6. Mai 1954

Fünf Jahre Europarat

Früchte der Zusammenarbeit für eine Vereinheitlichung Europas

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Am 5. Mai 1949 unterzeichneten zehn europäische Staaten die Sitzung des Europarates und schufen damit das erste politische Forum, auf dem Regierungen und Abgeordnete Europas zur Erörterung gemeinsamer Probleme regelmäßig zusammenkommen. Wenn ich heute der fünften Wiederkehr dieses Tages gedenke, dann tue ich das in dem Bewußtsein, daß mit der Schaffung des Europarates ein wesentlicher Schritt auf dem Wege zur europäischen Einheit, die von den Völkern erhofft und von ihrer Jugend stürmisch gefordert wird, getan wurde.

In der Vergangenheit hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Staaten Europas einander näherzubringen. Während diese Versuche in der ferneren Geschichte stets unter dem Gesichtspunkt der Vorherrschaft eines einzelnen europäischen Staates über die übrigen unternommen worden sind, zeichnet sich seit dem 19. Jahrhundert immer deutlicher die Erkenntnis ab, daß ein Zusammenschluß der europäischen Staaten nur auf der Grundlage der Gleichberechtigung möglich ist. Besonders die großen kriegerischen Katastrophen der letzten Jahrzehnte haben dieser Erkenntnis Raum geschafft, und so hat nach dem ersten Weltkrieg der Völkerbund Gestalt angenommen.

Wie wir heute wissen, war dieser Versuch nicht von Erfolg, und das eben begonnene Werk ging in einem erneuten Rückfall in nationalistischem Denken und Handeln unter. Statt sich zu einigen, zerfleischte sich Europa noch einmal in dem schrecklichsten der Kriege seiner Geschichte. Aus den Zerstörungen dieses zweiten Weltkrieges gewann der Gedanke einer friedlichen europäischen Einigung erneute Kraft, und er wurde zum Angelpunkt des politischen Handelns unserer Zeit. Die Erkenntnis, daß nur ein Zusammenstehen und ein gemeinsamer Neubeginn die europäischen Staaten vor äußerer und innerer neuer Bedrohung bewahren könne, führte zur Forderung eines über die herkömmlichen Allianzen hinausgehenden politischen Zusammenschlusses.

Im Europarat, dessen Satzungen von den Regierungen Belgiens, Dänemarks, Frankreichs, Großbritanniens, Irlands, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande, Norwegens und Schwedens vor fünf Jahren unterzeichnet wurden, fand diese Forderung den ersten sichtbaren Ausdruck. Mit der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden trat die Satzung am 30. August 1949 in Kraft. Der Europarat errichtete den Sitz seiner Organe - Ministerausschuß und Beratende Versammlung - in Straßburg. Der Bundesrepublik lag und liegt es besonders am Herzen, sich an der freien Entwicklung des europäischen Lebens zu beteiligen. So trat sie dem Europarat sobald als möglich, im Juli 1950, als assoziiertes, seit Mai 1951 als vollberechtigtes Mitglied bei und erhielt Sitz und Stimme im Ministerausschuß wie in der Beratenden Versammlung. Die Festlegung des Friedens im Kreise seiner Mitglieder und in der übrigen Welt ist eines der vornehmsten Ziele des Europarates. Darüber hinaus aber sucht er, auf der Grundlage der geistigen und sittlichen Werte, die dem Leben der europäischen Völker gemeinsam sind, eine immer engere und vertrauensvollere Zusammenarbeit zwischen seinen Mitgliedstaaten herbeizuführen.

Die Arbeit des Europarates ist mancherlei Kritik begegnet. Diese Kritik übersieht nur zu oft die Erfolge auf dem Gebiete der Wirtschaft, des sozialen Lebens, der Kultur, der Wissenschaft und der Verwaltung, die durch die gemeinsame Arbeit der Mitglieder des Europarates angeregt und gefördert worden sind. Uns Deutschen sollte dabei sein Eingreifen zur Linderung der Flüchtlingsnot in West-Berlin und die Einsetzung eines Sonderbeauftragten für Flüchtlingsfragen besonders im Gedächtnis haften bleiben, als wirksamer Beitrag zur Linderung und künftigen Beseitigung der Nöte, die wir - auf uns allein gestellt - nicht zu bewältigen vermöchten. Doch hat sich der Europarat nicht auf Einzelfragen beschränkt. Er hat ein Aktionsprogramm entwickelt, um die europäische Zusammenarbeit zu verbessern und zu einer Vereinheitlichung der europäischen Gesetzgebung und Verwaltungspraxis zu kommen.

Die Bemühungen der im Ministerausschuß vertretenen Regierungen und der Beratenden Versammlung haben gute Früchte getragen. Der Visumszwang für Reisen von einem Land in das andere ist weitgehend gefallen und wird in nicht zu ferner Zeit völlig verschwinden. Die vorbereitenden Arbeiten für die Schaffung eines europäischen Passes als nächste Stufe sind seit geraumer Zeit in den Ausschüssen des Europarates im Gange. Wichtige Übereinkommen über die Anerkennung von Reifezeugnissen und Patenten, über gleiche Behandlung von Staatsangehörigen und über Fragen der sozialen Sicherheit stehen vor ihrer Verwirklichung, und die Konvention des Europarates über die Menschenrechte hat auch der außereuropäischen Welt ein Vorbild für die Wahrung der Rechte des Individuums als Mensch und als Staatsbürger gegeben. Gewiß, die brennenden politischen Fragen liegen noch ungelöst vor uns, aber es wäre ungerecht, dem Europarat hieraus einen Vorwurf zu machen. Die große Zahl seiner Mitgliedstaaten erschwert naturgemäß die gemeinsame politische Lösung solcher Fragen, die nicht für alle gleichgestellt sind, und wenn sie es sind, manchmal regional verschiedenartiger Lösungen bedürfen.

Der Europarat überhaupt hat erst die Plattform geschaffen, von der aus neue politische Lösungen der europäischen Probleme gesucht werden können. In der Beratenden Versammlung des Europarates trug Robert Schuman als französischer Außenminister der Öffentlichkeit zum ersten Mal den Gedanken einer europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor. Der Gedanke einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft trat ebenfalls im Europarat zum ersten Mal sichtbar in Erscheinung. Schließlich aber hat der Europarat ganz besonders bei der Ausarbeitung der Satzung für eine Europäische Politische Gemeinschaft mitgewirkt und jene Kritiker ein für allemal widerlegt, die in dem Fortschreiten der Arbeiten an der Gemeinschaft der Sechs einen Gegensatz zum übrigen Europa - wie es im Europarat vertreten ist - zu erblicken glauben. Damit hat der Europarat sich tatkräftig der größten Aufgabe zugewandt, die vor uns liegt: Den Willen der europäischen Völker zur Schaffung der politischen Einheit zu verwirklichen.

Die Bundesrepublik hat alle Arbeiten des Ministerausschusses und der Beratenden Versammlung des Europarates nach Kräften unterstützt, die von ihm ausgehenden Anregungen aufgenommen und ohne Rücksicht auf notwendige Opfer sich zu eigen gemacht. Sie wird das auch in Zukunft tun. So habe ich allen Anlaß, auf das Erreichte mit Genugtuung und Dankbarkeit zurückzuschauen. Ich wünsche, daß der Europarat auf diesem Wege fortschreite, um die Hoffnungen unserer Völker zu erfüllen. Wir dürfen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen und müssen allen Widerständen zum Trotz die Einheit Europas verwirklichen, die Einheit, die unserer gemeinsamen abendländischen Kultur das sichere gemeinsame Fundament und den großen schützenden Rahmen geben soll.

(Die vorstehenden Ausführungen wurden am 5. Mai 1954 über den Nordwestdeutschen Rundfunk gesprochen.)

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 84 vom 6. Mai 1954, S. 745f.