5. Januar 1976

Ansprache Helmut Kohls anlässlich der Feierstunde im Deutschen Bundestag zum Gedenken des 100. Geburtstages von Konrad Adenauer

 

Herr Bundespräsident,
Frau Präsidentin,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Wenn wir uns heute gemeinsam auf Konrad Adenauer besinnen, dann ist das mehr als eine bloße Erinnerung an ihn. Es muß auch mehr sein als eine sentimentale Verklärung der Gründerjahre der Bundesrepublik.

Die Besinnung auf Konrad Adenauer sollte uns um der Zukunft der deutschen Demokratie willen Anlaß dafür sein, das Selbstverständliche, das Bleibende, die Grundlagen unserer Ordnung wieder ins Bewußtsein zu rufen. Unsere Aufgabe ist es, nicht das damals Aktuelle, sondern das für die Zukunft Gültige ins Gedächtnis zurückzurufen.

Politik ohne Geschichte ist wurzellos, bleibt ziellos, ohne Grund und Perspektive. Wer die Zukunft politisch gestaltet, muß aus der geschichtlichen Erfahrung leben, ohne bei ihr stehenzubleiben.

In diesem Sinne darf uns die Ära Adenauer mit ihren politischen Erfahrungen und Leistungen nicht entrückte Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland sein. Adenauer sollte für uns alle ein sehr gegenwärtiges, uns alle angehendes Vermächtnis sein. Adenauer hat sein Erbe dem ganzen deutschen Volk als längst selbstverständlich gewordenen Besitz hinterlassen.

Diese grundlegenden Selbstverständlichkeiten unseres heutigen politischen Alltags waren jedoch 1949, als Konrad Adenauer das Kanzleramt übernahm, alles andere als selbstverständlich:

  • Das Bündnis mit den Nationen der freien Welt,
  • das Ansehen und Vertrauen, das unser Land als politischer Partner und wirtschaftliche Macht in der ganzen Welt genießt,
  • die Freundschaft mit Frankreich und der Friede mit Israel,
  • die Stabilität unserer demokratischen Ordnung,
  • das System der Sozialen Marktwirtschaft, das unser aller Wohlfahrt und soziale Sicherheit garantiert.

Das alles hat es 1949 nicht gegeben. Daß wir es erreichen würden, war keineswegs selbstverständlich.

Die Außenpolitik von Konrad Adenauer diente dem Ziel, die Stabilität der Demokratie im Innern zu gewährleisten. Adenauer hatte von Anfang an erkannt, daß die Festigung der jungen deutschen Demokratie aufgrund unserer geopolitischen Lage wie aufgrund unserer Geschichte nur im Bunde freier Völker möglich ist. Seine konsequente Politik der Westintegration war die logische Folge dieser Einsicht.

Die Sicherung der Freiheit hatte für Adenauer stets den Vorrang vor der Wiederherstellung der nationalen Einheit.

Freiheit, Frieden, Einheit, diese Prioritätenfolge der Werte, die seiner Politik zugrunde lagen, hielt Konrad Adenauer während seiner gesamten Regierungszeit von 14 Jahren strikt durch.

Sozialer Ausgleich und wirtschaftliches Wachstum im Innern waren für Adenauer die Voraussetzung dafür, daß die Bundesrepublik Deutschland international handlungsfähig blieb. Für ihn war die Verzahnung von Innen- und Außenpolitik mit dem Ziel der Integration freier Staaten ein Grundgesetz seiner Politik schlechthin.

Adenauer wollte mit unseren östlichen Nachbarn den Abbau von Spannungen und den gegenseitigen Verzicht von Gewalt. Mit unseren westlichen Nachbarn wollte er zur Aussöhnung und Integration kommen.

Adenauers Westpolitik gründete auf der Gemeinsamkeit demokratischer Prinzipien und freiheitlicher Ideale.

Er verstand die Atlantische Allianz und die Europäische Gemeinschaft niemals nur als militärische bzw. als wirtschaftliche Gemeinschaft; Adenauer verstand beide vielmehr als Gemeinschaften, deren Übereinstimmung auf der Grundlage gemeinsamer geistig-moralischer Werte beruht. Darin allein sah er letztlich die Voraussetzung dafür gegeben, Konflikte und Meinungsverschiedenheiten immer wieder konstruktiv überwinden zu können.

Die Ostpolitik, wie sie seit 1969 betrieben wird, mit Adenauers Westpolitik auf eine Stufe zu stellen, bedeutet deshalb, Unvergleichbares miteinander zu vergleichen.

Bei den kommunistischen Staaten handelt es sich um Gesellschaftssysteme, deren Ordnungs- und Gestaltungsprinzipien nicht nur gegensätzlich zu den unseren sind. Sie schließen sich gegenseitig aus. Diesen fundamentalen Sachverhalt hat Konrad Adenauer zu keinem Zeitpunkt außer acht gelassen. Sein politischer und moralischer Realismus bewahrte ihn vor jener Ernüchterung, die sich jetzt trotz Ostverträge und Europäischer Sicherheitskonferenz allenthalben ausbreitet.

Daß die Außenpolitik und besonders die Ostpolitik Adenauers starr und phantasielos gewesen sei, ist eine Mär, die durch jüngste Forschungen eindrucksvoll und sicher widerlegt wurde. Es entspricht vielmehr dem politischen Stil Adenauers, daß die Flexibilität seiner Ostpolitik erst so spät bekannt wurde.

Der erste Bundeskanzler versprach sich durch geduldiges Sondieren auf diplomatischem Wege mehr Erfolg für die deutschen Interessen als durch spektakuläre Ankündigungen auf dem öffentlichen Markt. Letzteres mußte nur den Handlungsspielraum einer Regierung durch den Druck selbsterzeugter öffentlicher Erwartungen einengen.

Adenauers Stil war geprägt durch eine seltene politische Tugend: Geduld. Stets verband er Festigkeit in der Zielsetzung mit Beweglichkeit in der Methode.

Er war ein Patriot, der seinem Vaterland dienen und dessen Interessen vertreten wollte. Dennoch blieb für ihn die Übereinstimmung der Interessen zwischen den Staaten der freien westlichen Welt grundsätzlich gewichtiger und bedeutsamer als jede Form nationaler Sonderinteressen.

Konrad Adenauer verstand seine Außenpolitik als Voraussetzung und als Konsequenz zugleich, daß sich der freie Teil Deutschlands für eine freiheitlich-demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung entschieden hatte. Als wirtschafts- und sozialpolitische Entsprechung setzte er gemeinsam mit Ludwig Erhard die Soziale Marktwirtschaft durch.

Diese neue und mutige Konzeption führte nicht nur zu materiellem Wohlstand, sondern vor allem zu wirtschaftlicher und politischer Freiheit. Sie führte zur sozialen Befriedung unserer Gesellschaft - zur Überwindung des Klassenkampfes durch soziale Partnerschaft.

Die Bundesrepublik Deutschland hat unter Konrad Adenauer mit der Sozialen Marktwirtschaft den dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus erfolgreich eingeschlagen. Unsere Wirtschaftsordnung verbürgt ein Höchstmaß an persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.

Sie ist keine konservative Wirtschaftsideologie im Interesse einiger weniger. Gerade Konrad Adenauer hat die soziale Dimension der Sozialen Marktwirtschaft immer betont und in der politischen Praxis ernst genommen.

Er hat sie gegenüber einem bloßen Wirtschaftsliberalismus verteidigt und ihren sozialen Anspruch durch seine Sozialpolitik eingelöst. Als entscheidende Wegemarken will ich beispielhaft nur nennen: den sozialen Wohnungsbau, den Lastenausgleich, die dynamische Rentenversicherung, Mitbestimmung und Betriebsverfassung.

Alle diese Maßnahmen, die Adenauer zum Teil gegen den Widerstand auch in seinem eigenen Kabinett durchsetzte, zielten auf eine sozial gerechte Gesellschaft.

Einen perfektionistischen Wohlfahrtsstaat jedoch, der den einzelnen in Abhängigkeit vom Staat hält und am Ende zu einer finanziellen Katastrophe führen muß, lehnte Adenauer ab. Der Staat sollte lediglich die Voraussetzungen dafür schaffen, daß jeder Bürger seine individuellen Rechte und Chancen mit Aussicht auf Erfolg wahrnehmen kann.

Die Mitbegründung der Christlich Demokratischen Union Deutschlands als der ersten echten Volkspartei in der deutschen Parteiengeschichte ist eine große und zukunftsorientierte Leistung Konrad Adenauers gewesen.

Mit der überkonfessionellen CDU leistete er den entscheidenden Beitrag zur Überwindung der konfessionellen Auseinandersetzungen in Deutschland.

Die soziale Integrationskraft der neuen Volkspartei der Mitte, der CDU Deutschlands, trug in hohem Maße zum sozialen Frieden und zur Regierbarkeit der Bundesrepublik Deutschland bei.

Die Idee dieser Volkspartei war für Adenauer immer mehr als nur die Summe organisierter gesellschaftlicher oder gar nur wirtschaftlicher Interessen. Als Volkspartei war und bleibt die CDU dem Ganzen verpflichtet, aber auch jenen, deren Interessen und Bedürfnisse nicht von mächtigen Organisationen vertreten werden.

Das politische Erbe Adenauers ist für uns nicht nur Besitz, den es zu bewahren gilt, sondern zugleich Verpflichtung und Vorbild.

Die freiheitliche, liberale und soziale Demokratie, die Konrad Adenauer unter schwierigen Bedingungen bei uns heimisch machte, gilt es nach wie vor zu schützen und fortzuentwickeln.

Seine zukunftsweisende politische Vision eines neuen Europa, dessen vereinte und gleichberechtigte Mitglieder nicht mehr Vorrang durch Vorherrschaft suchen, ist immer noch nicht Wirklichkeit. Wir müssen und werden weiter daran arbeiten.

Konrad Adenauer hat in der deutschen Politik Maßstäbe gesetzt:

  • mit der Selbstverständlichkeit, die in seiner persönlichen Haltung als christlicher Politiker zum Ausdruck kam;
  • mit seiner Politik, die die Vergangenheit überwunden hat, indem sie die Zukunftsaufgaben in Angriff nahm;
  • mit seiner Leidenschaft, an einmal richtig erkannten Zielen festzuhalten und keinen Kampf dafür zu scheuen;
  • mit seiner Fähigkeit, das Unwesentliche vom Wesentlichen zu trennen; das sachlich Notwendige situationsgerecht zu erfassen und durchzusetzen.

Als Konrad Adenauer 1949 Kanzler wurde, ging es ihm nicht nur darum, Krisen zu bewältigen. Er hat den Aufbruch zu neuen Zielen für unser Land gewagt; er hat die Energien dafür in unserem Volke freigesetzt.

Darum muß es uns allen auch heute wieder gehen!

 

Quelle: Helmut Kohl: Bundestagsreden und Zeitdokumente. Hg. von Horst Teltschik. Bonn 1978, S. 106-110.