5. Juli 1945

Brief an Hans Rörig, Bern

Hans Rörig (1891-1984), Dr. phil., 1915-1945 Redakteur der „Kölnischen Zeitung", 1928-1939 deren Auslandskor­respondent in London, dort 1931-1939 Vizepräsident der Foreign Press Association, 1946-1956 Herausgeber und Chefredakteur der „Neuen Illustrierten".

 

Sehr geehrter Herr Rörig!

Ihren Brief habe ich erhalten. Es wird sicher möglich sein, Ihnen bis auf weiteres innerhalb der Verwaltung der Stadt Köln, oder an sie angegliedert, eine befriedigende Tätig­keit zu geben. Also kommen Sie ruhig herüber. Wie ist es mit der Wohnungsfrage? Ich komme zunächst mit einer persönlichen Bitte: Mein Sohn, Dr. jur., Konrad Adenauer, 40 Jahre alt, verheiratet, Vater zweier Kinder, vorher kauf­männischer Direktor bei der Fabrik Talbot in Aachen, Gefreiter, Feldpostnummer 21851 G, war zuletzt in Brontan in Norwegen. Die letzten Nachrichten, die wir von dort haben, sind vom 17.2.1945. Er wird, wie wir hoffen, in englischer Kriegsgefangenschaft sein. Nach den Mit­teilungen des Londoner Senders wird der Abtransport der Kriegsgefangenen aus Norwegen am 20. Juli beginnen. Wäre es nicht möglich, durch Ihre Londoner Verbindun­gen zu erreichen, dass er baldmöglichst aus der Kriegs­gefangenschaft entlassen wird? Ich würde Ihnen sehr dankbar sein. Vielleicht können Sie sich zu diesem Zwecke an Clive wenden. Ob er noch lebt, weiß ich natürlich nicht. Er war 37 noch Hofmarschall im Palace Buckingham. Mein Sohn Max hat ihn damals dort besucht. Ich kenne ihn aus der früheren Besatzungszeit. Er hat die freundschaftlichen Beziehungen, die sich damals zwischen uns angebahnt haben, fortgesetzt.

Ich glaube sicher, dass er mir gern einen Gefallen tut. Vielleicht kann auch Prof. J[ä]ckh irgendwie helfen. Evtl. werden Sie auch noch andere Stellen wissen. Ich würde mich an Clive und J[ä]ckh unmittelbar wenden, aber ich weiß nicht ihre Adressen, und es ist so schwierig, einen Brief an sie zu befördern. Bitte sehen Sie zu, was Sie in dieser Angelegenheit tun können. Wir alle sind Ihnen von Herzen dankbar. Die folgende Mitteilung bitte ich, streng vertraulich zu behandeln. Ich sehe die Entwicklung in Deutschland mit [steigender] Sorge. Russland lässt einen eisernen Vorhang herunter. Ich glaube nicht, dass es sich bei der Verwaltung der Hälfte Deutschlands, die ihm über­antwortet ist, von der Zentralen Kontrollkommission irgendwie beeinflussen lassen wird. Die weiterblickenden englischen und amerikanischen Stellen teilen wohl diesen Standpunkt, denn sie haben keine Hoffnung, in Zukunft aus diesem Teil Deutschlands noch Zufuhren an Lebens­mitteln zu erhalten. Hinsichtlich der Verwaltung der britischen, der amerikanischen und der demnächstigen französischen Zone herrscht ein verhängnisvolles Durch­einander. Ich glaube wohl, dass die Mehrzahl der militäri­schen Stellen, die sich z. Zt. mit der Verwaltung dieser Gebiete befasst, nicht schlechten Willen hat, aber es geht ihnen völlig ab die Kenntnis Deutschlands, Verwaltungserfahrung, namentlich die Einsicht dafür, was auch dieses Restdeutschland für Europa, insbesondere für Mittel­europa und damit für England und Frankreich und letzten Endes auch für Amerika bedeutet. In wirtschaftlicher Hin­sicht ist man über die allerkümmerlichsten Anfänge noch nicht hinausgekommen. So wird es Sie interessieren, dass die Förderung im Industriegebiet 10% normal beträgt und dass von diesen 10% 7% nach Frankreich gehen. Dass mit dem Verbleib der 3% die Wirtschaft nicht ange­kurbelt werden kann, auch nicht der Eisenbahnverkehr, dass kein Hausbrand zur Verfügung stehen wird, brauche ich nicht zu sagen. Ich befürchte, dass diesen Winter in Deutschland Millionen Menschen an Hunger und Kälte sterben werden. Hungerödeme als Todesursache sind schon jetzt nicht selten. In verwaltungsmäßiger Hin­sicht scheint man darauf hinauszugehen, kleine Verwaltungseinheiten zu bilden, die unter einer Art Staatsregierung verwaltet werden sollen. So ist z. B. die Rheinprovinz aufgeteilt. Die Regierungsbezirke Koblenz und Trier heißen jetzt Südrheinprovinz, die Reg. Bezirke Köln, Düsseldorf und Aachen Nordrheinprovinz. Diese Nordrheinprovinz steht unter Oberpräsident Fuchs, der sich eine Art Staatsregierung bilden musste und sich nun anschickt, die Geschäfte der früheren zentralen Reichs­regierung und preußischen Regierung zu übernehmen. Man erwägt dort Maßnahmen wie Abstempelung der Banknoten und dergl., Einführung neuer allgemeiner Steuern u.s.f. Dass es ein Unding ist, in einem derartig kleinen Raum derartige Maßnahmen zu planen, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Anscheinend soll es auch nicht etwa bei der inoffiziellen verlautbarten, angekündigten „Aufsicht" der Besatzungsbehörden bleiben, sondern diese wollen direkt regieren, d. h. jede Anordnung des Ober­präsidenten vorher genehmigen. In Hamburg machen sich starke Bestrebungen geltend, einen selbständigen Stadtstaat zu errichten. Guten Nachrichten zufolge sollen diese Bestrebungen von den Engländern unterstützt wer­den. Von Bayern gilt das gleiche. Kurz, die ganze Lage ist äußerst besorgniserregend. Es scheint mir dringend notwendig zu sein, dass jetzt, nachdem die Wahlen in England vorbei sind, einsichtige und maßgebliche Leute von dort, sei es von der Presse, sei es von der Regierung oder von der Wirtschaft, nach hier kommen, um an Ort und Stelle die Probleme zu studieren. Ich bitte Sie sehr, helfen Sie doch, dass solche Leute [auch] zu mir kommen. Mein Urteil ist, wie ich hoffe, ganz ungetrübt von Ehrgeiz. Ich beabsichtige nichts anderes zu werden oder zu sein, als Oberbürgermeister der Stadt Köln und auch das nur für eine beschränkte Zeit, bis ich den Wiederaufbau der Stadt in seinen Anfängen wenigstens gesichert habe. Ande­rerseits ist meine politische Vergangenheit ja einwandfrei, und ich glaube daher, wohl als guter Berater dienen zu können und angesehen zu werden. Vielleicht ist es in die­sem Zusammenhange wichtig, Ihnen zu sagen, dass ich auf der in Washington aufgestellten Weißen Liste für Deutschland an erster Stelle stand. Benutzen Sie also bitte die Postmöglichkeiten, die Sie jetzt von der Schweiz aus haben, und setzen Sie im Interesse der deutschen, aber auch der europäischen Sache alle Hebel in Bewegung.

Von Herrn von Weiß höre ich, wie es Ihnen und Ihrer Gattin geht. Uns geht es leidlich, wir haben viel Schweres durchmachen müssen.

Ich hoffe, Sie also in absehbarer Zeit hier zu sehen, und grüße Sie und Ihre Gattin herzlichst,

 

Ihr

Adenauer

 

[P. S.] Vielleicht haben Sie auch Verbindung zu Herrn v. Stutterheim, der, soviel ich weiß, mit Eden verschwägert ist.

Von Interesse dürfte auch für Sie sein, dass wir versuchen, nachdem Leipzig durch die russische Besetzung von der Verbindung mit der britisch-amerikanisch-französischen Zone bis auf weiteres abgeschlossen ist, die Buchhandels­zentrale für diesen Teil nach Köln zu bekommen.

Wichtig würde es für uns sein, wenn die Schweizer Ver­lage und Buchhandlungen der verschiedensten Richtun­gen, namentlich auch diejenigen, die wissenschaftliche Bücher verlegt haben, selbständige Niederlassungen in Köln errichteten, sobald das möglich ist. Wenn Sie nach der Richtung etwas tun können, so würde ich Ihnen dafür sehr dankbar sein.

Würde es Ihnen möglich sein, den Verleger Hegner, der, wie mir gesagt wurde, in London ist, in Verbindung mit uns zu bringen?

 

Quelle: HAStK 1290/91, abgedruckt in: Konrad Adenauer: Briefe über Deutschland 1945-1955. Eingeleitet und ausgewählt von Hans Peter Mensing aus der Rhöndorfer Ausgabe der Briefe. München 1999, S. 17-22.