6. Mai 1960

Fünf Jahre in der NATO

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

In unserer schnelllebigen Zeit geraten die Beweggründe für einen bestimmten politischen Entschluss, wie ihn der Eintritt der Bundesrepublik in die NATO vor fünf Jahren darstellt, leicht in Vergessenheit. Über den Zustand relativer Sicherheit, der für das Bundesgebiet und für West-Berlin inzwischen erreicht worden ist, wird die ursprüngliche, bedrückende Situation oft bewusst oder unbewusst übersehen.

Die Tatsache, dass das Schicksal des deutschen Volkes nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes in die Hand der Siegermächte gegeben war, steht den meisten von uns wohl noch klar vor Augen. Dass lange die Gefahr einer Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs auch auf Westdeutschland drohte, wird dagegen bezweifelt und bestritten.

Die Fakten sind indessen nicht vom Tisch zu wischen. Vor dem Eintritt in die NATO am 5. Mai 1955 war die Bundesrepublik zwar schon ein selbständiger Staat und mit weit größeren Rechten ausgestattet als das heute noch von der Besatzungsmacht abhängige Regime in der Zone, aber ihre außenpolitische Bewegungsfreiheit war durch das Besatzungsstatut wesentlich eingeschränkt. Mit der Aufnahme in den Nordatlantikpakt wurde die Bundesrepublik ein gleichberechtigtes Mitglied in dieser Gemeinschaft freier Völker.

 

Garant des Friedens

Über den Wert dieses Bündnisses ist viel diskutiert worden, und gerade in der Bundesrepublik halten die Kritiker etwas darauf zugute, die tatsächlichen oder angeblichen Mängel der Allianz der Öffentlichkeit einzuschärfen. Kaum jemand aber macht sich die Mühe, sich eine andere, bessere, wirklichkeitsnahere Lösung für die geographisch zwischen Ost und West eingezwängte Bundesrepublik auszudenken. Was die NATO für unsere Sicherheit bedeutet, kann jeder selbst ermessen, sofern er bereit ist, nüchtern die Frage zu untersuchen und zu beantworten: Wo stünden wir heute ohne die NATO, ohne zuverlässige Verbündete angesichts des sowjetischen Versuchs, den Status West-Berlins zu ändern?

Dieses Verteidigungsbündnis von 15 Staaten hat bisher in Europa den Frieden erhalten; seit Bestehen der NATO hat der militante Kommunismus in Europa keinen Schritt weiter nach Westen vordringen können. Was das für uns Deutsche bedeutet, zeigt klar die Tatsache, dass jede Veränderung des gegenwärtigen Zustands von den Sowjets in einer Richtung angestrebt wird, die ganz gewiss nicht eine verstärkte Garantie für die persönliche Freiheit und für die von der Bevölkerung gewünschte und in freien Wahlen wiederholt verteidigte Lebensform zum Ziel hat.

Zweifellos ist die Lage in der geteilten deutschen Hauptstadt und im ganzen Deutschland nicht normal. Normal ist die Lage erst, wenn Deutschland in Freiheit wiedervereinigt sein wird. Nach dem kommunistischen Sprachgebrauch enthält jedoch die "Normalisierung" einer anomalen Lage die erklärte Absicht, nicht diese Lage zu verbessern, sondern sie mehr oder weniger schnell dem Zustand in der sowjetisch besetzten Zone und in den Ostblockstaaten anzupassen. Wie der freie Wille der Menschen in Mitteldeutschland vergewaltigt wird, dafür gibt es leider aus jüngster Zeit eine Fülle von Beispielen. Ich verweise nur auf die Vernichtung des selbständigen Bauerntums.

Die Geschlossenheit der NATO wird oft mit dem Hinweis auf Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen angezweifelt. Es ist in den letzten Monaten - und wann eigentlich nicht? - auch wieder einmal von einer "Krise der NATO" gesprochen worden. Bei solchen Behauptungen sollte man zunächst einmal daran denken, dass der Osten das größte Interesse daran hat, unmittelbar vor der ersten "Gipfelkonferenz" in Paris die Einigkeit im westlichen Lager in Frage zu stellen.

Die Natur der NATO lässt sich am besten bei einem Vergleich mit dem angeblichen Gegenstück, dem "Warschauer Pakt", erkennen. Hier handelt es sich um eine von der Sowjetunion beherrschte Befehlszentrale auf politischem und militärischem Gebiet. Es gibt kein dem NATO-Rat vergleichbares supranationales politisches Gremium, also auch keine Gleichberechtigung der Partner und kein Einspruchsrecht einzelner Paktmitglieder gegen die Entscheidung der Sowjetunion. Die militärischen Führungsstäbe sind auch nicht ineinander verzahnt, integriert, sondern ausschließlich von dem Willen des von Moskau eingesetzten militärischen Oberbefehlshabers abhängig. Wie gut dieses System funktioniert, hat die Niederwerfung des Aufstandes in Ungarn gezeigt.

Die NATO als ein Bündnis souveräner demokratischer Staaten kann und will einen derartigen, nur in totalitären Staaten möglichen Perfektionismus, eine immer schon vor der Beschlussfassung bestehende "Einigkeit", nicht erreichen. Ihre Entscheidungen fallen nach freimütiger Diskussion unter den Partnern, und sie enthalten einen für alle annehmbaren Kompromiss. Wer unmittelbar Einblick in die Arbeitsergebnisse hat und eine genaue Vorstellung von den zu überwindenden Schwierigkeiten besitzt, weiß, welche großen Fortschritte in den vergangenen Jahren erzielt worden sind. Besonders bedeutsam erscheint mir bei einer solchen demokratischen Institution die innere Bereitschaft der verantwortlichen Persönlichkeiten und ihrer Mitarbeiter auf der politischen und militärischen Ebene, unbeschadet von Meinungsverschiedenheiten, dem gemeinsamen Werk loyal zu dienen.

Die Zugehörigkeit zur NATO ist die Grundlage unserer Außenpolitik. Ich bin davon nach meinem kürzlichen Besuch in den Vereinigten Staaten mehr denn je überzeugt. Aber die NATO ist nicht nur ein militärisches Verteidigungsbündnis.

 

Grundlage der Außenpolitik

Ich würde mich glücklich schätzen, wenn es gelänge, durch die allgemeine und kontrollierte Abrüstung die Sorge der Völker vor einer neuen kriegerischen Auseinandersetzung endgültig zu bannen. Jede voreilige, einseitige Abrüstungsmaßnahme des Westens müsste aber zu einer Schwächung unserer Verteidigungsmöglichkeiten führen. Alle bisher von den Sowjets gemachten Vorschläge für "Gebiete begrenzter Rüstungen" und für "neutrale Zonen des Friedens" haben auffallenderweise jenes Land ausgespart, von dem aus die europäischen NATO-Länder am stärksten bedroht werden, nämlich die Sowjetunion selbst. Die neuerdings von Moskau vorgeschlagene globale Abrüstung setzt eine globale Kontrolle voraus, gegen die sich die Sowjets bisher stets gesträubt haben. Wir dürfen uns nicht einseitig und ohne ausreichende Gegenleistung der Mittel begeben, die zu einer wirksamen Verteidigung unserer Freiheit unerlässlich sind.

Solange der Kommunismus hartnäckig versucht, freien Völkern eine Ideologie und eine Wirtschafts- und Sozialverfassung aufzudrängen oder aufzuzwingen, die diese Völker ablehnen, solange muss die NATO als Verteidigungsallianz der freien Welt abwehrbereit bleiben. Erst wenn diese Bedrohung weggenommen ist, kann sich die atlantische Gemeinschaft im Zeichen einer wirklichen Entspannung in verstärktem Maße anderen Aufgaben zuwenden, wie sie in Artikel 2 des Vertrages umschrieben sind: der Beseitigung der Gegensätze in der internationalen Wirtschaftspolitik und der Förderung der Zusammenarbeit auf allen Gebieten zwischen allen Vertragspartnern.

Bis zu diesem Zeitpunkt müssen die Völker in dem Bündnis der NATO eine aus freiem Entschluss geborene feste Gemeinschaft bilden, "um einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe zu erhalten und fortzuentwickeln", wie es Artikel 3 der NATO-Satzung fordert. Die NATO ist eine Verteidigungsgemeinschaft, die schon im Frieden ein schlagkräftiges Instrument ist; sie bietet einem potentiellen Gegner keine Chance für einen Krieg ohne Risiko. Dazu wollen und müssen wir unseren Beitrag leisten.

 

Quelle: Deutsche Tagespost vom 6. Mai 1960.