5. Mai 1950

Regierungserklärung des Bundeskanzlers Adenauer in der 62. Sitzung des Deutschen Bundestages "betreffend TASS-Meldung über Deutsche in sowjetrussischer Gefangenschaft"

Präsident Dr. Köhler: Meine Damen und Herren, ehe wir in der Tagesordnung fortfahren, wird zunächst der Herr Bundeskanzler eine Regierungserklärung abgeben. Ich darf das Einverständnis des Hauses feststellen, daß insoweit die Tagesordnung zunächst unterbrochen wird.

Ich erteile dem Herrn Bundeskanzler das Wort zu einer Erklärung.

Dr. AdenauerBundeskanzler: Meine Damen und Herren, die TASS-Meldung, die durch den Moskauer Rundfunk verbreitet worden ist, hat in ganz Deutschland und, wie ich hoffe, auch über die deutschen Grenzen hinaus allgemeines Entsetzen ausgelöst. Wenn diese Meldung richtig ist, dann würde sie fürchterlich sein für Millionen von Deutschen. Ob diese TASS-Meldung richtig ist, weiß man nicht. Es hat den Anschein, als ob sie nicht den Tatsachen entspräche. Wir sind bei der Behandlung der Angelegenheit angewiesen auf Angaben aus russischen Quellen. Das Material der früheren deutschen Wehrmacht über Gefangennahme und Tod von Angehörigen der deutschen Wehrmacht befindet sich zu einem erheblichen Teil in russischer Hand, und die russische Regierung hat entgegen ihrer schon vor mehreren Jahren gegebenen Zusage es nicht möglich gemacht, dieses Material auszuwerten.

Das Material der deutschen Wehrmacht, das uns zur Verfügung steht, ist unvollständig und gibt keine schlüssigen Ziffern. Angaben aus russischer Quelle liegen folgende vor: Zunächst eine TASS-Meldung nach dem Zusammenbruch, nach der Kapitulation. In dieser TASS-Meldung wurde die Zahl der deutschen Kriegsgefangenen in russischer Hand mit 3,5 Millionen angegeben. Es liegt dann weiter vor eine Erklärung des Herrn Molotow, abgegeben auf der Moskauer Außenministerkonferenz am 14. März 1947. Damals wurde erklärt, es befänden sich noch in sowjetrussischer Kriegsgefangenschaft 890.532 deutsche Soldaten, und es seien bis zu diesem Zeitpunkt, bis zum 14. März 1947, entlassen 1.003.974 deutsche Kriegsgefangene. Die dritte offizielle Angabe ist diejenige der TASS, die durch den Moskauer Rundfunk gestern am späten Abend verbreitet worden ist. Die Angaben Molotows und die Angaben der TASS von gestern stimmen ziffernmäßig völlig überein, und zwar stimmen sie so überein, daß die Summe der von der TASS-Meldung angegebenen entlassenen Kriegsgefangenen und derjenigen, die noch in Rußland zurückgehalten werden, sei es, weil in Untersuchung befindlich, sei es, weil wegen angeblicher Kriegsverbrechen verurteilt, einschließlich der vierzehn Kranken, die nicht transportfähig seien, bis auf die letzte Ziffer übereinstimmen mit den Ziffern, die Molotow im Jahre 1947 angegeben hat. Es würde also daraus folgern, daß in der Zeit vom März 1947 bis zu der gestrigen TASS-Meldung kein einziger deutscher Kriegsgefangener in Rußland gestorben sei. Schon diese Tatsache, meine Damen und Herren, läßt klar erkennen, daß die gestrige TASS-Meldung eine Meldung ist, die aufgebaut ist auf der Molotowschen Erklärung vom Jahre 1947, und daß sie keinesfalls den Tatsachen entspricht.

Wenn man die beiden identischen Meldungen, die Molotow-Meldung von März 1947 und die TASS-Meldung von gestern, der TASS-Meldung vom Jahre 1945 gegenüberstellt, so bleibt übrig als Ergebnis, daß das Schicksal von 1,5 Millionen deutscher Kriegsgefangener ungeklärt bleibt. Wir können nicht annehmen, meine Damen und Herren, daß diese 1,5 Millionen deutschen Kriegsgefangenen in Rußland gestorben sind oder umgekommen oder verdorben sind.

Die TASS-Meldung gibt weiter keinen Aufschluß darüber, was mit den Verschleppten geworden ist, mit den zahlreichen Deutschen und insbesondere auch deutschen Frauen, die bei der Besetzung deutschen Gebiets durch die russischen Armeen nach Rußland verschleppt worden sind. Wir wissen nur aus den Angaben von Entlassenen, daß noch eine ganze Anzahl, Hunderttausende von solchen Personen, in Rußland in Sklavenarbeit gehalten werden. Diese Ungewißheit, diese Unsicherheit, meine Damen und Herren, ist so entsetzlich und lastet so nicht nur auf den Angehörigen der in Rußland Vermißten, sondern auf dem gesamten deutschen Volke, daß ich glaube, von diesem Platze aus an Sowjetrußland die Aufforderung richten zu müssen, es solle Aufklärung darüber geben, was mit diesen 1,5 Millionen deutschen Kriegsgefangenen geschehen ist,

(Sehr richtig! in der Mitte.)

ob sie noch leben oder ob sie tot und, wenn sie noch leben, wo sie sind, was mit ihnen geschehen ist, und warum sie nicht freigegeben werden.

Aber, meine Damen und Herren, nicht nur an Sowjetrußland, sondern an diejenigen Siegerstaaten, die doch nach ihren eigenen Erklärungen in den Kampf gezogen sind im Interesse der Menschlichkeit, richte ich die ebenso dringende und herzliche Bitte, gerade im Interesse der Menschlichkeit bei Sowjetrußland alle ihnen möglichen Vorstellungen zu erheben und unsere Bitte um Aufklärung mit ganzer Kraft zu unterstützen.

Meine Damen und Herren, diese grauenvollen Ziffern müssen aufgeklärt werden. Es darf nicht so bleiben, daß alle die Angehörigen von über 1,5 Millionen Deutscher die Jahre weiter dahin bringen in Sorge und Kummer darüber, was mit ihren Angehörigen geschehen ist. Es handelt sich hier um einen Appell an die Menschlichkeit, die alle Völker angeht.

(Sehr gut! in der Mitte.)

Wir müssen auch Auskunft darüber haben, was mit denen geschehen ist, die nach den Angaben von TASS zurückgehalten werden, wo sie sind, in welchen Gerichtsverfahren sie verurteilt worden sind und was ihnen zur Last gelegt worden ist. Von heimgekehrten Kriegsgefangenen haben wir auch da erschütternde Nachrichten bekommen, und wir können uns unter keinen Umständen damit zufrieden geben, daß es heißt, sie würden wegen Kriegsverbrechen weiter in Gefangenschaft verbleiben müssen.

Ich denke, meine Damen und Herren, daß sich niemand in diesem Hause ausschließen wird von dem Appell an das gesunde Empfinden aller Völker und an die Menschlichkeit aller Völker, dem deutschen Volke und den Angehörigen aller derjenigen, um deren Schicksal wir nach dieser Meldung doppelt bangen müssen, allen diesen Angehörigen endlich Aufklärung und Ruhe zu geben und fünf Jahre nach Kriegsende den Kriegsgefangenen die Freiheit zu geben und die Rückkehr in unser Land zu ermöglichen.

(Lebhafter Beifall bei allen Parteien außer der KPD.)

 

Quelle: Stenogr. Berichte. 1. Deutscher Bundestag. Bd. 3, S. 2281f.