5. Januar 1967

Tischrede zum 91. Geburtstag

 

Verehrter Herr Bundeskanzler, meine lieben Parteifreunde,

ich denke, ich kann Sie alle so nennen, denn - auch wenn der Vorsitzende der CSU hier ist - wir gehören zusammen.

Meine Herren, heute bin ich 91 Jahre alt geworden. Und das erscheint manchmal eine furchtbar lange Zeit. Wenn ich so rückwärts blicke, ist es auch eine lange Zeit. Ich darf sie kurz, in einzelnen Bildern, die mir vor Augen schweben, kennzeichnen.

Als ich vier Jahre alt war, habe ich Wilhelm I. gesehen. Damals wurde der Dom, der Kölner Dom, vollendet; das war das große Dombaufest und die Staatsoberhäupter der verschiedenen Länder waren in Köln versammelt. Ich ging mit meinem Vater über die Straße, und da kam in einer Kalesche gefahren Wilhelm I. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was man unter einer Kalesche versteht; ein offener Wagen, zweisitzig, zwei Pferde davor. Er hatte einen Diener neben sich, und er fuhr daher, ungeschützt durch irgendwen, und mein Vater machte mich darauf aufmerksam: "Sieh mal da, das ist der Kaiser!" Das war einer meiner großen Eindrücke.

Dann, man wuchs heran - ich hatte zwei Brüder, die beide älter waren als ich. Mein Vater ist in der Schlacht von Königgrätz schwer verwundet worden, und wir haben zahlreiche politische Gespräche geführt, weniger wegen Königgrätz, aber wegen der Bismarck'schen Politik. Und der Gegensatz, der war: Mein Vater, der schwor, wenigstens zunächst, auf die Bismarck'sche Politik, weil sie das Reich gebracht hatte, und wir drei Jungens, wir waren empört über die Bismarck'sche Innenpolitik, weil sie gegen jede Freiheit war. Einmal wegen des Kulturkampfes - es wird sich keiner mehr heutzutage vorstellen können, was damals geschah und was ich aus dem Munde der Betreffenden selbst gehört habe, dass ein Geistlicher verkleidet, die Geistlichen in der Eifel, in den Scheunen die Messen lesen mussten. Und das Dorf wurde umstellt von Leuten aus dem Dorfe, die aufpassten, ob die Gendarmen kamen. Und das empörte uns Jungens bis ins Innerste. Und der zweite große Fehler - ich muss das hier sagen, so groß seine Außenpolitik gewesen ist -, das war dieses Sozialistengesetz. Ein Gesetz, meine Damen und Herren, das ich [unverständliche Passage] gesehen habe; es war eine Fotografie, wie die Sozialisten in Leipzig verhaftet wurden am Heiligen Abend und außer Landes gebracht. Ein Landesverweis ist nach meiner Meinung ungefähr das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann, denn das geht gegen sein natürliches Recht, und ausgerechnet am Heiligen Abend so etwas zu tun. Damit fing die Verfolgung an. Und meine verehrten Damen und Herren, schließlich hat jedes Land die Sozialisten, die es verdient, und wenn - Sie wissen, dass ich kein Sozialist bin, ich will es auch nie werden -

(Zwischenrufe, Gelächter; Zwischenbemerkung Adenauers: Herr Präsident, hier sind Sie nicht immun! - Gelächter.)

Also, diese beiden Vorgänge, meine Damen und Herren, einmal der Kulturkampf und zweitens das Sozialistengesetz, haben die deutsche Zukunft - ich weiß nicht, ob sich alle Menschen darüber klar sind - in entscheidender Weise beeinflusst. Dadurch ist das Zentrum gegründet worden. Das Zentrum war eine Partei zur Abwehr gegen den Staat in diesen 34 Gebieten, die frei sein sollten. Die Sozialistische Partei war eine Partei, die sich wehrte gegen den Staat in den Gebieten, die frei sein sollten. Und was war die Folge davon? Die Folge davon war, dass der Osten, meine Damen und Herren, mit seinen etwas anderen politischen Anschauungen in Preußen Deutschland regierte. Wäre nicht der Kulturkampf gewesen, wäre nicht ein derartiges Sozialistengesetz gekommen, dann hätte sich - erschrecken Sie nicht - im Westen eine große liberale Partei gebildet. Ich sage nicht national-liberale, an sich ist das Wort national und liberal ein schlechtes Wort, gerade so schlecht wie Freie Demokraten, meine Damen und Herren. Aber die Folge war weiter, dass dieses Land, Deutschland, das nach dem Kriege von 70/71 ein sehr mächtiges Land war, dass das eben regiert wurde vom Osten her, während es hätte regiert werden müssen vom Westen her.

Also, diese große liberale Partei ist nie da gewesen, und infolgedessen kam diese Parteibildung, wie wir sie alle kennen, und die schließlich, meine verehrten Damen und Herren, dazu führte, dass das Bismarck'sche Reich, sage und schreibe, von 71, wo es gegründet wurde, bis zu seinem Zusammenbruch im Jahre 1918 - bitte zählen Sie aus, wie viel Jahre das sind, dann werden Sie mir darin recht geben -, dass dieses Reich auf tönernen Füßen gegründet war. Und das muss man auch einmal sehen. Was hilft es mir, wenn ich einen Koloss errichte, der kein Fundament hat, und das haben wir getan. Das ist der Lauf der deutschen Geschichte, bis zum Jahre 14, wo dann dieser Krieg anfing, der Krieg, den wir verloren. Nachdem wir den Krieg gegen Dänemark, den Krieg gegen Österreich, den Krieg gegen Frankreich gewonnen hatten, verloren wir diesen Krieg des Jahres 1914 bis 18 und, was auch leider vergessen ist bei uns Deutschen, wir standen damals in der größten Gefahr, dass wir auseinandergerissen wurden.

Meine Damen und Herren, wenn Gott mir das Leben und die Kraft dazu gibt, werde ich über den Separatismus einiges zu sagen und einiges zu schreiben haben. Aber, es stand auf des Messers Schneide, dass das ganze linke Rheinufer abgeschnitten worden wäre. Glauben Sie's mir, meine Damen und Herren, dass es so ist, und, wenn ich dann von mir sprechen darf, ich hatte dem damaligen Obersten - oder war er General, das weiß ich nicht mehr, ein Engländer, der in Köln residierte -, dem hatte ich gesagt, Sie brauchen die Dorten'sche Bewegung nicht zu fürchten. Aber, meine Damen und Herren, ich hatte folgendes gemacht: Ich hatte, weil wir ja hier kein deutsches Militär mehr hatten, hatte ich die Turner und Sportler organisiert in Köln, vorbereitet, für sie dieses Stadion gebaut, das jetzt noch da steht, es war das erste in Deutschland. Und meine Freunde, die Organisation war so, dass wir binnen zwei Stunden 70.000 junge Leute auf den Beinen gehabt hätten, um sich zu wehren gegenüber den Separatisten.

Nun lassen Sie mich zurückgehen zu den Engländern. Er war uns wohlgesinnt, er ließ mich rufen und sagte mir: "Sie haben immer gesagt, es passiere nichts, jetzt hat Dorten in Aachen, in Koblenz, in Wiesbaden die Rheinische Republik ausgerufen. Was sollen wir tun?" Ich sagte ihm: "Sie haben dieses Land in einer bestimmten staatlichen Verfassung übernommen als Besatzungsmacht und Sie sind verpflichtet, in derselben staatlichen Verfassung es zurückzugeben." Er sagte mir darauf: "Das ist gut und wohl, aber ich habe von meiner Regierung die Weisung, keine Gewalt gegenüber den Dorten-Leuten zu gebrauchen." Und da, meine Damen und Herren, war einer der hellsten Augenblicke meines Lebens. Ich habe ihm gesagt: "Ich empfehle Ihnen folgendes zu tun. Sie sind Herr hier. Erlassen Sie sofort eine Ordonanz - wie hießen die Dinger -, durch die Sie jede Änderung der staatlichen Verhältnisse ohne Zustimmung der Besatzungsbehörden, die durch die Ortsbehörden denen zuzuleiten ist, verbieten". Und der Mann hatte die Einsicht, zu sagen: "Das werde ich sofort tun!" Und als ich ihn verließ - wir haben noch lange gesprochen -, klebten schon die ersten Plakate der Engländer an den Mauern der Stadt Köln, in denen verboten wurde, ohne Zustimmung der Engländer die staatliche Verfassung zu ändern. Das finden Sie in keinem Geschichtsbuch, meine Damen und Herren, aber vielleicht finden Sie es in einem Bande meiner Memoiren eines Tages. Aber so groß war die Gefahr. Und es kam hinzu, dass damals nicht nur England bereit war gegenüber Frankreich zu kapitulieren, Russland stand auch dahinter, meine Damen und Herren, die Russen wollten sogar, dass 35 das rheinisch-westfälische Industriegebiet neutralisiert werden sollte, weil dann das Wirtschaftsleben Deutschlands erledigt sei.

Meine verehrten Damen und Herren, die Zeiten, die dann kamen, das war die Weimarer Republik-Zeit. Nun, wie ist es nur damals gegangen? Ich wurde Präsident des Preußischen Staatsrates. Und als Präsident des Preußischen Staatsrates hatte ich eine gewisse Rolle in Preußen. Preußen war damals wirklich der [unverständlich] ungefähr gleich Deutschland zu setzen - bitte um Entschuldigung, Herr Strauß, aber es war so ungefähr gleich Deutschland zu setzen, und der preußische Ministerpräsident, der Präsident des Preußischen Staatsrates und der Landtagspräsident hatten das Recht, den Landtag auszubilden. Ich ging also, als die Sache mit den Nazis kam und immer bedrohlicher wurde, ging ich zum Ministerpräsidenten Braun und sagte ihm: "Ich komme in meiner ganz offiziellen Eigenschaft als Präsident des Preußischen Staatsrates und mache Sie darauf aufmerksam, dass der Umsturz vor der Türe steht und dass Sie sofort einschreiten müssen gegen die Nazis." Er zuckte die Achseln, meine Damen und Herren, er war aber dann einer der ersten, die, als die Nazis kurz darauf zur Macht kamen, in die Schweiz ging. Damals haben Leute versagt, meine Herren, von denen ich es niemals für möglich gehalten hätte. Nun, die Nazis kamen, und mir wurde verwehrt der Zutritt zum Rathaus in Köln. Göring war damals preußischer Innenminister geworden. Ich bin also zu Göring gefahren und habe gesagt: "Sie wissen, dass ich Oberbürgermeister von Köln bin. Mir wird der Zutritt zu meinem Rathaus verboten." "Ja", sagte er, "was soll ich tun?" Ich habe ihm darauf gesagt: "Sie haben sofort dafür zu sorgen, dass mir der Zutritt wieder gestattet wird." Darauf sagte er: "Zuerst eine Frage: Wie viel Millionen haben Sie in die Tasche gesteckt aus der Stadtkasse, als Sie Köln verlassen haben?" Das waren die Ansichten, die Herr Göring mir gegenüber - übrigens der einzige Nazi von Rang, den ich je gesprochen habe, meine Herren -, die mir gegenüber Göring zeigte.

Über den Nationalsozialismus will ich nicht viel sagen hier, aber das eine muss ich doch sagen, meine Herren: Der Nationalsozialismus wäre nie zur Macht gekommen in Deutschland, wenn nicht die deutschen Behörden versagt hätten. Das ist mir eine felsenfeste Überzeugung. Der Nationalsozialismus - ja, meine Damen und Herren, ich bin ein paar Mal im Gefängnis gewesen, aber es ist mir eins gelungen, ich habe es einmal fertig gekriegt, im Gefängnis einen verbotenen Sender zu hören, und das war mir ein solcher Trost, das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Wie ich das fertig gekriegt habe, das ist eine Sache für sich, aber ich habe es fertigbekommen. Der Feind rückte näher; die Amerikaner, meine Damen und Herren, hatten eine etwas eigenartige Methode der Kriegsführung. Sie hatten einen Kriegskalender und darin stand, dass sie am Soundsovielten dort und dort zu sein hätten. Und so stand auch darin, dass sie am Soundsovielten an der Erft sein müssten, und wenn die Amerikaner früher an einer solchen Stelle waren, dann machten sie halt. Sie zogen nicht weiter, gleichgültig, ob auf der anderen Seite widerstandsfähige Truppen standen oder nicht. Und so blieben die Amerikaner an der Erft stehen und überschritten nicht die Erft, ehe ihr Kalender ihnen das erlaubte. Unser Glück, meine Damen und Herren, denn wir wurden, als die Amerikaner an der Erft standen - ich war damals im Gefängnis in Brauweiler - wurden wir - das sind die übrigen Brauweiler Leute -, wurden wir an eine Mauer geführt und uns wurde gesagt, sobald die Amerikaner die Erft überschritten haben, werden Sie hier erschossen. Man gewöhnt sich daran, meine Damen und Herren, nicht an das Erschießen, aber an die ganze Situation. Und wir waren nun den Amerikanern sehr dankbar, dass sie einen solchen Kriegsplan hatten, den sie genau befolgten. Ich könnte darüber noch mehr erzählen; das will ich nicht tun, sondern will nun einmal übergehen zur Eroberung durch die Amerikaner.

Ich wurde ausfindig gemacht durch einen Frankfurter Juden in Rhöndorf und wurde gebeten - er war in der Zwischenzeit amerikanischer Offizier geworden - und wurde gebeten, nach Köln zu kommen zu dem dortigen amerikanischen Oberstkommandier. Der Herr empfing mich sehr freundlich; die Situation war in Köln damals noch so: Die linke Rheinseite war amerikanisch, die rechte Rheinseite war deutsch. Und auf der rechten Rheinseite waren Truppen, deutsche Truppen, die in die linke Hälfte hineinschossen, und das ging so ein 36 bisschen hin und her. In Köln waren auf der linken Rheinseite noch schätzungsweise 25.000 Einwohner. Alle anderen waren geflohen. Aber man gewöhnt sich auch daran.

Dann wurde ich später, meine Herren - ich habe die Amerikaner gebeten, mich nicht zum Oberbürgermeister zu machen; ich hätte drei Söhne, die bei der Wehrmacht wären, die im Kriege wären, und ich müsste annehmen, dass, wenn ich nun von Gnaden der Amerikaner Oberbürgermeister von Köln würde, je nachdem die darunter zu leiden hätten. Der Amerikaner sah das ein, und ich wurde also sein Berater.

Dann kamen langsam Zurückflüchtende, darunter auch ein früherer sozialdemokratischer Stadtverordneter, und dieser frühere sozialdemokratische Stadtverordnete hatte irgendwie Verbindung mit der englischen Geheimpolizei bekommen und schrieb ihr einen Brief, wonach ich also ein ganz böser Mensch sei usw. usw., und ich könnte den Posten doch nicht weiter führen. Er gab diesen Brief einem Manne, den er für absolut vertrauenswürdig hielt, um den nach Köln zu bringen. Der Mann kam aber zu mir und brachte mir den Brief. Ich habe den Brief selbstverständlich geöffnet, das hätte jeder von Ihnen getan, meine Damen und Herren, und las nun, was der deutsche Sozialdemokrat über mich geschrieben hatte. Dann habe ich den Brief wieder zugeklebt und habe gesagt: "Nun bringen Sie den Brief nach Köln. Das weitere wird sich finden." Dann bin ich, meine Freunde, von den Engländern in einer feierlichen Zeremonie abgesetzt worden wegen totaler Unfähigkeit. Ich kam zu dem General Barraclough ins Zimmer, er hatte eine Reihe von Obersten um sich gesammelt. Die Herren saßen, ich nahm mir auch einen Stuhl, um mich zu setzen. Er aber sagte: "Nein, Sie müssen stehen bleiben." Und dann wurde mir das dann vorgelesen, dass ich abgesetzt wäre wegen totaler Unfähigkeit, weil ich meine Pflichten gegen das deutsche Volk verletzt hätte.

Na, meine Damen und Herren, das war eigentlich mit das Schmerzlichste, was mir widerfahren ist, denn ich hatte ja keine Lust, meine Herren, irgendwie anderes zu werden, ich wollte Köln wieder aufbauen, und ich glaube, ich hätte Köln besser wieder aufgebaut, als es aufgebaut worden ist. Aber, ich musste weg.

[Im folgenden kehrt A. zurück zu seinen Ausführungen über den Nationalsozialismus.]

Verbannt wurde ich aus Köln, ich musste ein ganzes Jahr nach Maria Laach gehen. Also, kurz und gut, damit will ich Sie gar nicht alle behelligen, sondern Ihnen nur damit sagen, wie furchtbar dumm das deutsche Volk damals gewesen ist, dass es sich den Nationalsozialisten gefügt hat und in diesen furchtbaren Krieg gegen die ganze Welt hereingezogen ist. Ob es viel gelernt hat - ich bin etwas skeptischer, meine Damen und Herren, als unser verehrter Herr Bundeskanzler Kiesinger. Ich bin etwas skeptischer, und würde nicht so unbedingt darauf schwören, dass es wirklich klug geworden ist.

(Zwischenfrage)

Na, wenn ich von den Kanzlern sprechen sollte, den Nachfolgern, meine Herren, und wenn ich von Hindenburg sprechen sollte - ich habe es absichtlich nicht getan, ich wollte den Namen nicht nennen, aber kläglichere Versager habe ich in meinem Leben nicht kennen gelernt.

Das kann ich Ihnen doch sagen: Ich hatte als Präsident des Preußischen Staatsrates in Berlin im Preußischen Staatspräsidium eine Wohnung. Ich erinnere mich, als wenn es gestern gewesen wäre, wie zu mir hereingestürzt kam abends um 12.00 Uhr ein Mitglied der Zentrumspartei und sagte: "Hindenburg geht nicht nach Potsdam." Das war jene Eidesleistung in Potsdam, und am anderen Morgen höre ich um 9.00 Uhr - das Palais des Präsidenten Hindenburg lag schräg meiner Wohnung gegenüber - höre ich Tatütatü, und wer kam mit seinen Söhnen im offenen Wagen und fuhr nach Potsdam: Das war Hindenburg. Nein, ich habe mir wirklich angewöhnt, immer pessimistisch zu sein.

Und nun, verehrter Herr Kiesinger, das erklärt vielleicht manches an mir; das muss ich auch den anderen Herren sagen. Der Spruch, den ich jetzt sage, stammt nicht von mir: Der Wirtschaftler muss Optimist sein; das ist Erhard auch gewesen. Der Politiker muss Pessimist sein - das war ich und das werden Sie, wie ich bestimmt annehme, wenn Sie die Gesellschaft einmal genauer kennen gelernt haben, auch sein.

Meine Damen und Herren, die Welt ist in größter Gefahr nach meiner Überzeugung. Und sehen Sie mal, wir haben jetzt das Jahr 1967. Denken Sie einmal zurück, wie die Welt im Jahre 1900 aussah. Im Jahre 1900, meine Herren, war England die größte Seemacht der Welt, im Jahre 1900 war Deutschland die größte Landmacht der Welt, im Jahre 1900 spielte Amerika überhaupt noch keine Rolle in der Politik, hatte weder ein ausgebildetes Auswärtiges Amt, hatte keine Soldaten, hatte keine Schiffe, es lebte in seiner eigenen Abgeschlossenheit und Isolierung. Und plötzlich wurde es durch den Lauf der Entwicklung zur größten Macht der Welt, etwas, was ganz unvorbereitet Amerika getroffen hat. Und was ist da noch weiter passiert?

Diejenige Macht, die nach meiner Meinung durch den Krieg am meisten an Stärke gewonnen hat, ist Sowjet-Russland. Sowjetrussland, meine verehrten Freunde, sehen Sie sich bitte mal die Landkarte an, eine ungeheure Macht. Und der träumt, der glaubt, dass die Russen sich irgendwie in absehbarer Zeit ändern würden. Jedenfalls muss man damit rechnen, dass sie sich nicht ändern werden. Und im Osten steigt Rotchina auf, meine Damen und Herren, hat jetzt [...] 650 bis 700 Millionen Einwohner, und Rotchina ist gar nicht so weit von uns entfernt durch die schnellfliegenden Waffen. Ich will die Frage so stellen an Sie: Was glauben Sie näher bei Rotchina ist, und zwar bei dem Teil Rotchinas, wo seine Bomben hergestellt werden? Australien oder London? London ist näher, meine Damen und Herren und damit also Europa näher, als etwa Australien. Man muss sich nur darüber mal klar werden, was aus Entfernungen geworden ist. Aber trotzdem, ich glaube nicht, meine Damen und Herren, glaube nicht, dass, wenn eine einigermaßen vernünftige Politik geführt wird, wir einen nuklearen Krieg zu erwarten haben.

Aber das setzt voraus, meine Damen und Herren, dass endlich Europa geschaffen wird. Es geht wirklich nicht an, dass wir Europäer in der großen Politik ja gar keine Rolle spielen mehr. Nehmen Sie England: In dem Augenblick, in dem das Flugzeug zum Kriegswerkzeug wurde, war die englische Macht ihrem Untergang geweiht, brauchte man Kriegsschiffe nicht mehr zu fürchten, das hatte keinen Zweck mehr. Nehmen Sie Frankreich an: Frankreich war doch von einer Krise in die andere getaumelt, bis de Gaulle kam; de Gaulle, der so viel Gelästerte, der auch von uns Deutschen, namentlich von der deutschen Presse, in einer Weise behandelt worden ist, meine Damen und Herren, dass es geradezu - dass man nur staunen kann über die Dummheit, die da begangen worden ist. Aber de Gaulle und Frankreich haben sich erholt und, meine Damen und Herren, Frankreich und Deutschland liegen nebeneinander und sind Nachbarn, und entweder wir beide werden Sklaven der Russen oder wir beide bleiben frei. Das ist immer der Gedanke gewesen, der mich geleitet hat. Und nun, ich kann Ihnen das sagen, aufs bestimmteste sagen, wird unser Bundeskanzler Kiesinger, wenn er Mitte Januar nach Paris geht, eine sehr gute Aufnahme finden von Seiten de Gaulles, eine sehr gute Aufnahme. Und ich wünsche ihm von ganzem Herzen, dass er damit den ersten Schritt tut zur Verwirklichung des deutsch-französischen Vertrages.

Meine Herren, der deutsch-französische Vertrag, der ist in Kraft getreten im Juni 1963. Im Oktober 1963 wurde ich gezwungen zurückzutreten. Man kann mir also bei Gott nicht nachsagen, dass ich nichts getan hätte, um den Vertrag effektiv zu machen, sondern dann kam eine Zeit, eine Politik in unserem Lande, die entsetzlich geradezu war. Aber ich bin überzeugt davon, und diese Überzeugung begründet sich auf ganz festen Tatsachen, dass Sie, verehrter Herr Kiesinger, in Paris eine ausgezeichnete Aufnahme finden werden, und ich glaube, das ist ein großes Glück für Europa und für die ganze Welt. Und ich bin sogar, vielleicht sagen sie etwas der phantastischen Auffassung, dass es uns gelingen wird, über Frankreich, de Gaulle, auch mit Russland zu einer Verständigung zu kommen, die für uns tragbar ist, denn de Gaulle hat ja sowohl in Moskau, wie jetzt neulich in Paris seinem russischen Gast mit aller Entschiedenheit erklärt, dass er unter gar keinen Umständen damit einverstanden sei, dass Deutschland geteilt bleibt. Er hat das auch in meiner Gegenwart einmal erklärt in einem ganz kleinen Kreise von vier Staatsmännern, von denen zwei sehr zurückhaltend waren in ihren Erklärungen, während er sagte: "Und ich bin, meine Herren, nehmen Sie da von Akt, ich bin für die Wiedervereinigung Deutschlands." Nicht unseretwegen, uns zuliebe, sondern er sagte denen auch ganz offen: "Ich habe keine Lust, eines Morgens zu hören, dass die Russen am Rhein stehen." In der Außenpolitik gilt ja doch nur das Interesse des eigenen Landes; das liegt auch in der Natur der Sache. Und Gott sei Dank, diese beiden Länder Frankreich und Deutschland haben ein gemeinsames Interesse, ihre Freiheit zu bewahren gegenüber dem sonst alles eines Tages darnieder wälzenden Koloss Sowjetrussland. So wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen, Herr Kiesinger, jeden Erfolg. Ihr Erfolg ist unser Erfolg, ist der Erfolg Deutschlands, und wir wollen alles, was wir tun können, tun, damit nun auch Sie den Erfolg haben und damit die Franzosen, insbesondere auch de Gaulle, das Vertrauen zu uns hat, das nötig ist zu einer solchen Gemeinschaft, wie wir sie mit Frankreich und in Europa schaffen müssen.

Wenn Sie das fertig kriegen bis zur Wahl, bis zur Wahl im Jahre 1969, dann glaube ich, werden wir die Wahl gewinnen. Wenn wir es nicht fertig kriegen, dann, meine Damen und Herren, sehe ich sehr finster in die Zukunft, denn innerlich ist unsere Partei nicht in Ordnung und nicht auf der Höhe, und es wird der größten Anstrengung bedürfen, um sie wieder in die Höhe zu bringen. Es wird, meine Damen und Herren, - ich glaube, da ist sehr wenig darüber gesprochen worden, aber man muss auch daran denken - ja Anfang 1969 die Wahl des Bundespräsidenten sein. Sie wissen, dass Herr Lübke nicht wiedergewählt werden kann nach der Verfassung. Also es wird dann die Wahl des Bundespräsidenten sein, und zur Zeit würden wir in dieser Versammlung, der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt, würden wir eine kleine Mehrheit haben; sie ist nicht groß. Ich habe die Zahl mir nicht gemerkt, aber, meine Herren, es ist eine zweistellige Ziffer nur und bleibt unter 50. Und nun sind noch die drei Landtagswahlen, es ist die Landtagswahl in Bremen, es ist die Landtagswahl in Rheinland-Pfalz, und es ist die Landtagswahl in Niedersachsen.

(Gemurmel)

Gut, meine Herren, also nehmen wir Berlin dabei. Und nun, überlegen sie, was dann noch bis zu Anfang des Jahres 1969 von unserer Partei geleistet werden muss, damit wir den Bundespräsidenten wieder stellen; denn wenn wir nicht den Bundespräsidenten wieder stellen, dann ist das ein sehr schlechtes Vorzeichen für die Bundestagswahl des Jahres 1969. Daher glaube ich, die Zeit ist kurz, und sie rinnt rasend schnell dahin, und es muss gearbeitet werden aus ganzer Kraft, damit wir oben bleiben.

Meine Damen und Herren, darf ich noch etwas sagen über die Sozialdemokraten. Die Sozialdemokraten sind innerlich gespalten. Ich glaube, Sie erwähnten, Herr Bundeskanzler, dass ich den Herrn Wehner begrüßt hätte und ihm gesagt hätte: "Denken Sie an Ihre Gesundheit." Ich will Ihnen sagen, was Wehner mir darauf geantwortet hat. Er hat mir darauf geantwortet: "Sie haben recht, ich weiß nicht, ob ich mir nicht zuviel zugemutet habe." Und nun, meine Herren, ich habe über Wehner auch mit aller Vorsicht gedacht, aber, meine Damen und Herren, das hilft jetzt nichts, er ist die Stütze der Koalition bei der SPD. Sie wissen, wie es um Erler steht, und er hält doch die ganze Koalition. Und wir müssen mit der Koalition zusammenarbeiten, eine absolute Notwendigkeit, ob wir wollen oder ob wir nicht wollen, und deswegen glaube ich, es ist richtig, wenn wir allen Zank und allen Streit, die die gegen uns im Herzen tragen und wir gegen die, zurückstellen, bis die Wahl in unmittelbare Nähe gekommen ist. Aber bei den Landtagswahlen, meine Damen und Herren

(Gelächter)

- ja nun, es ist doch selbstverständlich, meine Herren, Herr Scheufelen, wenn ich mit einem Mann jeden Tag zusammenarbeite, sage ich doch nicht: Ich glaube Dir nicht. Das würden Sie doch auch keinem Kunden sagen und keinem Geschäftsfreund. Aber bis dahin, meine Herren, mit Rücksicht auf die Wahl des Bundespräsidenten, müssen wir auch intensiv arbeiten bei den Landtagswahlen.

Das gesundeste Land, meine Herren, das ist Bayern, Gott sei Dank.

(Gemurmel)

Ne, ne, ne, ne, meine Herren, also ich beobachte die Dinge ganz genau, und wir haben ja manchen Knies miteinander gehabt, Herr Strauß, nicht wahr, also das ist keine Voreingenommenheit von mir, und ich denke nicht daran, ihm Komplimente zu machen, sondern es ist so; es ist das gesündeste Land; das bestätigen auch Amerikaner, die bei Ihnen wohnen, dass sie das Empfinden haben. Sehen Sie mal, Nordrhein-Westfalen, eine sehr ernste und schwierige Sache, diese Niederlage, die wir da bekommen haben. Und dann das Verhältnis zu den Kirchen, meine Herren, das ja doch auch sowohl bei der Evangelischen Kirche wie bei der Katholischen Kirche eine Rolle spielt und das sich stark anfängt zu drehen. Und auch das ist ein Moment, das für die Wahl von Bedeutung sein wird. Darum, meine Damen und Herren, ich will schließen, damit es mir nicht so geht, was der Herr Schöttle neulich vom Herrn Dehler gesagt hat. Da hat er gesagt, als der Herr Dehler diese Rede gehalten hat, bei der ich immer bang war, die Augen kämen ihm aus dem Kopfe, da hat er gesagt: "Der Herr Dehler fängt ganz vernünftig an, aber wo er nachher hinrutscht, das weiß der liebe Himmel." Deswegen gehe ich lieber auf die ganze Sache gar nicht ein; in den Geruch will ich nicht kommen. Aber es lag mir doch daran, einmal in einem geschlossenen wichtigen Kreise Luft zu machen alledem, was, glaube ich, dem einen mehr, dem anderen weniger, aber uns doch alle bewegt, bewegen muss, und das ist die Sorge, alles zu tun, was wir können, damit unsere Partei die erste Partei in der Bundesrepublik bleibt. Und darauf, meine Damen und Herren, glaube ich, stoßen wir mal an und wollen dabei daran denken, dass wir wirklich mit ganzer Kraft diese Aufgabe in die Hand nehmen und mit Gottes Hilfe erfüllen. Zum Wohlsein!"

 

Quelle: Abschrift einer Tonbandaufzeichnung, Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Bestand Reden Konrad Adenauer, abgedruckt in: Konrad Adenauer: „Die Demokratie ist für uns eine Weltanschauung". Reden und Gespräche 1946-1967. Hrsg. v. Felix Becker. Köln-Weimar-Wien 1998, S. 218-230.