei Gesetze bilden eine innere Einheit. Aus der Vorlage der Gesetzentwürfe ergibt sich die Notwendigkeit von Verbesserungsvorschlägen zugunsten der Kriegsopfer, der Flüchtlinge und ehemaligen Kriegsgefangenen; sie werden vorgelegt werden.

Mit der Fertigstellung von über einer halben Million Wohnungen sind wir 1962 dem Ende der Wohnungsnot einen großen Schritt näher gekommen. Besonders muß hervorgehoben werden, daß die Wohnungen insgesamt größer und schöner wurden und der Anteil der Familienheime weiter zugenommen hat. Eigentum an Haus und Boden ist die ursprünglichste und sinnfälligste Form von Eigentum überhaupt. Die angespannte Lage auf dem Baumarkt darf nicht dazu führen, dass die Bausparer auf der Strecke bleiben. Deshalb wird die Bundesregierung nichts unversucht lassen, ganz besonders im Interesse der Bausparer und der sozial Schwachen, die Baupreise zu stabilisieren und den Vorrang des Familienheimbaues und des sozialen Wohnungsbaues zu sichern. Die Ordnung des Boden- und Baumarktes ist Voraussetzung für die großen Zukunftsaufgaben des Städtebaus und der Dorferneuerung im Rahmen einer besseren Raumordnung.

Im Jahre 1962 wurde das Bundesministerium für Gesundheitswesen eingerichtet. Es geht ihm darum, die vielfältigen wissenschaftlichen und technischen Aufgaben auf diesem Gebiet in Zusammenarbeit mit den Bundesländern zu koordinieren und einheitlich zu lösen. Die Probleme der Volksgesundheit häuften sich, nicht nur auf rein medizinischem Gebiet, sondern auch durch die zunehmende Verschmutzung des Wassers und der Luft infolge der Industrialisierung. Außerdem waren 1962 akute Seuchengefahren zu bekämpfen. Der Erfolg zeichnete sich bereits durch einen großen Rückgang der Kinderlähmungsfälle ab. Für die Zukunft muß nach den schmerzlichen Erfahrungen dieses Jahres auf eine strengere Prüfung neuer Arzneimittel hingearbeitet werden. Es liegt der Bundesregierung sehr daran, die Erkenntnis zu verbreiten, welch hohes Gut die Volksgesundheit und wie wichtig es daher ist, trotz aller starken beruflichen Belastungen die Verbindung des Menschen mit der Natur zu sichern.

 

Familien- und Jugendpolitik - Schaffung von Eigentum - Wissenschaft

Besondere Aufmerksamkeit wandte die Bundesregierung wie von jeher auch 1962 einer wirksamen Familien- und Jugendpolitik zu. Es ist und bleibt ihr Ziel, der Familie mit Kindern in unserer Gesellschaft den zentralen Rang zu sichern, der ihr für Bestand und Zukunft unseres Volkes zukommt. Die Familie braucht Anerkennung und Beistand, um eine leistungsfähige, charakterfeste junge Generation heranbilden zu können. Obwohl die Bundesregierung diese Aufgaben wegen der hohen Kriegsfolgenbelastungen erst spät beginnen konnte, sind bereits beachtliche Erfolge erzielt worden: Steuererleichterungen, Bau familiengerechter Wohnungen, insbesondere von Eigenheimen, Einkommensverbesserungen. In der Zukunft wird besonderes Gewicht auf Eigentumsbildung, Verbraucherschutz, Hilfen zur Berufsbildung gelegt werden. Die Jugend braucht Raum und Anregung zur Entfaltung verantwortlicher Tätigkeit, auch im Zusammenwirken mit jungen Menschen anderer Länder und Völker. Der Bundesjugendplan soll fortgeführt und sorgfältig ausgestattet werden.

Ihrem sozialpolitischen Programm der Schaffung und breiteren Streuung von Eigentum folgend hat die Bundesregierung bis jetzt drei große Unternehmungen aus Bundesbesitz in die Hand von rund 1,3 Million privaten Aktionären übergeführt, nämlich die Preussag, die Vereinigte Tanklager- und Transportmittelgesellschaft und das Volkswagenwerk. Damit sind breite Schichten der Bevölkerung Aktionäre bedeutender Industrieunternehmungen geworden und haben frei verfügbares, individuelles Eigentum an den Produktionsmitteln der modernen Wirtschaft erworben. Diesen Weg gilt es konsequent fortzusetzen. Die Bundesregierung wird in absehbarer Zeit durch die Privatisierung eines weiteren Bundeskonzerns erneut einen Beitrag zur Bildung privaten Vermögens unserer Bevölkerung leisten.

Die Eingliederung und Entschädigung der Vertriebenen, Flüchtlinge und Kriegssachgeschädigten seit 1945 stellt eine einzigartige Leistung der Bundesregierung, des Bundestages, der Bundesländer und des deutschen Volkes dar. Dieser Prozeß muß weiter systematisch gefördert werden, wenn auch Arbeitsbeschaffung und Sicherung des Existenzminimums bereits gelungen sind. Fast vier Fünftel der vielen Millionen, die in der Bundesrepublik Zuflucht fanden, haben zumutbaren Wohnraum. Allein 1962 wurden 1,6 Mrd. DM Hauptentschädigung ausgezahlt. An weiteren Aufgaben sind in Angriff genommen: beschleunigte Auszahlung der Hauptentschädigung, bessere Altersversorgung der früher Selbständigen ohne ausreichende Rentenansprüche, soziale Gleichstellung der Sowjetzonenflüchtlinge mit den Vertriebenen, ein Beweissicherungs- und Feststellungsgesetz über die Vermögen in Mitteldeutschland, die Festigung bereits geschaffener Existenzen in Industrie, Handwerk, Gewerbe und Landwirtschaft und schließlich die verbesserte Ansiedlung der vertriebenen Bauern.

Der wachsenden Bedeutung, die in unserer modernen Industriegesellschaft der wissenschaftlichen Forschung und technischen Entwicklung zukommt, begann die Bundesregierung bereits 1955 durch Errichtung des Bundesministeriums für Atomkernenergie Rechnung zu tragen. Seine finanziellen Mittel wurden von Jahr zu Jahr erhöht. Nach der Erweiterung des Aufgabenbereiches dieses Ministeriums um die Weltraumforschung und Raumfahrttechnik wurden Ende 1962 auch die Zuständigkeit für die allgemeine Förderung der Wissenschaft und die Koordinierung der übrigen Aufgaben des Bundes auf dem Gebiet der Wissenschaftsförderung hier zusammengefaßt. Ich hoffe, daß damit von der organisatorischen Seite her eine Entwicklung eingeleitet worden ist, die sich günstig für die gesamte deutsche Wissenschaft, Forschung und Technik auswirkt.

Den Entwicklungsländern hat die Bundesrepublik, die in den vergangenen Jahren noch vordringlich mit dem eigenen Wiederaufbau beschäftigt war, neuerdings verstärkte Hilfe geleistet. Sie stützte sich dabei auf die ersten Erfahrungen, die in der Vergangenheit gesammelt wurden. Heute hat sie sich in die Spitzengruppe jener Länder des freien Westens eingereiht, die mit Fachkräften und mit Kapital die Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas bei ihrem Aufbau fördern.

 

Rechtsreform - Notstandsgesetze

In der Tätigkeit des Bundesjustizministeriums, das unmittelbar nach 1949 mit der Wiederherstellung der Rechtseinheit und der Reinigung des Rechts von Bestandteilen der nationalsozialistischen Zeit und mit dem Schutz der Demokratie befaßt war, traten, wie seit drei Jahren, 1962 die großen Reformgesetze in den Vordergrund: der Entwurf des neuen Strafgesetzbuches, die Reform der Zivilgerichtsbarkeit, das Aktiengesetz, der Urheberrechtsentwurf, das GmbH-Recht und das Genossenschaftsgesetz. Folgen muß noch die große Reform des Strafprozesses und des Strafvollzugs. Von großer Wichtigkeit ist ferner die fortschreitende rechtliche Gestaltung der internationalen und supranationalen Beziehungen.

Zur Sicherung alles dessen, was wir bisher durch unsere Außen- und Innenpolitik, durch unsere wirtschaftliche Leistung und unsere Sozialordnung aufgebaut haben, ist eine wirksame Notstandsgesetzgebung notwendig. Unser Staat muß endlich das bekommen, was sich nahezu alle Länder der westlichen Welt längst geschaffen haben: eine grundsätzliche Regelung für den Fall des Staatsnotstandes, durch die wir uns gegen Bedrohung von außen und innen schützen können. Unsere Verbündeten haben sich im Deutschlandvertrag für den Fall eines öffentlichen Notstandes alle diejenigen Rechte vorbehalten, die sie zur Erhaltung der Sicherheit ihrer in der Bundesrepublik stehenden Streitkräfte ausüben müssen. Dieser Vorbehalt kann erst erlöschen, wenn wir uns eine eigene Notstandsverfassung geschaffen haben. Auch der Ablösung dieses Vorbehaltsrechts der Verbündeten dient der Entwurf einer Notstandsverfassung, den die Bundesregierung im vergangenen Jahr dem Bundestag vorgelegt hat. Diese wichtigste Änderung des Grundgesetzes seit seinem Bestehen wird, wenn die gesetzgebenden Körperschaften der Regierungsvorlage im wesentlichen zustimmen, endlich eine eigenständige Notstandsverfassung bringen, die nicht nur wirksam ist, sondern auch in ihren rechtsstaatlichen Sicherungen weitergeht als die Notstandsverfassungen aller übrigen vergleichbaren Länder der westlichen Welt.

 

Das Erreichte bewahren und sichern

Schon diese nicht vollständige Aufzählung der Jahresleistungen im Jahre 1962, insbesondere der gesetzgeberischen Arbeit der Bundesregierung vor ihrer Umbildung im vergangenen Dezember, ist ein Beweis für ihre Aktivität im ersten Jahr der vierten Wahlperiode. Ich habe bereits vor dem Bundestag sehr nachdrücklich festgestellt, daß keine Regierung etwas leisten kann, wenn nicht das Parlament sein Siegel auf ihre Arbeit drückt. Auch habe ich das gesamte Parlament dringend darum gebeten, die Arbeit der Regierung, kritisierend oder fördernd, zu unterstützen, auf jeden Fall aber zügig dabei mitzuwirken.

Mit einer ernsten Überlegung möchte ich diesen Jahresbericht schließen. Wenn wir ihn und die nachfolgenden Berichte der einzelnen Bundesministerien gründlich und sachlich prüfen, dann erscheint manche Kritik an der Regierung ungerechtfertigt. Vielen Kritikern ist offenbar die Aufwärtsentwicklung in den letzten Jahren allzu selbstverständlich geworden. Sie haben vergessen, wie schwer der Wiederaufbau war und wie gefährdet er noch ist angesichts der labilen weltpolitischen Situation. Es erhebt sich auch die Frage, ob über Wohlstand, krassem Erfolgsdenken, überhöhten materiellen Ansprüchen nicht der staatspolitische Blick auf das Ganze verloren ging, ob nicht der Sinn für Mitverantwortung getrübt wurde und nicht Vorurteile und Entstellungen das klare politische Denken überwucherten. Insofern hat das Jahr 1962 gewisse Enttäuschungen gebracht, obwohl in Volk, Parlament und Regierung mit großem Ernst, Opfersinn und Hingabe gearbeitet wurde und gearbeitet wird.

Unsere freiheitliche Demokratie, unser politisches Handeln müssen gegründet sein auf nüchternem Wirklichkeitssinn, auf feste Rangordnungen und Werte. Was uns not tut, ist ein gesundes Unterscheidungsvermögen für wichtige und untergeordnete politische Fragen, ein vernünftiger Gebrauch unserer Freiheit, eine kritische Selbstkontrolle gegenüber Gefühlswallungen und Schlagworten.

Wir wollen im Vertrauen auf Gottes Hilfe klar, besonnen und unbeirrt unseren politischen Weg im Jahre 1963 wie bisher weitergehen. Es gilt, das Erreichte zu bewahren, zu sichern und darauf weiterzubauen für die Zukunft des ganzen deutschen Volkes und der Welt.

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 23 vom 5. Februar 1963, S. 189f., 192-194.