7. Mai 1950

Schreiben des französischen Außenministers Schuman an den Bundeskanzler zur Frage einer gemeinschaftlichen hohen Stelle für die deutsche und französische Kohle- und Stahlproduktion

 

Herr Bundeskanzler!

Im Begriff, der französischen Regierung den Vorschlag zu machen, eine für die Zukunft der französisch-deutschen Beziehungen, Europas und des Friedens wichtige Entscheidung zu treffen, möchte ich die Erklärung, die ich am Dienstag, den 9.5. abends meine Regierung bitten werde anzunehmen und zu veröffentlichen, Ihnen erläutern. Ich möchte Ihnen auch klarlegen, in welchem Geiste ich diese Erklärung abgefaßt habe.

Der Weltfrieden kann ohne schöpferische Anstrengungen proportional der ihm drohenden Gefahren nicht gewahrt werden.

Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa zur Zivilisation leisten kann, ist für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen unerläßlich. Frankreich, seit über 20 Jahren Vorkämpfer für ein vereinigtes Europa, hat immer als Hauptziel gehabt, dem Frieden zu dienen. Europa ist nicht zustande gekommen, wir haben den Krieg gehabt.

Europa wird nicht mit einem Schlage entstehen, und auch nicht als gemeinschaftliche Konstruktion. Es wird entstehen, wenn konkrete Leistungen zunächst eine tatsächliche Solidarität schaffen. Die Sammlung der europäischen Nationen erfordert es, daß die jahrhundertealte Gegnerschaft Frankreichs und Deutschlands ausgeschaltet wird. Die unternommenen Schritte müssen in erster Linie Frankreich und Deutschland berühren.

Sie selbst haben in öffentlichen Erklärungen und bei den Unterhaltungen, die wir zusammen führten, Ihre volle Übereinstimmung mit einem solchen Vorhaben unterstrichen. Sie haben vor allem die Errichtung einer Wirtschaftsunion zwischen unseren beiden Ländern vorgeschlagen.

Für die französische Regierung ist nun der Augenblick gekommen, diesen Weg einzuschlagen. Sie will deshalb unverzüglich Maßnahmen auf einem begrenzten, aber entscheidenden Gebiet ergreifen:

"Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohlen- und Stahlproduktion einer gemeinschaftlichen hohen Stelle im Rahmen einer Organisation, der die anderen europäischen Länder beitreten können, zu unterstellen."

Der oben erwähnte Grundgedanke wird Gegenstand eines Abkommens zwischen den Regierungen sein. Die unerläßlichen Verhandlungen zur Festlegung der Maßnahmen für die Durchführung würden unter Mitwirkung eines gemeinschaftlich bestellten Schiedsrichters vor sich gehen. Dieser hätte die Aufgabe, darüber zu wachen, daß die Abkommen den Grundsätzen entsprechen, und er würde im Falle von unüberbrückbaren Gegensätzen die Lösung finden, die angenommen werden müßte.

Die Errichtung dieser hohen Stelle beeinträchtigt in keiner Weise die Eigentümerrechte bei den Unternehmungen. In Ausführung ihrer Aufgabe muß diese hohe Stelle die der Internationalen Ruhrbehörde übertragenen Befugnisse und die Deutschland auferlegten Verpflichtungen jeglicher Art berücksichtigen, soweit diese noch fortbestehen werden.

Dies sind, kurz skizziert, die Hauptlinien eines Systems, welches die Wirtschaftsbeziehungen zwischen unseren beiden Ländern vollständig umändern und sie endgültig zu einer friedlichen Zusammenarbeit hinführen würde. Wir würden gleichzeitig die konkreten Grundlagen für einen europäischen Wirtschaftsorganismus schaffen, dem alle Länder beitreten können, die ein freiheitliches Regime haben und sich ihrer Solidarität bewußt sind.

Dieser Grundgedanke wird natürlich in technischer Hinsicht eingehend geprüft werden müssen: Ich wünsche lebhaft, daß sich die deutsche Regierung in der Lage sieht, an dieser Prüfung teilzunehmen.

Ich hebe noch einmal hervor, daß diese Erklärung am Dienstag abend von der französischen Regierung zweifellos veröffentlicht werden wird. Ich darf Sie bitten, diese Mitteilung bis zu der genannten Veröffentlichung als streng persönlich und vertraulich zu betrachten.

Schlußformel.

gez. Schuman

 

Quelle: Adenauer. Briefe 1949-1951, 508-510 (deutscher Text). Adenauer. Briefe 1949-1951, 210f. (Faksimile französischer Text).