6. Oktober 1951

14 Fragen des Vorsitzenden der CDU (Ost) und Stellvertreter des Ministerpräsidenten der DDR, Otto Nuschke, an Bundeskanzler Konrad Adenauer

 

Herr Bundeskanzler!

In der Sitzung des Bundestages vom 27. September 1951 haben Sie zum Appell der Volkskammer vom 15. September Stellung genommen. Als Voraussetzung zur Durchführung gesamtdeutscher freier Wahlen zu einer verfassungsgebenden Nationalversammlung sind zwar von Ihnen 14 Punkte formuliert worden. Zahlreiche deutsche Menschen aus Ost und West vermissen indessen in Ihrer Rede die einfache Erklärung, dass Sie persönlich bereit sind, Ihre Regierung und den Bundestag zu veranlassen, ungesäumt Verhandlungen mit der Regierung, der Volkskammer oder sonstigen Vertretern der Deutschen Demokratischen Republik aufzunehmen. Mit steigender Sorge verfolgt das deutsche Volk auch alle Vorgänge, die sich im Bereiche Ihrer Regierung sonst vollziehen.

In meiner Eigenschaft als Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Union mache ich mich zum Dolmetscher dieser Besorgnisse und richte an Sie die folgenden 14 Fragen, deren klare Beantwortung durch Sie geeignet wäre, den Weg zu offener und ehrlicher gesamtdeutscher Aussprache zu erleichtern.

1. Sie erklären als oberstes Ziel der Politik Ihrer Regierung die Wiederherstellung der deutschen Einheit in einem freien und geeinten Europa. Sind Sie der Meinung, dass das Europa des Straßburger Europarates ein geeintes Europa ist? Dieses Europa hört an der Werra auf und schließt die Deutschen jenseits dieses Flusses und die unzweifelhaft europäischen Länder Albanien, Bulgarien, Ungarn, Rumänien, die Tschechoslowakei, die Polnische Volksrepublik und die große Sowjetunion aus. Schweden und die Schweiz stehen abseits. Territorial und bevölkerungsmäßig umfasst das Europa des Straßburger Europarates bestenfalls ein Drittel von Europa. Teilen sie nicht den Eindruck vieler Deutscher, dass es sich hier nicht um ein geeintes Europa, sondern um eine kaum verhüllte amerikanische Kulisse für den Nordatlantikpakt handelt?

2. Zweifellos richtig ist Ihr Satz, dass die deutsche Einheit aus der freien Entscheidung des gesamten deutschen Volkes kommen muss. Diese Entscheidung kann wesentlich gefördert werden durch sofortige gesamtdeutsche Beratungen. Es gibt keine Frage, über die in gesamtdeutscher Beratung nicht gesprochen werden könnte, also auch über die 14 Punkte, die Sie Ihrer Rede eingefügt haben. Warum aber wollen Sie die Entscheidung hinauszögern durch die Einsetzung neutraler, internationaler Kommissionen, die bei Ihnen und bei uns die Voraussetzungen prüfen sollen für die Abhaltung freier Wahlen? Sie wollen die Beschlüsse Ihres Bundestages den Vereinten Nationen zur Stellungnahme zuleiten, die ihre Zuständigkeit für deutsche Fragen überhaupt erst beschließen müssten. Sie wollen ferner die vier Besatzungsmächte unterrichten. Es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass die Sowjetunion bereits durch eine unmissverständliche Erklärung des Armeegenerals Tschujkow ihre Zustimmung zu dem Schritt des Ministerpräsidenten Grotewohl gegeben hat. Wäre es nicht ein Leichtes für Sie, in Ihren gegenwärtigen Besprechungen mit den drei Hohen Kommissaren der Westmächte unverzüglich eine gleiche zustimmende Erklärung herbeizuführen?

3. Halten Sie es mit den Gesetzen der Demokratie für vereinbar, wenn über lebenswichtige Entscheidungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt wird? Gleich uns sind die Millionen von westdeutschen Menschen der Überzeugung, dass eine Wiederaufrüstung der Kriegsvorbereitung dient. Haben Sie die Absicht, vor der Wahl einer deutschen Nationalversammlung das deutsche Volk in den Fragen der Wiederaufrüstung vor vollendete Tatsachen zu stellen?

4. Ist Ihr Vorgehen christlich, wenn Sie deutsche junge Menschen von vornherein einem fremden General für fremde Zwecke zur Verfügung stellen, obwohl die Bekennende Kirche im Westen und starke Kräfte Ihrer eigenen Partei - unter Führung Ihres früheren Innenministers Dr. Dr. Heinemann - die Forderungen einer Volksbefragung unter stärkster Kritik Ihrer Politik vertreten? Sind Sie der Meinung, dass es möglich und für einen christlichen Politiker vertretbar ist, auf wirtschaftlichem, politischem und sogar militärischem Gebiet ein fait accompli zu schaffen, ohne Rücksicht auf die wirkliche Stimmung der Bevölkerung, und grundlegende Entscheidungen autokratisch vorwegzunehmen, die einer künftigen verfassungsgebenden Nationalversammlung vorbehalten bleiben?

5. Ist es deutsch, wenn ohne die Zustimmung Gesamtdeutschlands Ihre Regierung nach dem Beitritt zum Marshall-Plan sich am Schuman-Plan, der für fünfzig Jahre auf das Eigentumsrecht an den deutschen Bodenschätzen und der Grundstoffindustrie verzichtet, beteiligt?

6. Inwieweit haben Sie dem in Washington beschlossenen Pleven-Plan zugestimmt, der deutsche Truppen ohne eigenen Befehlshaber und ohne eigene Versorgungskader mit Munition und Verpflegung dem Oberbefehl Eisenhowers unterstellt?

7. Können Sie mit gutem Gewissen von einer deutschen Gleichberechtigung sprechen, wenn die Westmächte in ihren Vorbehaltsklauseln sich ein Einspruchsrecht gegen alle wichtigen Entscheidungen Ihrer Regierung vorbehalten? Der Westberliner "Telegraf" teilt mit, dass die Vorbehalte der Alliierten "weitgehende politische Einschränkungen für die Souveränität der Bundesrepublik mit sich bringe". Das gleiche Blatt behauptet, dass Sie bereit seien, "sämtliche von den Hohen Kommissaren für Deutschland abgeschlossenen Verträge" anzuerkennen, ebenso wie die Berechtigung der Westmächte, im Falle von inneren Unruhen "die gesamte Polizeigewalt in Westdeutschland zu übernehmen", die Industrie der Kontrolle der Westalliierten zu unterstellen, ihnen auch das Recht zuzubilligen, Produktionsauflagen anzuordnen, und schließlich seien Sie damit einverstanden, dass in Zukunft "alle Verhandlungen der Bundesrepublik mit dem Osten nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Alliierten oder durch die Alliierten selbst geführt werden können". Sind diese Mitteilungen des Westberliner Blattes Tatsache? Antworten Sie bitte, Herr Bundeskanzler!

8. Haben Sie jemals bei Ihren Unterredungen mit den Hohen Kommissaren der tiefen Sehnsucht des Volkes nach einem Friedensvertrag Ausdruck gegeben? Haben Sie gefragt, warum in aller Welt allein dem deutschen Volk ein Friedensvertrag vorenthalten bleibt, wo man doch jetzt - wenigstens formal - Japan einen Friedensvertrag gegeben hat, wo man Italien jetzt eine Revision seines Friedensvertrages gewähren will? Welche Gründe sind es, die die USA veranlassen, Deutschland einen Friedensvertrag zu verweigern?

9. Haben Sie bei Ihren Unterhandlungen, insbesondere mit dem Hohen Kommissar McCloy, jemals die Frage aufgeworfen, ob etwa die USA den Friedensvertrag deshalb ablehnen, weil im Falle kriegerischer Verwicklungen mit dem Osten für den amerikanischen Durchmarsch und Vormarsch völkerrechtliche Schwierigkeiten entstehen könnten. Unser Volk sehnt sich nach Frieden. Das furchtbare Verhängnis eines dritten Weltkrieges hängt wie eine schwere Gewitterwolke über uns und der Welt. Warum gibt man uns keinen Frieden und keinen Friedensvertrag?

10. In einer Rede vor der "Jungen Union" haben Sie die Sowjetunion beschuldigt, eine "Politik des geteilten Europa" zu treiben. Wer hat Deutschland geteilt und Europa zerrissen? Waren es nicht die Westmächte, die nach den gescheiterten Friedenskonferenzen von Moskau und London sich allein ohne die Sowjetunion in London zusammenfanden und jene "Empfehlungen" verfassten, die in Wirklichkeit Befehle waren und die von Ihnen, Herr Bundeskanzler, insofern ausgeführt wurden, als Sie in den Grenzen der drei Westzonen einen deutschen Sonderstaat errichteten und die Teilung Deutschlands und die Zerreißung Europas durch die Wahl des Bonner Sonderparlaments sanktionierten? Wollen Sie diesen historischen Ablauf bestreiten?

11. Warum, Herr Bundeskanzler, behaupten Sie ständig, dass von der Sowjetunion her Angriffe drohen? Selbst der bayrische Justizminister Dr. Josef Müller von der CSU erkannte an, dass die Politik der Sowjetunion nicht aggressiv ist. Ihr früherer Innenminister Dr. Dr. Heinemann bekundete, dass keine Anzeichen für einen beabsichtigten sowjetischen Angriff vorhanden sind, und der Dekan Weber in Stuttgart prägte das gute Wort, dass man Hitlers Testamentsvollstrecker mit einem Kriege gegen den Osten und die Sowjetunion werden würde. Wie aber verhält sich die offizielle amerikanische Politik gegenwärtig? Amerika steht in Korea. Es hat den Termin für den Abzug seiner Truppen von den Philippinen versäumt. Es verhindert durch seine Flotte in Formosa die Einfügung dieser Insel in den staatlichen Bereich Volkschinas, obwohl Amerika auf der Konferenz von Kairo seine Unterschrift dafür gegeben hat, dass Formosa an China zurückfallen soll. Die USA schließen den Nordatlantikpakt, der eine verzweifelte Ähnlichkeit mit Hitlers Antikominternpakt hat. Die USA verlangen die Remilitarisierung Westdeutschlands und Japans, sie verbinden und verbünden sich, ohne Rücksichtnahme auf ihre Alliierten England und Frankreich, mit Franco und sie unterstützen Tito mit Waffen, die Vereinigten Staaten wenden nahezu siebzig Milliarden Dollar für eigene Rüstungszwecke und für die Unterstützung ihrer Satelliten in der ganzen Welt auf. Glauben Sie wirklich, dass das um der Verteidigung willen geschieht?

12. In Ihrer Rede vor dem Bundestag werfen Sie die Frage auf: "Was bedeuten Beratungen mit Kommunisten?" Nun, es wird Ihnen nicht unbekannt sein, dass alle Nachkriegsverträge seitens der Westmächte mit der kommunistischen Sowjetunion abgeschlossen worden sind, dass Roosevelt und Truman, dass Churchill und Attlee mit den obersten Repräsentanten der kommunistischen Sowjetunion verhandelt haben, dass die Friedensverträge mit Italien, Bulgarien, Ungarn und Rumänien gemeinsam mit den Vertretern des kommunistischen Sowjetrussland abgeschlossen wurden. Sie sind von der Sowjetunion peinlichst gehalten worden. Nicht zuletzt das entscheidende Potsdamer Abkommen, das die kapitalistischen Mächte systematisch durchlöchern und insbesondere durch die Gründung ihres westdeutschen Sonderstaates gebrochen haben! Müssen Sie erst auf Grund dieser Tatsachen einräumen, dass "die Kommunisten" zuverlässigere Vertragspartner sind als die Amerikaner?

13. Es ist Ihnen nicht unbekannt, dass die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik eine Zusammenfassung aller in der Deutschen Demokratischen Republik vertretenen Parteien darstellt. In unserer Volkskammer sitzen neben den Vertretern der SED die Abgeordneten der CDU, der LDP, der NDP, der Demokratischen Bauernpartei, und es gibt bei uns auch eine Fraktion der SPD. Daneben allerdings haben wir auch Vertreter der großen Massenorganisationen, nicht zuletzt der Frauen und der Jugend. Wollen Sie vielleicht alle diese Vertreter der Volkskammer, die hinter dem Volkskammerappell vom 15. September stehen, für kommunistisch erklären?

14. Warum hat das Bonner Bundesparlament über den zweiten Teil unseres Vorschlags, über die Frage des beschleunigten Abschlusses eines Friedensvertrages mit Deutschland, völlig geschwiegen? Warum haben Sie, Herr Bundeskanzler, darüber kein Wort verloren, warum hat auch der Sprecher der sogenannten Opposition kein Wort von einem doch wirklich notwendigen Friedensvertrag gesagt? Warum hat Ihre Bonner Presselenkung die Zeitungen ersucht, die Wendung aus der Rede Max Reimanns, in der von der Kriegsgefahr die Rede war, nicht abzudrucken? Warum verschweigen Sie unseren westdeutschen Brüdern und Schwestern die unbestreitbare Tatsache, dass eine westdeutsche Wiederaufrüstung die Kriegsgefahr aufs ernsteste heraufbeschwört? Warum erklären Sie, Herr Bundeskanzler, angesehene Männer, die für eine Neutralisierung Deutschlands eintreten, für Dummköpfe oder Verräter? Ist es denkbar, dass in unserem Zeitalter der Demokratie Fragen totgeschwiegen werden, die das Dasein und den Bestand der Nation aufs tiefste berühren? Wie ist es möglich, dass verantwortliche Politiker am Kern der eigentlichen deutschen Probleme vorbeireden?

Antworten Sie, Herr Bundeskanzler. Das ganze deutsche Volk wird Ihnen für rückhaltlose Offenheit dankbar sein!

 

Quelle: Dokumentation der Zeit. Heft 22 (1951), 990f.